Siebentes Capitel.
Der leere Käfig.

[84] Warum hätte sich der Foreloper nicht beglückwünschen sollen, so zur rechten Zeit eine Grotte, eine von der Natur geschaffene Unterkunftsstätte an der Uferwand gefunden zu haben? Hier war keine Spur von Feuchtigkeit, weder an den Seitenwänden noch an der Dachwölbung zu entdecken. Dank diesem geschützten Plätzchen hatten dessen Insassen auch nicht von einem starken Regenguß zu leiden, der bis Mitternacht herabrauschte. Auch für die Zeit, die die Herrichtung eines Flosses beanspruchte, war hiermit ein genügendes Obdach gefunden.

Nach dem Regen wehte ein scharfer Nordwind. Der Himmel hatte sich mit dem Aufgang der Sonne vollständig geklärt und der Tag versprach sehr warm zu werden. Vielleicht sehnten sich dann Khamis und seine Gefährten nach dem Baumschatten zurück, in dem sie nun fünf Tage hingezogen waren.

John Cort und Max Huber zeigten sich in bester Laune, der Fluß versprach, sie mühelos gut dreihundert Kilometer weit hinunterzutragen, bis zu seiner Einmündung in den Ubanghi, zu dessen Stromnetz er zweifellos gehörte. Auf diese Weise mußten die letzten drei Viertel des Zuges höchst bequem zurückgelegt werden.

Nach den Mittheilungen, die ihm der Foreloper machte, hatte John Cort diese Berechnung mit hinreichender Genauigkeit anstellen können.

Stromaufwärts, wo der Fluß fast in gerader Linie verlief, verschwand er in der Entfernung von einem Kilometer unter dem Laubdache der Bäume.

Stromabwärts begann das Walddickicht bereits fünfhundert Meter von hier, wo der Fluß eine scharfe Biegung nach Südosten machte. Von dieser Stelle aus zeigte der Wald wieder die gewöhnliche Dichtigkeit.

Im Grunde war es nur eine große, morastige Waldblöße, die diesen Theil des rechten Ufers einnahm. An der anderen Seite standen die Bäume nahe beieinander. Ein mächtiger Hochwald ragt dort auf ziemlich bewegtem Boden empor, und seine Gipfel hoben sich, jetzt bei Sonnenaufgang, scharf vom Himmel ab.[84]

Der Fluß selbst mit sehr klarem, schnell strömendem Wasser füllte sein Bett vollständig aus und führte morsche Stämme, Haufen von Gesträuch und von beiden Uferwänden abgenagte Grasbündel mit sich hinab.

Jetzt erinnerte sich John Cort, daß er in der Nacht das Wort »Ngora« in der Nähe der Grotte hatte aussprechen hören. Er sah sich deshalb um, ob vielleicht ein menschliches Wesen in der Nachbarschaft umherirrte.

Daß Nomaden gelegentlich den Flußlauf benutzten, um nach Ubanghi zu gelangen, war ja recht gut anzunehmen, ohne daraus schließen zu müssen, daß das ungeheuere, im Osten bis zu den Quellen des Nil reichende Waldgebiet etwa von umherziehenden Stämmen besonders häufig besucht oder gar von seßhaften bewohnt wäre.

Soweit der sumpfige Platz reichte, bemerkte John Cort ebensowenig ein menschliches Wesen, wie längs der Ufer des Flusses.

»Da hab' ich wohl eine Sinnestäuschung gehabt, dachte er. Vielleicht war ich gar einen Augenblick eingeschlafen und habe jene Stimme nur im Traume vernommen.«

Er erwähnte auch gegen seine Gefährten nichts von der Sache.

»Mein lieber Max, fragte er später, hast Du Dich denn auch bei unserem wackeren Khamis genügend entschuldigt wegen Deines Zweifels an dem Vorhandensein dieses Flusses, woran er doch so unerschütterlich glaubte?

– Er hat mir gegenüber recht gehabt, John, und ich bin sehr zufrieden, unrecht geurtheilt zu haben, denn der Flußlauf wird uns ohne Anstrengung nach den Ufern des Ubanghi befördern.

– Ohne Anstrengung unsererseits... das möcht' ich nicht gerade behaupten, fiel der Foreloper ein. Viel leicht kommen Wasserfälle... Stromschnellen...

– Ach, wir wollen die Sachen nur von der guten Seite ansehen, erklärte John Cort. Wir haben nach einem Flusse gesucht... da ist er ja. Wir beabsichtigten dann ein Floß zu bauen, und das wird geschehen...

– Und zwar gleich von diesem Morgen an, fiel Khamis ein. Ich werde unverzüglich an die Arbeit gehen, und wenn Sie mich dabei unterstützen wollen, Herr John...

– Selbstverständlich, Khamis. Und während wir damit beschäftigt sind, wird Freund Max für den nöthigen Proviant sorgen...

– Was um so nöthiger ist, als wir davon nichts mehr übrig haben, erklärte Max Huber. Das Leckermäulchen, der Llanga, hat gestern Abend alles verzehrt...[85]

– Ich, lieber Herr Max? erwiderte Llanga, der, jene Worte ernst nehmend, gegen einen solchen Vorwurf sehr empfindlich zu sein schien.

– Na na, Bürschchen, Du siehst doch, daß ich nur scherze!... Vorwärts, geh' mit mir. Wir wollen einmal das Ufer bis zur Flußecke absuchen. Bei dem Sumpflande auf der einen und dem Flusse auf der anderen Seite kann es weder rechts noch links an Wasserwild fehlen, und – wer weiß? – vielleicht haschen wir einen schmackhaften Fisch, der in unsere Tafel eine erwünschte Abwechslung brächte.

– Hüten Sie sich vor Krokodilen und auch vor Flußpferden, Herr Huber, warnte der Foreloper.

– O, Khamis, so eine Flußpferdkeule, auf der Stelle gebraten, soll, denke ich, auch nicht zu verachten sein!... Warum sollte ein Thier von so glücklichem Charakter – eigentlich ein Süßwasserschwein – kein saftiges Fleisch liefern?

– Von glücklichem Charakter, Max... mag sein, doch wenn man es reizt, ist seine Wuth geradezu furchtbar.

– Man kann ihm aber doch nicht so ein paar Kilogramm vom Leibe abschneiden, ohne es ein bischen böse zu machen...

– Kurz, fügte John Cort hinzu, wenn Ihr von der geringsten Gefahr bedroht seid, so kommt schnellstens zurück. Seid vorsichtig...

– Und Du sei nur ruhig, John... Komm, Llanga...

– Geh', mein Junge, und vergiß nicht, daß wir Dir Deinen Freund Max anvertrauen!«

Nach einer solchen Rede konnte man sich für gesichert halten, daß Max Huber kein Unfall zustieße, denn Llanga würde schon über ihn wachen.

Max Huber ergriff sein Gewehr und übersah seinen Patronenvorrath.

»Schonen Sie Ihre Munition, Herr Max, ermahnte ihn der Foreloper.

– Gewiß, so viel wie möglich, Khamis. Es ist aber wirklich bedauernswerth, daß die Natur in den afrikanischen Wäldern nicht ebenso einen Patronenbaum, wie den Brod- und den Butterbaum erschaffen hat. Dann würde man sich im Vorübergehen seine Patronen wie Feigen oder Datteln von seinen Zweigen pflücken.«

Nach dieser unbestreitbar richtigen Bemerkung schlugen Max Huber und Llanga eine Art Fußpfad in der Mittelhöhe der Uferwand ein, wodurch beide sehr bald den Blicken der anderen entschwanden.[86]

John Cort und Khamis gingen inzwischen daran, geeignete Stämme zur Herrichtung des Flosses zu suchen. Wurde das auch nur ein recht nothdürftiges Fahrzeug, so mußte dazu doch das möglichst geeignete Holz ausgewählt werden.

Der Foreloper und sein Begleiter besaßen nur ein kleines Beil und zwei Taschenmesser. Mit so mangelhaften Hilfsmitteln war es offenbar schwierig, Riesen des Waldes oder selbst Bäume von geringerem Durchmesser zu fällen. Khamis beabsichtigte deshalb auch, nur herabgefallene Aeste und Zweige zu benutzen, die mit Lianen unter einander verbunden werden sollten und über denen er eine Art Fußboden aus Gras und Erde herzustellen gedachte. Bei zwölf Fuß Länge und acht Fuß Breite mußte das Floß drei Männer und ein Kind aufnehmen können, die es überdies zu jeder Mahlzeit und jeder Nachtruhe verlassen sollten.

Von solchem Holz, das durch Alter, Sturmwind oder Blitzschlag zu Boden gefallen war, fand sich eine beträchtliche Menge auf dem Sumpfgebiete, worüber nur noch einige harzreiche Bäume aufragten. Die zum Bau des Flosses nöthigen Bestandtheile wollte Khamis nun zusammentragen, und als er das John Cort mitgetheilt hatte, war dieser sofort bereit, ihn dabei zu unterstützen.

Noch einmal warfen sie einen Blick auf das Ufer stromauf- und stromabwärts, und da alles in der Umgebung des Sumpfes ruhig zu sein schien, machten sich beide auf den Weg.

Sie hatten kaum hundert Schritte zu thun gehabt, als sie schon auf eine Anhäufung schwimmfähiger Holzstücke trafen. Eine größere Schwierigkeit lag freilich in deren Beförderung bis zum Wasserrande. Erwiesen sie sich für die Kräfte zweier Personen zu schwer, so sollte das erst nach der Rückkehr der Jäger versucht werden.

Inzwischen ließ alles vermuthen, daß Max Huber auf der Jagd Glück habe. Eben krachte ein Schuß und bei der Treffsicherheit des Franzosen war anzunehmen, daß das kein verlorener wäre. Bei ausreichender Munition ließ sich mit Bestimmtheit erwarten, daß die Ernährung der kleinen Gesellschaft für die dreihundert Kilometer bis zum Ubanghi und auch noch darüber hinaus gesichert sein werde.

Khamis und John Cort waren noch mit der Auswahl der geeignetsten Hölzer beschäftigt, da vernahmen sie aus der von Max Huber eingeschlagenen Richtung her laute Rufe.

»Das war Maxens Stimme, sagte John Cort.


Aus dem Winken konnten sie nur entnehmen, daß sie zu ihnen hinkommen sollten.
Aus dem Winken konnten sie nur entnehmen, daß sie zu ihnen hinkommen sollten.

– Jawohl, antwortete Khamis, und daneben auch[87] die Llangas.«

Wirklich mischten sich ein schärferer Laut und eine tiefere Männerstimme.

»Sollten sie in Gefahr sein?« fragte John Cort.

Beide schritten über das Sumpfland zurück und erreichten die mäßige Anhöhe, unter der die Grotte lag. Als sie von hier aus auf den Fluß hinunter blickten, sahen sie Max Huber und den kleinen Eingebornen am rechten Ufer stehen. Menschen oder Thiere zeigten sich nirgends. Aus dem Winken der beiden, die keinerlei Unruhe verriethen, konnten sie nur entnehmen, daß sie zu ihnen hinkommen sollten.[88]

Khamis und John Cort stiegen sofort hinunter und eilten drei- bis vierhundert Meter am Ufer hin, wo sie bereits die anderen trafen.

»Ihr könnt Euch vielleicht die Mühe ersparen, ein Floß zu bauen, rief ihnen Max Huber entgegen.

– Und warum? fragte der Foreloper.

– Weil hier schon eines fix und fertig liegt. Es ist freilich nicht im besten Zustand, die einzelnen Stücke davon sind aber noch recht gut erhalten.«[89]

Max Huber wies dabei in einer Einbuchtung des Ufers auf eine Art Plattform hin, eine Vereinigung von Pfählen und Planken, zusammengehalten durch ein halbverfaultes Tau, dessen freies Ende an einem Pfahle auf dem Lande befestigt war.

»Ah... ein Floß! rief John Cort erfreut.

– Ja, wahrhaftig... ein Floß!« bestätigte Khamis.

Ueber die Bestimmung dieser Pfähle und Planken konnte in der That kein Zweifel herrschen.


Der Käfig selbst war leer. (S. 94.)
Der Käfig selbst war leer. (S. 94.)

»So sind also doch schon Eingeborne auf dem Flusse bis an diese Stelle gekommen? bemerkte Khamis.

– Eingeborne oder Forschungsreisende, antwortete John Cort. Und doch, wenn dieser Theil des Waldes schon besucht worden wäre, hätte man am Congo oder in Kamerun davon doch etwas wissen müssen.

– Im Grunde kann uns das ja gleichgiltig sein, ließ sich Max Huber vernehmen, die Hauptsache bleibt doch, ob wir uns dieses Flosses bedienen können.

– O, gewiß!«

Der Foreloper ließ sich schon nach der Wasserfläche der Einbuchtung hinabgleiten, als ein Ausruf Llangas ihn zurückhielt.

Der Knabe, der etwa fünfzig Schritt am Flusse hinunter gelaufen war, kam eben zurück und schwenkte einen Gegenstand, den er in der Hand hielt.

Eine Minute darauf übergab er ihn John Cort.

Es war ein von Rost zerfressenes, eisernes Vorlegeschloß, dessen Schlüssel fehlte, und das überhaupt nicht mehr brauchbar erschien.

»Entschieden handelt es sich hier, begann Max Huber, nicht um congolesische oder andere Nomaden, denen die Erzeugnisse der jetzigen Schlosserei ja noch unbekannt sind. Dieses Floß haben Weiße bis an die Flußbiegung geführt.

– Weiße, die nie wieder hierher zurückgekehrt sind,« setzte Jahn Cort hinzu.

Aus dem Funde ließen sich nun ganz zuverlässige Schlüsse ziehen. Der oxydierte Zustand des Vorlegeschlosses und der theilweise Zerfall des Flosses be wiesen, daß mehrere Jahre vergangen sein mußten, seit das erste verloren und das zweite am Rande der Einbuchtung verlassen worden war.

Aus dieser Thatsache ergaben sich aber folgerichtig zwei weitere Schlüsse. Als John Cort sich darüber aussprach, stimmten Khamis und Max Huber ihm ohne Zögern bei. Seine Folgerungen aber lauteten:[90]

1. Forscher oder andere Reisende, keine Eingebornen, hatten diese Lichtung bereits betreten, nachdem sie ober- oder unterhalb der Grenze des großen Waldes sich auf dem Flosse eingeschifft hatten.

2. Die Betreffenden hatten aus dem einen oder anderen Grunde ihr Floß verlassen, um den Waldestheil am rechten Flußufer zu besichtigen.

Auf jeden Fall war keiner von ihnen wieder hier erschienen. Doch weder John Cort noch Max Huber erinnerte sich, daß seit ihrem Aufenthalte im Congogebiete jemals von einer Forschungsreise dieser Art die Rede gewesen wäre.

War das nun auch nichts Außerordentliches, so war es wenigstens etwas Unerwartetes, und Max Huber mußte auf die Ehre verzichten, der erste Besucher des mit Unrecht als undurchdringlich angesehenen Waldes gewesen zu sein.

Ohne Beachtung dieser Prioritätsfrage untersuchte Khamis sorgfältig die Pfähle und Planken des Flosses. Die ersten zeigten sich noch in gutem Zustande, die anderen hatten mehr von der Unbill der Witterung gelitten und zwei oder drei davon mußten womöglich durch frische ersetzt werden. Jedenfalls erwies es sich aber unnöthig, ein völlig neues Floß herzustellen. Einige Ausbesserungen des vorliegenden mußten schon genügen. Ebenso befriedigt wie überrascht, besaßen der Foreloper und seine Gefährten jetzt das schwimmende Fahrzeug, das ihnen erlauben sollte, die Ausmündung des Rio zu erreichen.

Während Khamis sich in der erwähnten Weise beschäftigte, tauschten die beiden Freunde ihre Gedanken über den Vorfall aus.

»Es unterliegt keinem Zweifel, wiederholte John Cort, daß bereits Weiße den Oberlauf des Rio untersucht haben... Weiße auf jeden Fall. Das aus rohem Holz erbaute Floß mag ja ein Werk von Eingebornen sein, doch das Vorlegeschloß...

– Das Aufklärung gebende Vorlegeschloß... ohne die anderen Gegenstände zu zählen, die wir viellleicht noch finden... fiel Max Huber ihm in's Wort.

– Noch weitere... Max?

– Ei, John, es ist doch möglich, daß wir noch Spuren eines Lagers entdecken, wovon hier allerdings nichts zu sehen ist, denn die Grotte dürfen wir nicht für den Platz eines solchen halten. Sie kann nicht als Ruheplatz gedient haben, und ich bin überzeugt, daß wir als die ersten darin Zuflucht gesucht haben.

– Das liegt auf der Hand, Max. Laß uns bis an die eigentliche Flußbiegung gehen.[91]

– Das erscheint um so mehr geboten, John, als dort die Lichtung aufhört, und es sollte mich gar nicht wundern, daß etwas weiter hin...

– Khamis?« rief da John Cort.

Der Foreloper trat an die beiden Freunde heran.

»Nun, wie steht's mit dem Flosse? fragte John Cort.

– Das wird sich ohne große Mühe ausbessern lassen. Ich werde das dazu nöthige Holz schon herbeischaffen.

– Ehe wir an diese Arbeit gehen, schlug Max Huber vor, wollen wir doch einmal das Ufer noch eine Strecke weit verfolgen. Wer weiß, ob wir dabei nicht Geräthe finden, die uns durch eine Fabrikmarke über ihren Ursprung aufklären. Diese könnten unsere recht nothdürftige Küchenausrüstung wohl in wünschenswerther Weise vervollständigen... Eine Feldflasche und nicht einmal ein Kochtopf und eine Tasse...

– Oho, Freund Max, Du erwartest doch nicht etwa, ein Speisezimmer und einen Tisch aufzustöbern, der schon für Vorüberkommende gedeckt wäre?

– Ich erwarte gar nichts, John, wir stehen aber hier vor unaufgeklärten Thatsachen. Versuchen wir wenigstens, eine annehmbare Erklärung zu finden.

– Zugegeben. Max. Es steht doch dem nichts entge gen, Khamis, daß wir noch einen Kilometer weiter hinuntergehen?

– Vorausgesetzt, daß Sie die Flußbiegung nicht überschreiten, antwortete der Foreloper. Da uns jetzt Gelegenheit geboten ist, auf dem Wasser zu fahren, wollen wir unnöthige Wanderungen doch lieber unterlassen.

– Richtig, Khamis, stimmte John Cort ihm zu. Später, wenn unser Floß mit der Strömung hinabgeleitet, können wir ja mühelos darauf achten, ob sich an dem einen oder dem anderen Ufer noch Spuren eines Lagers zeigen.«

Die drei Männer und Llanga folgten nun dem erhöhten Ufer, einer Art Deich zwischen dem Sumpflande und dem Flusse. Schaaren von Vögeln, meist Wildenten und Trappen, flatterten bei ihrer Annäherung rauschenden Fluges davon Unterwegs erlegte Max Huber auf den ersten Schuß einen großen sogenannten Strandreiter, der zum Mittagsmahle dienen sollte.

Unausgesetzt behielten die Wanderer den Erdboden im Auge, um vielleicht menschliche Fußtapfen oder irgend einen zurückgelassenen Gegenstand zu entdecken.

Trotz gespanntester Aufmerksamkeit wurde jedoch oben und unten am Ufer gar nichts gefunden. Nirgends verrieth ein Anzeichen, daß hier jemand vorübergekommen wäre oder gerastet hätte. Als Khamis und seine Gefährten wieder die[92] ersten Baumreihen erreicht hatten, wurden sie von dem Geschrei einer Affenbande begrüßt. Die Vierhänder schienen über das Auftauchen von Menschen nicht besonders verwundert zu sein, obwohl sie sich aus dem Staube machten. Daß in den Baumkronen hier Vertreter der großen Affenfamilie hausten, war ja zu erwarten.

Es waren das Paviane und Mandrillassen, die äußerlich den Gorillas nahe stehen, ferner Schimpansen und einzelne Orang Utangs. Wie alle afrikanischen Arten, hatten sie einen kaum entwickelten Schwanz, der sich voll ausgebildet nur bei den amerikanischen und asiatischen Arten findet.

»Jedenfalls, bemerkte John Cort, haben diese Burschen das Floß nicht gezimmert, und trotz ihrer Intelligenz werden sie sich noch nie eines Vorlegeschlosses bedient haben.

– So wenig wie eines Käfigs, setzte Max Huber hinzu.

– Eines Käfigs, Max? wiederholte John Cort. Wie kommst Du denn darauf?

– Ich glaube dort... unter dem Dickicht... etwa zwanzig Schritt vom Ufer, ein solches Ding zu erkennen.

– Das wird ein Ameisenhaufen in der Form eines Bienenkorbes sein, erwiderte John Cort, wie die afrikanischen Ameisen solche erbauen.

– Nein, Herr Huber hat sich nicht getäuscht, ließ sich Khamis vernehmen. Da unten steht... man könnte es fast eine Hütte nennen, die zwischen zwei Mimosen steht und an der Vorderseite ein Gitter hat.

– Käfig oder Hütte, rief John Cort, wir wollen uns überzeugen, was die Sache zu bedeuten hat!

– Doch vorsichtig, rieth der Foreloper, immer unter der Deckung der Bäume hingehen.

– O, was hätten wir denn hier zu fürchten?« erwiderte Max Huber, der sich wie gewöhnlich vor Neugier und Ungeduld nicht halten konnte.

Die Umgebung schien übrigens gänzlich öde und verlassen zu sein, nur der Gesang von Vögeln und das Geräusch von dem fliehenden Affenvolke ließ sich noch hören. Am Rande der Lichtung zeigte sich keine ältere oder jüngere Spur eines Lagers, und auf dem Wasserlaufe, der große Bündel Gras mit hinabführte, ebensowenig irgend etwas verdächtiges. Auch auf der anderen Seite dieselbe Stille und Verlassenheit. So wurden denn die letzten hundert Schritte schnell am Ufer hin zurückgelegt, das sich entsprechend der Windung des Flusses allmählich[93] krümmte. Hier war es mit dem Morast zu Ende und der Boden wieder trockener und fester, je mehr er unter dem Hochwald anstieg.

Das seltsame, jetzt zu drei Vierteln sichtbare Bauwerk lehnte sich an zwei Mimosen und hatte ein schräg abfallendes, mit vergilbten Gräsern bedecktes Dach. Eine seitliche Oeffnung war daran nicht zu bemerken, und tiefhängende Lianen verbargen seine Wände fast bis zur Erde hinunter. Was ihm das Aussehen eines Käfigs verlieh, war das Gitter oder vielmehr die Vergitterung der ganzen Vorderseite, die der ähnelte, die man in Menagerien zur Trennung der Raubthiere vom Publicum sieht.

Dieses Gitter hatte eine, jetzt offenstehende Thür.

Der Käfig selbst war leer.

Das meldete Max Huber, der als der erste hineingedrungen war.

Doch fanden sich einige Geräthe: ein Kochtopf in ziemlich gutem Zustande, eine Art Flaschenkorb, eine Tasse, drei oder vier zerbrochene Flaschen, eine sehr abgenutzte Wollendecke, Stoffsetzen, eine verrostete Axt und ein halbvermodertes Brillenfutteral, auf dem aber kein Name eines Fabrikanten zu lesen war.

In einer Ecke lag noch ein kupferner Kasten, dessen Deckel so dicht schloß, daß sein Inhalt – wenn er überhaupt etwas enthielt – unversehrt erhalten sein mußte.

Max Huber hob den Behälter auf und versuchte, ihn zu öffnen. Das gelang ihm aber nicht. Durch Oxydation hingen die beiden Theile des Kastens ziemlich fest aneinander.

Er mußte erst eine in den Spalt gedrängte Messerklinge als Hebel benutzen, ehe der Deckel nachgab.

Der Kasten enthielt ein völlig unversehrtes Notizbuch, auf dessen Vorderseite zwei Worte gedruckt waren, die Max Huber mit lauter Stimme verkündete:

»Doctor Johausen«.
[94]

Quelle:
Jules Verne: Das Dorf in den Lüften. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 84-95.
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