Sechstes Capitel.

[73] Die Silbersichel des zunehmenden Mondes war sehr bald der untergegangenen Sonne nachgefolgt. Aus Westen heranziehende Wolken verlöschten allmählich den letzten Dämmerschein am Himmel. Von der Erde aus stieg der Schatten immer weiter in die Höhe. Die Berge rund umher hüllten sich in den Mantel der Finsterniß und die Formen der Burg verschwanden unter dem Florschleier der Nacht.[73]

Wenn diese Nacht auch sehr finster zu werden drohte, so wies doch nichts darauf hin, daß sie durch Witterungsnubill, durch Gewitter, Sturm oder Regen gestört werden sollte. Für Nic Deck und seinen Begleiter, die ja unter freiem Himmel übernachten mußten, war das ein glücklicher Umstand.

Auf der öden Hochfläche des Orgall fand sich keine zusammenhängende Baumgruppe mehr; nur da und dort kroch so niedriges Buschwerk über die Erde hin, daß es gegen die nächtliche Kühle keinerlei Schutz bieten konnte. Felsblöcke gab's freilich so viele man sich nur wünschen konnte; hier zur Hälfte in der Erde vergraben, dort in so gefährlichem Gleichgewicht aufgerichtet, daß ein tüchtiger Windstoß hätte hinreichen müssen, sie in den Tannenwald darunter zu stürzen.

Die einzige, auf diesem steinigen Boden üppig wuchernde Pflanze war eine buschige Distel, der »Russendorn« genannt, deren Samenkörner, wie Elisée Reclus erzählt, von dem rauhen Felle moskowitischer Pferde hierher gebracht worden waren – »ein Andenken, das die Russen bei einem früheren Feldzuge den Transsylvaniern hinterließen«.

Jetzt handelte es sich also darum, eine irgend geeignete Stelle auszuwählen, auf der man den Tag erwarten und sich einigermaßen gegen die in dieser Höhe voraussichtlich starke Abnahme der Temperatur schützen konnte.

»Wer die Wahl hat, hat die Qual; so geht's auch uns... freilich im schlechten Sinne! brummte der Doctor Patak.

– So beklagt Euch doch darüber! antwortete Nic Deck sehr kurz.

– Natürlich, ich beklage mich auch! Das ist ja der herrlichste Ort, um sich einen guten Schnupfen oder gar einen tüchtigen Rheumatismus zu holen, von dem ich mich schwerlich wieder zu befreien vermöchte.«

Ein offenes Geständniß der Wissensarmuth aus dem Munde des alten Heilgehilfen der Quarantäne! O, wie schmerzlich entbehrte er jetzt sein hübsches Häuschen in Werst, mit dem wohlverwahrten Schlafzimmer, dem Bett mit einem Berge von Kissen und dem Vorhange davor!

Unter den auf der Hochfläche des Orgall verstreuten Felstrümmern galt es nun einen Block auszusuchen, der durch seine Lage am besten als Schirm gegen den eben auffrischenden Südwestwind dienen konnte. Dessen unterzog sich auch Nic Deck, und bald gesellte sich der Doctor zu ihm hinter einem Felsstück, das oben flach wie ein Tisch erschien.

Dieser Felsen bildete eine jener von Scabiosen und Saxifragen umwucherten[74] Steinbänke, denen man in den walachischen Provinzen an Straßenkreuzungen so häufig begegnet. So wie der Wanderer darauf ausruhen kann, findet er hier auch Gelegenheit, seinen Durst mit dem Wasser zu löschen, das eine darauf stehende Kanne enthält und das von den menschenfreundlichen Landleuten alltäglich erneuert wird. Als Baron Rudolph von Gortz noch auf dem Schlosse wohnte, trug auch diese Steinbank ein Gefäß, das seine Diener niemals leer werden lassen durften. Jetzt war es freilich mit Sand und Pflanzenresten angefüllt, mit grünlichem Moose bewachsen und so morsch, daß es der geringste Stoß vollständig zertrümmert haben würde.

Am Ende der Bank erhob sich ein Steinpfeiler, der Rest eines alten Kreuzes, von dessen Armen auf jenem nur noch die halbverwitterte Fuge, die sie gehalten hatte, sichtbar war. In seiner Eigenschaft als Freigeist konnte der Doctor Patak natürlich nicht annehmen, daß ihn dieses, obendrein zerfallene Kreuz vor übersinnlichen Erscheinungen schützen würde. Und doch war er – eine bei Ungläubigen oft beobachtete merkwürdige Anomalie – gar nicht fern davon, an den Teufel zu glauben. Seiner Vorstellung nach mußte der Chort ja in der Nähe sein, denn er hielt das Schloß in seinem Banne, und wenn dem Gottseibeiuns etwa das Lüstchen anwandelte, ihnen Beiden den Hals umzudrehen, so würde ihn weder das geschlossene Burgthor noch die aufgezogene Brücke am Herauskommen hindern können.

Und wenn sich der Doctor überlegte, daß er eine ganze Nacht unter solchen Verhältnissen zubringen sollte, da zitterte er wie Espenlaub. Nein, das hieß von der menschlichen Natur zuviel verlangen, und seiner Meinung nach wäre dem auch der willensstärkste Charakter unterlegen.

Da dämmerte ihm langsam noch ein Gedanke auf – ein Gedanke, der sich seit dem Aufbruche aus Werst in seinem Gehirn noch nicht gemeldet hatte. Jetzt war es Dienstag Abend, und an diesem Tage hüten sich die Bewohner des Comitats weislich, nach Sonnenuntergang noch auszugehen. Der althergebrachten Ansicht nach hieß es die Begegnung mit bösen Geistern geradezu herausfordern, wenn man sich da noch über das Dorf hinaus begab. Des Dienstags verkehrt nach Sonnenuntergang dort wirklich keine Seele mehr auf den Landstraßen oder Feldwegen.

Und jetzt sah sich der Doctor Patak nicht allein außerhalb seines Hauses, sondern sogar ganz in der Nähe eines verwunschenen Schlosses, fast drei Meilen entfernt von dem sicheren Dorfe. Hier sollte er aushalten bis zum Morgenrothe[75] des nächsten Tages... wenn er überhaupt ein solches wiedersah! Wahrlich, das hieß doch den Teufel versuchen!

Noch ganz diesen Vorstellungen hingegeben, sah der Doctor seinen Gefährten ganz unbefangen ein tüchtiges Stück kaltes Fleisch aus dem Rucksacke ziehen, nachdem er sich vorher mit einem herzhaften Schlucke gestärkt hatte. Da meinte er, vorläufig doch nichts Besseres thun zu können, als jenem nachzuahmen, und das that er denn auch. Nur eines Stückes Schinken nebst einer Schnitte Brot bedurfte er, die verlorenen Kräfte wieder zu ersetzen. Doch wenn er damit seines Hungers Herr wurde, seine Furcht und Angst besiegte er jedenfalls nicht.

»Nun wollen wir aber schlafen, begann da Nic Deck, der sich den Proviantsack am Fuße des Felsblockes schon als Kopfkissen zurechtgelegt hatte.

– Schlafen, Forstwächter?

– Natürlich, Doctor! Gute Nacht also.

– Eine gute Nacht ist leicht gewünscht, ich fürchte nur, daß die heutige ein schlechtes Ende nimmt...«

Nic Deck, der zum Plaudern nicht in der Laune war, gab keine Antwort. Von lange her gewöhnt, dann und wann im Walde zu nächtigen, suchte er sich, gegen die Steinbank gelehnt, die bequemste Lage und fiel bald in tiefen Schlummer. Der Doctor konnte schließlich nichts thun, als für sich hin zu brummen, als er sah, wie regelmäßig und tief sein Begleiter athmete. Er selbst vermochte freilich – nicht einmal auf wenige Minuten – Gesichts- und Gehörsinn außer Dienst zu stellen. Trotz aller Ermüdung spähte und horchte er nach allen Seiten hin und her. Sein Gehirn wurde eine Beute der ausschweifendsten Trugbilder, wie sie die Qual der Schlaflosigkeit zu gebären pflegt. Doch was wollte er denn bei der jetzt völligen Finsterniß wahrnehmen?... Alles und nichts; die unbestimmten Formen der ihn umgebenden Gegenstände, die über das Himmelsgewölbe hinziehenden Wolken, die kaum erkennbare Steinmasse des Schlosses. Dann waren es wieder die Felsblöcke des Orgallplateaus, die Leben zu bekommen und eine Höllen-Sarabande aufzuführen schienen. Wenn diese sich nun von ihrem Untergrunde ablösten, den Abhang herunterstürmten, wenn sie über die beiden Vorwitzigen hinwegrollten, sie vor dem Thore der Burg, die zu betreten ihnen gestern ausdrücklich verboten worden war, zermalmten – was dann? Hatten sie ihr Schicksal nicht verdient?[76]

Er hatte sich erhoben, der unglückliche Doctor, und lauschte auf die Geräusche, die sich über diesen hohen Plateaus bemerklich zu machen pflegen, auf jenes beunruhigende Gemurmel, das zugleich wie ein Surren, ein Aechzen und Stöhnen klingt. Er hörte auch, wie die Nyctalopen (Nachtvögel) mit schwerem Flügelschlage über die nahen Felsblöcke strichen, die Strigen, die zur nächtlichen Runde ausgeschwärmt waren, und zwei oder drei Paare jener Schleiereulen, deren Geschrei einer unheimlichen Todtenklage ähnelt. Da krampften sich die Muskeln des beklagenswerthen Mannes schmerzhaft zusammen, daß er sich kaum noch zu rühren vermochte, und in eiskaltem Schweiß gebadet, zitterte er am ganzen Körper, als wäre sein seliges, nein, sein unseliges Ende nahe.

So schlichen die langen Stunden bis Mitternacht dahin. Hätte der Doctor Patak ein wenig plaudern können, wäre ihm nur dann und wann Gelegenheit gegeben gewesen, ein paar Worte zu wechseln und wenigstens dem Strome seiner Klagen freien Lauf zu lassen, gewiß hätte er sich weniger abgeängstigt.

Doch Nic Deck schlief – schlief wie ein Murmelthier.

Jetzt war es Mitternacht, die schlimmste Stunde von allen, die Stunde der Hexen und Geistererscheinungen.

Was ging denn jetzt da vor?

Der Doctor hatte sich völlig aufgerichtet und fragte sich, ob er wirklich wach sei oder noch unter dem Einflusse eines Alpdrückens stehe.

Wahrhaftig, da oben glaubte er nicht nur zu sehen, sondern sah er wirklich seltsame Gestalten, beleuchtet von blendendem Lichtschimmer, die von einer Himmelsgegend nach der anderen schwebten, aufstiegen und herabwallten und sich mit den Wolken senkten. Es sah aus wie Ungeheuer, Drachen mit Schlangenschwanz, wie Hippogryphe mit langen Flügeln, gigantische Kraken, furchtbare Vampyre, die ihn mit ihren Krallen ergreifen oder mit den riesigen Kinnbacken mit Haut und Haar verschlingen wollten.

Jetzt schien ihm auf dem Plateau des Orgall Alles in Bewegung, die Felsen, wie die Bäume, die am Waldessaume tanzten. Gleichzeitig schlugen noch schrille, in kurzen Zwischenräumen sich wiederholende Töne an sein entsetztes Ohr.

»Die Glocke, raunte er vor sich hin, die Burgglocke!«

Es war in der That die Glocke der Kapelle, nicht die des Kirchthurms in Vulcan, deren Läuten vom Winde nach entgegengesetzter Richtung verweht worden wäre.[77]

Jetzt folgten die Schläge einander noch schneller... Die Hand, die den Klöppel bewegt, läutet damit nicht wie mit einer Todtenglocke.... Nein, das ist eine Sturmglocke, deren keuchende Schläge die Echos der transsylvanischen Berge wachrufen.

Das unheimliche Schwirren und Klingen erfüllt den Doctor Patak mit wahrhaft convulsivischer Furcht, mit unerträglicher Angst, mit so schrecklichem Entsetzen, daß ein eisiger Schauer den ganzen dicken Körper durchfröstelt.

Auch der Forstwächter ist durch die, wie drohend klingenden Schläge der Glocke erweckt worden. Er hat sich aufgerichtet, während der Doctor wie in sich selbst zusammengebrochen aussieht.

Nic Deck horcht gespannt und seine Augen suchen die tiefe Dunkelheit zu durchdringen, die die Burg umlagert.

»Die Glocke!... Die schreckliche Glocke!... platzt der Doctor Patak heraus, das ist der Chort, der sie läutet!«

Entschieden glaubt der ganz des Verstandes beraubte arme Mann jetzt mehr als je an den leibhaftigen Teufel.

Der ruhig verharrende Forstwächter giebt ihm gar keine Antwort.

Plötzlich bricht ein Geheul, ähnlich dem, das die Nebelhörner am Eingange von Häfen hören lassen, in lärmenden Tonwellen hervor. Auf weiten Umkreis hin wird die Luft von dem durchdringenden Geräusche erschüttert.

Dann schießt ein Lichtstrahl aus dem Mittelthurme, eine intensive Helligkeit, zuweilen unterbrochen durch noch strahlendere Blitze, durch wahrhaft blendende Lichtpfeile. Aus welcher Quelle stammt dieses mächtige Lichtbündel, das in breitem Strahle über die Oberfläche des Orgallplateaus hinwandert? Aus welchem Glühofen bricht diese strahlende Masse, die gleichzeitig die Felsen zu entzünden droht und sie doch mit seltsamem fahlen Scheine übergießt?

»Nic... Nic... ruft der Doctor, seht mich an!... Bin ich nicht wie Ihr nur noch ein Leichnam?«

In der That haben die beiden Männer ein täuschend leichenähnliches Aussehen bekommen, ein blasses Gesicht, erloschene Augen, tiefe Augenhöhlen, grünliche Wangen mit gesprenkeltem Teint und Haare, die dem Moose gleichen, das der Sage nach auf den Schädeln von Gehenkten wuchert.

Nic Deck ist verblüfft über das was er sieht, wie über das was er hört. Der Doctor Patak, der sich schon im höchsten Stadium des Entsetzens befindet, hat starrgespannte Muskeln, sich aufsträubendes Haar und erweiterte Pupillen[78] – sein ganzer Körper ist steif wie in tetanischem Krampfe. Er »athmet Schrecken«, wie der Dichter sagt.

Eine Minute – höchstens eine Minute – währte die erschreckende Erscheinung, dann schwächte sich das Licht allmählich ab, das Geheul verstummte und das Plateau des Orgall lag wieder in Schweigen und Dunkelheit eingehüllt.

Weder der Eine, noch der Andere machte einen weiteren Versuch zu schlafen. Sie erwarteten, der Doctor durch das Entsetzen völlig vernichtet, der Forstwächter vor der Steinbank stehend und aufmerksam lauschend, das Grauen des nächsten Tages.

Woran mochte wohl Nic Deck gegenüber diesen in seinen Augen offenbar übernatürlichen Dingen denken? War auch die letzte Erfahrung nicht im Stande, seinen Entschluß zu erschüttern? Würde er sich darauf versteifen, dem gefährlichen Abenteuer noch weiter nachzugehen? Er hatte freilich versichert, daß er in die Burg eindringen und den Wartthurm durchsuchen werde.... War es denn aber nicht genug, bis an deren unübersteigbare Mauer gelangt zu sein, sich dem Zorne der Geister und dem Sturme der Elemente ausgesetzt zu haben? Würde man ihm einen Vorwurf darüber machen, daß er sein Versprechen nicht eingelöst habe, wenn er ins Dorf zurückkehrte, ohne die Thorheit so weit getrieben zu haben, daß er sich in das Teufelsschloß wagte?

Urplötzlich stürzt sich der Doctor auf ihn, packt ihn mit der Hand, sucht ihn fortzuzerren und ruft mit dumpfer Stimme:

»Kommt!... Kommt, weg von hier!

– Nein!« antwortete Nic Deck.

Jetzt hält er vielmehr den Doctor zurück, der nach einer letzten Anstrengung zusammensinkt.

Die Nacht ging schließlich zu Ende, der Gemüthszustand der beiden Männer hatte diese aber alles Urtheils darüber beraubt, wie viel Zeit bis zum Anbrechen des Tages noch verstrich.


Der Forstwächter stieg auf schiefem Fußpfade hinunter. (S. 83.)
Der Forstwächter stieg auf schiefem Fußpfade hinunter. (S. 83.)

Die dem Doctor übersinnlich, dem Forstwächter nur unerklärlich erscheinenden Erfahrungen der Nacht ließen Beiden deren weitere Stunden ohne zurückbleibenden Eindruck auf sie verrinnen.

Jetzt färbte sich der Kamm des Paring mit schwach rosenrothem Saume; ein Lichtschimmer flog über den östlichen Horizont an der anderen Seite des Thales der beiden Sil. Bald zuckten auch die ersten Strahlen nach dem von Wolkenstreifen übersäeten Zenith empor.[79]

Nic Deck wendete sich nach dem Schlosse zu. Er sah dessen Formen sich nach und nach abzeichnen, den Wartthurm aus den Nebelwolken der Höhe, die jetzt schon am Vulcan selbst niederstiegen, deutlicher hervortreten; er sah die Kapelle, die Gallerien, die Mauer zwischen den Bastionen aus dem nächtlichen Dunste auftauchen, dann die Eckbastion selbst und die Buche, deren Blätter im Morgenwinde rauschten, sich vom Hintergrunde abheben.

Die Burg bot ganz das Aussehen wie am Vorabende. Die Glocke erschien ebenso unbewegt, wie der alte verrostete Wetterhahn. Den Schornsteinen des Wartthurmes entstieg nicht die feinste Rauchsäule, und die Fenster desselben waren hinter ihren Gittern fest verschlossen.[80]

Ueber der Plattform zogen mit hellem Geschrei einige Vögel ihre lustigen Kreise.

Nic Deck richtete den Blick nach dem Haupteingange des Schlosses. Die gegen die Maueröffnung aufgezogene Wallgrabenbrücke versperrte das Ausgangsthor, dessen Steinpfeiler das Wappen der Barone von Gortz trugen.


 »Halt, Nic, haltet ein!« (S. 84.)
»Halt, Nic, haltet ein!« (S. 84.)

[81] War nun der Forstwächter noch wie zuvor entschlossen, dieses abenteuerliche Wagniß bis zu Ende zu führen? Ja; auch die nächtlichen Erscheinungen hatten ihn hierin nicht wankend machen können. – Gesagt – gethan! so lautete, wie wir wissen, des jungen Mannes Wahlspruch. Weder die geheimnißvolle Stimme, die ihm persönlich in der Gaststube des »König Mathias« jene Warnung zugerufen hatte, noch die freilich unerklärlichen Erscheinungen des blendenden Strahlenlichtes und der unheimlichen Töne, deren Zeuge er gewesen war, sollten ihn abhalten, die Mauer der Burg zu übersteigen. Eine Stunde mußte ihm schon genügen, durch die Gallerien zu eilen, vor Allem, den Wartthurm genau zu durchsuchen, und dann, wenn er sein Versprechen ganz erfüllt, gedachte er den Weg nach Werst wieder einzuschlagen, wo die beiden Männer noch vor der Mittagsstunde eintreffen konnten.

Was den Doctor angeht, so glich dieser zunächst freilich nur einer leblosen Maschine ohne die Kraft, ja ohne den Willen zu irgend welchem Widerstande. Er ging, wohin man ihn gerade stieß; fiel er zur Erde, so hätte er sich nicht wieder zu erheben vermocht. Die Erscheinungen der vergangenen Nacht hatten seine Hirnthätigkeit offenbar völlig lahm gelegt; so erhob er auch nicht den leisesten Widerspruch, als der Forstwächter, nach dem Schlosse zeigend, sagte:

»Nun vorwärts!«

Und doch war's jetzt schon heller Tag und hätte der Doctor Werst gewiß wieder erreichen können ohne die Befürchtung, sich in den Waldmassen des Plesa zu verirren. Daß er trotzdem bei Nic Deck ausharrte, war ihm aber nicht etwa als Verdienst anzurechnen. Wenn er seinen Gefährten nicht verließ, um nach dem Heimatdorfe zu flüchten, so lag das daran, daß ihm das Bewußtsein der Sachlage mangelte, daß er nur noch ein Leib ohne Seele war. Auch als ihn der Forstmann nach der äußeren Böschung des Wallgrabens zerrte, ließ er ihn ruhig gewähren.

Nic Deck wollte jetzt zunächst erspähen, ob es möglich sei, in die Burg anders als durch das Ausfallsthor zu gelangen, und von wo aus das am leichtesten ausführbar erschiene.

Die Zwischenmauer der Bastionen zeigte keine Bresche, keine eingestürzte Stelle, nicht einmal eine Spalte, die Zugang nach dem Raume hinter der Umfassung gewährt hätte. Es war wirklich überraschend, die alten Mauern so vortrefflich erhalten zu finden, was sie wohl nur ihrer außerordentlichen Dicke zu verdanken hatten. Bis zu dem sie bekrönenden Zinnenrande hinaufzuklettern,[82] erschien ganz unausführbar, da sie wenigstens vierzig Fuß über die Grabensohle emporragten. Es gewann also den Anschein, als ob Nic Deck jetzt, wo er bis zum Karpathenschlosse vorgedrungen war, auf ganz unüberwindbare Hindernisse stoßen sollte.

Zum Glück – oder eigentlich recht zum Unglück – für ihn befand sich über dem Ausfallsthor eine Art Schießluke, oder vielmehr ein Mauereinschnitt, durch den früher die Mündung einer Feldschlange heraus geblickt haben mochte. Benützte er nun eine der Zugbrückenketten, die bis zum Erdboden herabhingen, so konnte es für einen kräftigen, geschmeidigen Mann nicht besonders schwierig sein, bis zu jenem Ausschnitt emporzuklimmen. Dessen Breite genügte offenbar, sich hindurch zu zwängen, und wenn er nicht an der Innenseite durch ein Eisengitter verschlossen war, so mußte Nic Deck auf diesem Wege in den Burghof gelangen können.

Der Forstwächter durchschaute auf den ersten Blick, daß er gar nicht anders zu seinem Ziele gelangen könne, und so stieg er denn, mit dem ganz bewußtlosen Doctor hinter sich, auf schiefem Fußpfade die äußere Böschung des Wallgrabens hinunter.

Bald hatten Beide die mit Steinen, die unter wucherndem Unkraut lagen, bedeckte Sohle des Grabens erreicht. Freilich wußten sie kaum, worauf ihre Füße standen und ob nicht unzähliges giftiges Gethier aus dem Pflanzengewirr der feuchten Aushöhlung hervorbrechen würde.

In der Mitte des Grabens und parallel mit der Verbindungsmauer verlief der alte Abzugscanal, der freilich jetzt fast ausgetrocknet und übrigens ohne große Anstrengung zu überspringen war.

Nic Deck, der nichts an geistiger und körperlicher Energie eingebüßt hatte, ging mit dem gewohnten kalten Blute vor, während der Doctor ihm maschinenartig folgte, wie ein Thier, das man am Stricke hinter sich nachzieht.

Nachdem sie über den Abzugscanal gelangt, ging der Forstwächter etwa zwanzig Schritte weit längs des Fußes der Verbindungsmauer bis dicht unter das Ausfallsthor hin, nach der Stelle, wo das Ende der gesehenen Kette herabhing. Unter Benutzung der Hände und der Füße mußte er hier leicht den Steinsims erreichen können, der unter dem Mauereinschnitt ein Stück hervorsprang.

Nic Deck hatte offenbar nicht die Absicht, auch den Doctor Patak zu dieser Kletterübung aufzufordern; einem so schweren Männchen wäre das unmöglich[83] gewesen. Er begnügte sich also, diesen kräftig zu schütteln, um sich ihm bestimmt verständlich zu machen, und empfahl ihm, sich mäuschenstill hier unten im Graben zu verhalten.

Dann begann Nic Deck – für seine Gebirgsbewohnermuskeln nur ein Spiel – längs der Kette hinaufzuklimmen.

Als sich der Doctor aber allein sah, mochte er sich der augenblicklichen Sachlage doch einigermaßen wieder bewußt werden. Er fing an zu begreifen, blickte nach allen Seiten herum, sah seinen Gefährten schon zehn bis zwölf Fuß über dem Erdboden schweben und schrie mit einer von der ausgestandenen Angst heiser gewordenen Stimme:

»Halt, Nic!... Haltet ein!«

Der Forstwächter hörte gar nicht darauf.

»Kommt herunter... aber gleich, oder ich gehe davon! jammerte der Doctor, der mit Mühe wieder auf die Füße gekommen war.

– So geht, wenn's Euch beliebt!« rief Nic Deck herunter.

Immer weiter kletterte der junge Mann an der Zugbrückenkette hinaus.

Der Doctor Patak, jetzt von beispiellosem Schrecken gepackt, wollte den schmalen Pfad der Außenböschung wieder aufsuchen, um darauf nach dem Rande des Plateaus des Orgall zu gelangen und, was er laufen konnte, den Weg nach Werst wieder einzuschlagen....

O Wunder, vor dem alle, die die vergangene Nacht gestört hatten, völlig verblaßten... er konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren! Seine Füße erschienen wie festgehalten von den Backen einer mächtigen Zange. Vielleicht konnte er einen Fuß nach dem anderen frei bekommen... nein, auch das nicht – beide hingen mit den Absätzen und den Sohlen der Stiefel unverrückbar fest. Hatte sich der Doctor vielleicht in die Fangeisen einer Falle verirrt?... Er war jetzt viel zu verdutzt, um das erkennen zu können. Es schien aber weit mehr, als ob er durch die eisernen Nägel seines Schuhwerkes festgehalten würde.

Mochte dem sein, wie ihm wolle, der arme Mann fühlte sich an der Stelle, wo er stand, unbeweglich festgebannt... er war an den Erdboden genietet... Da es ihm an Kraft fehlte, um zu rufen, streckte er voller Verzweiflung die Arme aus. Es hatte den Anschein, als wolle er einem Ungeheuer, dessen Rachen über der Erde gähnte, die innersten Eingeweide herausreißen.[84]

Inzwischen war Nic Deck bis zur Höhe des Ausfallthors gelangt und wollte eben die Hand auf eines der Eisenbänder legen, das den einen Haspen der Zugbrücke hielt...

Da entrang sich ihm ein schmerzlicher Aufschrei, dann streckte er sich, wie vom Blitze getroffen, nach rückwärts, glitt längs der Kette, die er mehr instinctmäßig im letzten Augenblicke wieder erfaßt hatte, herunter und stürzte auf der Erde zusammen.

»Die Stimme hatte es ja vorausgesagt, daß mir ein Unglück zustoßen würde«, murmelte er. Dann schwand dem Forstwächter das Bewußtsein.

Quelle:
Jules Verne: Das Karpathenschloß. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXI, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 73-85.
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