Siebentes Capitel.

[85] Wie sollten wir die Beängstigung schildern, die seit dem Weggange des jungen Forstwächters und des Doctor Patak herrschte! Sie schien mit jeder weiteren Stunde nur noch zu wachsen, da die Zeit der Abwesenheit der beiden Männer Allen fast endlos vorkam.

Meister Koltz, der Gastwirth Jonas, Magister Hermod und einige Andere waren überhaupt gleich auf der Terrasse im Dorfe geblieben. Keiner ließ davon ab, die ferne Masse der Burg zu betrachten und vorzüglich aufzupassen, ob über dem Wartthurme wieder eine Rauchsäule sichtbar würde. Doch kein Rauch wollte sich zeigen, was mittelst des unabänderlich nach dem Karpathenschlosse gerichteten Fernrohrs deutlich erkannt wurde. Die beiden, für dieses Instrument ausgegebenen Gulden waren wirklich gut angelegtes Geld gewesen. Niemals hatte der übrigens etwas habsüchtig angelegte Biró, der die eigene Börse gern zuhielt, eine für seine Rechnung gemachte Ausgabe so wenig bereut, wie im vorliegenden Falle.

Um halb ein Uhr Mittags, als Schäfer Frik von der Weide zurückkam, bestürmten ihn Alle mit neugierigen Fragen, ob etwas Neues, etwas Außerordentliches, etwas Uebernatürliches vorgekommen sei....[85]

Frik antwortete, daß er weit durch das Thal der Walachischen Sil gezogen sei, ohne etwas Verdächtiges bemerkt zu haben.

Nach dem Mittagessen, so um zwei Uhr, eilte Jeder wieder auf seinen Beobachtungsposten. Keiner hätte daran gedacht, heute daheim zu bleiben, und Keiner dachte auch daran, den »König Mathias«, wo sich so verderbendrohende Stimmen vernehmen ließen, nur mit einem Fuße zu betreten. Daß die Wände Ohren hatten, mochte ja noch hingehen, denn an diese Vorstellung ist man am Ende durch den allgemeinen Sprachgebrauch gewöhnt... aber auch noch einen Mund!... Das war gar zu toll!

Der würdige Gasthalter konnte wirklich fürchten, daß über sein Haus eine Art Quarantäne verhängt werden würde, und das nahm er sich doch gewaltig zu Herzen. Vielleicht sah er sich gar gezwungen, sein Geschäft zu schließen und wegen Mangels an Gästen seine Vorräthe selbst aufzuzehren. Um die Bevölkerung von Werst nach Kräften zu beruhigen, hatte er übrigens eine gründliche Durchsuchung des »König Mathias« vorgenommen, hatte alle Stuben – selbst bis unter die Betten – persönlich nachgesehen, Schränke und Schanktische durchwühlt, alle Ecken und Winkel der großen Gaststube durchstöbert, und Keller und Boden obendrein, wo sich ein rücksichtsloser Spaßvogel nur immer hätte verbergen können, um eine solche Nasführung ins Werk zu setzen... Nichts!... Nichts fand sich auch längs der nach dem Nyad zu liegenden Hauswand. Die Fenster waren hier viel zu hoch, als daß es möglich gewesen wäre, sich an der Rückseite einer lothrechten Mauer, deren Untergrund obendrein in den wilden Lauf des Nyad tauchte, bis an deren Oeffnung hinaufzuschwingen. Gleichviel! Die Furcht kennt keine Vernunft, und gewiß würde recht lange Zeit verfließen, bis die Stammgäste des wackeren Jonas wieder zu seiner Wirthschaft, seinem Schnaps und seinem Rakion Vertrauen gewonnen hatten.

Lange Zeit?... Er täuschte sich, wie der Leser sehen wird; diese betrübende Aussicht sollte sich nicht verwirklichen.

Schon wenige Tage später nahmen nämlich in Folge eines unvorhergesehenen Umstandes die Notablen des Dorfes ihre täglichen Zusammenkünfte bei einem herzstärkenden Trunke an den Tischen des »König Mathias« wieder auf.

Vorläufig müssen wir jedoch zu dem jungen Forstwächter und seinem Begleiter, dem Doctor Patak, zurückkehren.[86]

Der freundliche Leser erinnert sich, daß Nic Deck beim Fortgehen von Werst der trostlosen Miriota versprochen hatte, seinen Besuch des Karpathenschlosses nicht unnöthig zu verlängern. Stieß ihm kein Unglück zu, ging die unheimliche Drohung nicht in Erfüllung, so rechnete er, noch in den ersten Abendstunden zurück zu sein. Jetzt erwartete man ihn also, und mit welcher Ungeduld! Natürlich konnte das junge Mädchen ebenso wenig wie ihr Vater oder der Schulmeister voraussehen, daß die Schwierigkeiten des Weges dem Forstwächter nicht gestatten würden, das Plateau des Orgall vor Einbruch der Nacht zu erreichen.

Selbstverständlich mußte die schon tagsüber lebhafte Unruhe alles Maß übersteigen, als es schon acht Uhr am Kirchthurm von Vulcan schlug, was im Dorfe Werst ganz deutlich zu hören war. Was konnte geschehen sein, daß Nic Deck und der Doctor nach eintägiger Abwesenheit nicht wieder erschienen waren? Unter diesen Umständen wäre es Keinem in den Sinn gekommen, seine Wohnung aufzusuchen, bevor jene sich nicht wieder gezeigt hatten. Jeden Augenblick glaubte man sie schon an der Biegung der bergauf führenden Straße erscheinen zu sehen.

Meister Koltz und seine Tochter waren bis an die Stelle der Straße hinausgegangen, wo der Schäfer auf Wache ausgestellt worden war. Wiederholt meinten sie, sich Schatten in der Ferne unter den vereinzelt stehenden Bäumen am Waldesrand abheben zu sehen... leider eine Täuschung! Der Bergrücken blieb verlassen wie gewöhnlich, denn es kam nur selten vor, daß Leute von der Grenze sich während der Nacht dahin begeben hätten. Außerdem war es Dienstag Abend – der Dienstag der bösen Geister – und an diesem Tage zogen die Transsylvanier von Sonnenuntergang an schon allein nicht gern über Land. Nun mußte gerade Nic einen solchen Tag zu seinem Besuche der Burg wählen! In Wahrheit hatte freilich der junge Forstwächter mit keiner Silbe hieran gedacht, und im Dorfe obendrein auch kein Mensch.

Miriota dachte aber jetzt sehr ernst daran. Welch' entsetzliche Bilder zogen da an ihrem Geiste vorüber! Sie hatte ja ihren Verlobten in Gedanken Stunde für Stunde begleitet, durch die dichten Wälder des Plesa bis hinauf zur Hochfläche des Orgall. Jetzt, wo die Nacht hereinbrach, erschien es ihr, als sähe sie ihn innerhalb der Burgmauer, wie er sich bemühte, den Geistern, die das Karpathenschloß in Bann hielten, zu entkommen. Er war ihrer Meinung nach zum Spielball der Zaubereien der Letzteren geworden... zum Opfer, das sie[87] ihrer Rache darbrachten.... Vielleicht war er jetzt in schauriger unterirdischer Höhle eingesperrt.... Vielleicht gar schon todt....

Was hätte das arme Mädchen darum gegeben, den Spuren Nic Deck's nacheilen zu können! Doch da sie das nicht konnte, wollte sie ihn wenigstens an dieser Stelle die ganze Nacht hindurch erwarten. Ihr Vater nöthigte sie jedoch, endlich mit nach Hause zu gehen, und während er den Schäfer zur Beobachtung zurück ließ, erreichten Beide wieder schweigend einherziehend ihre Wohnung.

Sobald sie in ihrer Kammer allein war, ließ Miriota ihren Thränen freien Lauf. Sie liebte ihn ja von ganzer Seele, den wackeren Nic, und war ihm nur um so zärtlicher zugethan, weil sich der Forstwächter ihre Liebe nicht unter den gewöhnlichen Verhältnissen erworben hatte, unter denen die meisten Ehen hier in den transsylvanischen Provinzen in so wunderlicher Art und Weise zu Stande kommen.

Jedes Jahr am Johannistage wird hier nämlich eine sogenannte »Brautmesse« abgehalten. An genanntem Tage strömen aus dem Comitat alle jungen Mädchen zusammen. Sie kommen dann auf den besten, mit den schönsten Pferden geschmückten Wagen, auf denen sie ihre Aussteuer unterbringen, nämlich eigenhändig gesponnene, genähte und gestickte Kleider in großen Truhen von leuchtender Farbe. Die Familien, Freundinnen und Nachbarinnen geben ihnen dabei das Geleite. Ebenso finden sich die heiratsfähigen jungen Burschen ein, die seidene Schärpen um die Taille zu tragen pflegen. Auf dem Markte umherstolzirend, wählen sie sich die Dirne, die ihnen gefällt; dann übergeben sie dieser einen Ring und ein Taschentuch als Verlobungsgeschenk – und bald nach diesem Feste wird dann die Hochzeit ausgerichtet.

Auf einem solchen Markte war es also nicht gewesen, wo Nicolas Deck seine Miriota zuerst getroffen hatte; ihre Verbindung beruhte nicht auf einem Zufall. Beide kannten sich von Kindheit her und liebten sich schon von der Zeit ab, wo man eben zu lieben anfängt. Der junge Forstwächter war niemals zu einer solchen Brautmesse gegangen, um sich die zu küren, die einmal seine Braut werden sollte, und Miriota war ihm dafür herzlich dankbar. Ach, warum war Nic Deck aber ein so entschlossener, so zäher, um nicht zu sagen, starrsinniger Charakter, ein so unbedachtes Versprechen zu halten? Er liebte sie, liebte sie trotz alledem, und dennoch hatte sie nicht Macht genug gehabt, ihn von dem Wege nach dem verzauberten Schlosse abzuhalten![88]

Welch' schreckliche Nacht durchweinte Miriota in ihrer Seelenangst! Sie hatte sich gar nicht niederlegen wollen. Gegen das Fenster gelehnt und den Blick nach der aufsteigenden Landstraße gerichtet, glaubte sie da eine Stimme zu vernehmen, die ihr zumurmelte:

»Nicolas Deck hat Deine Warnung nicht beachtet!... Miriota hat keinen Verlobten mehr!«

Doch das war nur eine Sinnestäuschung; keine Stimme unterbrach die nächtliche Stille. Das unerklärliche Vorkommniß in der Gaststube des »König Mathias« wiederholte sich nicht im Hause des Meister Koltz.


Jedes Jahr wird hier eine sogneannte »Brautmesse« abgehalten. (S. 88.)
Jedes Jahr wird hier eine sogneannte »Brautmesse« abgehalten. (S. 88.)

Am folgenden Tage war die Bewohnerschaft von Werst schon mit dem Morgenrothe draußen. Von der Terrasse bis zur Straßenbiegung am Berge sah man die Einen auf der Straße hinauf-, die Anderen hinabwandeln – Jene, um Neuigkeiten zu erfahren, diese, um sie zu verbreiten. Man sagte, der Schäfer Frik sei bis auf eine gute Meile vom Dorfe weit hinausgegangen, zwar nicht durch den Wald des Plesa, sondern an dessen Saume langhin, und man meinte, daß er dazu seinen besonderen Grund haben möchte.

Ihn mußte man jedenfalls abwarten, und um schneller etwas zu erfahren, hatten sich der Meister Koltz, Miriota und Jonas bis zum letzten Ende des Dorfes hinausbegeben.

Nach Verlauf einer halben Stunde wurde Frik einige hundert Schritte die Straße aufwärts zuerst bemerkt.

Da er seine Schritte keineswegs beeilte, hielt man das für eine schlechte Vorbedeutung.

»Nun, Frik, was weißt Du?... Was hast Du wahrgenommen? fragte ihn Meister Koltz, als er zu diesem herangekommen war.

– Ich habe nichts gesehen, nichts erfahren, antwortete Frik.

– Nichts! murmelte das junge Mädchen, deren Augen sich mit Thränen füllten.

– Bei Tagesanbruch, fuhr der Schäfer fort, bemerkte ich eine Meile von hier zwei Männer. Erst hielt ich sie für Nic Deck und den Doctor, doch – diese waren es nicht.

– Weißt Du denn, wer dieselben waren?

– Zwei fremde Reisende, die geraden Weges von der walachischen Grenze herkamen.

– Du hast also mit ihnen gesprochen?[91]

– Und sie kommen nach dem Dorfe herunter?

– Nein, sie zogen zunächst in der Richtung nach dem Retyezát weiter, da sie dessen Gipfel ersteigen wollten.

– Es sind also zwei Lustreisende?

– So sahen sie aus, Meister Koltz.

– Und obwohl sie diese Nacht über den Rücken des Vulcan gekommen sind, haben sie von der Burg doch nichts gesehen?

– Nein... denn zu der Zeit befanden sie sich noch jenseits der Grenze, erwiderte Frik.

– Du bringst also über Nic Deck keine Nachricht?

– Nicht die geringste.

– O mein Gott! schluchzte die arme Miriota.

– Uebrigens werdet Ihr diese Reisenden in wenigen Tagen selbst fragen können, fügte Frik hinzu, denn sie gedenken vor ihrer Rückkehr nach Kolosvar in Werst Halt zu machen.

– Vorausgesetzt, daß man ihnen von meinem Gasthofe nichts Schlechtes zuflüstert! dachte der untröstliche Jonas. Sie wären wohl im Stande, dann auf Wohnung bei mir zu verzichten.«

Seit sechsunddreißig Stunden schon war der vortreffliche Gasthalter von der Furcht besessen, daß kein Reisender jemals wieder im »König Mathias« zu speisen oder zu übernachten wagen würde.

Alle zwischen dem Schäfer und seinem Herrn gewechselten Fragen und Antworten hatten die Sachlage nicht im Geringsten weiter geklärt, und da weder der junge Forstwächter, noch der Doctor Patak bis acht Uhr Morgens zurückgekehrt war, konnte man wohl schon der Befürchtung Raum geben, daß sie niemals wiederkommen würden. Niemand nähert sich eben ungestraft dem alten Karpathenschlosse.

Gebrochen von der Aufregung dieser schlaflosen Nacht, hatte Miriota nicht mehr die Kraft sich aufrecht zu erhalten. Nur schwankend vermochte sie sich langsam hinzuschleppen. Mit herzzerreißender Stimme rief sie nach ihrem Nic. Sie wollte fort, ihn aufzusuchen. Der Auftritt war schmerzlich mit anzusehen und legte die Befürchtung nahe, daß das junge Mädchen ernstlich erkranken könnte.

Jetzt war es jedoch ebenso nothwendig wie dringend, zu einem Entschlusse zu kommen. Irgendwer mußte dem Forstwächter und dem Doctor ohne Zeitverlust[92] zu Hilfe eilen. Nun konnte es kaum noch darauf ankommen, Gefahren zu trotzen, sich der Rache menschlicher oder anderer Wesen, die in der Burg hausen mochten, auszusetzen. Die Hauptsache war, zu erkunden, was aus Nic Deck und dem Doctor geworden war. Diese Pflicht drängte sich deren Freunden ebenso gebieterisch auf, wie den ihnen ferner stehenden Dorfbewohnern. Die Muthigsten konnten sich ja nicht wohl weigern, in die Waldmasse des Plesa einzudringen, um selbst bis zum Karpathenschlosse emporzuklimmen.

Nach fernerem nutzlosen Hin- und Herreden entpuppten sich als die Muthigsten ihrer drei: der Meister Koltz, der Schäfer Frik und der Gastwirth Jonas – der würdige Schulmeister Magister Hermod empfand dagegen plötzlich ganz außerordentliche Gichtschmerzen am Beine und hatte dieses in der Schulstube über zwei Stühle ausstrecken müssen.

Gegen neun Uhr machten sich Meister Koltz und seine Begleiter – vorsichtigerweise wohl bewaffnet – auf den Weg nach dem Vulcan; an derselben Stelle der Straße, wo Nic Deck diese verlassen hatte, wichen auch sie davon ab, um in das dichte Gehölz einzudringen.

Sie sagten sich nicht ohne Berechtigung, daß der junge Mann und der Doctor, wenn sie auf der Heimkehr nach dem Dorfe begriffen wären, denselben Weg wählen würden, den sie auf dem Hinweg über den Plesa eingeschlagen hatten. Ihre Spuren mußten sich ja leicht genug wiederfinden lassen, und das traf auch zu, als alle Drei kaum hinter dem Saume des Waldes verschwunden waren.

Wir lassen sie nun dahinziehen, um zu berichten, welcher Wechsel der Ansichten in Werst Platz griff, sobald man Jene aus dem Gesichte verloren hatte. Wenn es erst ganz selbstverständlich erschienen war, daß sich mehrere Leute freiwillig entschlossen, Nic Deck und Patak entgegen zu gehen, so fand man darin jetzt eine Unklugheit sondergleichen, nachdem Jene aufgebrochen waren. Was würde das Ende vom Liede sein? Dem ersten Unglücke konnte sich nur noch ein zweites anreihen. Daß der Forstwächter und der Doctor die Opfer ihres Unterfangens geworden wären, daran zweifelte Niemand mehr, was konnte es also nützen, daß Koltz, Frik und Jonas auch noch ihrer Hilfswilligkeit für Jene zum Opfer fielen?

Es würde eine geraume Zeit vergehen, während der das junge Mädchen ihren Vater ebenso beweinte, wie sie ihren Verlobten beweinen, die Freunde des Schäfers und des Gastwirths deren Verlust betrauern würden.[93]

Die Verzweiflung in Werst wurde schon eine allgemeine und es sah hier nicht so aus, als ob sie sobald verschwinden sollte. Selbst angenommen, daß den ersten Beiden kein Unglück zugestoßen war, so konnte man auf die Rückkehr des Meister Koltz und seiner beiden Begleiter nicht eher rechnen, als bis die Nacht die benachbarten Höhen mit ihrem schwarzen Mantel bedeckte.

Wie groß war daher das Erstaunen, als Jene gegen zwei Uhr Nachmittags weit draußen auf der Landstraße zum Vorschein kamen. Mit welch' freudiger Hast eilte die davon sofort benachrichtigte Miriota den Männern entgegen!

Es waren ihrer aber nicht drei, sondern vier, und ein Fünfter befand sich offenbar unter der Pflege des Doctors.

»Nic... mein armer Nic! rief das junge Mädchen klagend. Ist denn Nic nicht da?«...

Ja, Nic war freilich da, er lag aber auf einer Bahre aus Baumzweigen, die Jonas und der Schäfer vorsichtig trugen.

Miriota stürzte auf ihren Verlobten zu, sie neigte sich über ihn und schloß ihn innig in die Arme.

»Er ist todt... jammerte sie, er ist todt!

– Nein, todt ist er nicht, erwiderte der Doctor Patak, doch er verdiente es zu sein, und ich mit ihm!«

In Wahrheit hatte der junge Forstwächter nur das Bewußtsein verloren. Seine starren Glieder, das blasse Gesicht und die vom Athmen sich kaum hebende Brust ließen den Zustand vielleicht noch schlimmer erscheinen, als er in der That war. Das Gesicht des Doctors dagegen war nicht so entfärbt wie das seines Gefährten – doch das rührte nur davon her, daß der Weg nach Hause ihm wieder den gewöhnlichen backsteinrothen Teint verliehen hatte.

Die zärtliche, herzzerreißende Stimme Mirjotas vermochte doch Nic Deck nicht aus der Starrsucht, in der er lag, zu erwecken. Als er ins Dorf zurück und schon nach dem Hause des Meister Koltz gebracht worden war, hatte er noch kein Wort gesprochen, doch als er nur unklar bemerkte, daß das junge Mädchen sich über sein Lager beugte, da flog ein schwaches Lächeln über seine Lippen. Ein Theil seines Körpers erwies sich als gelähmt, als hätte ihn eine Hemiplegie befallen. Um Miriota wenigstens etwas zu beruhigen, flüsterte er ihr aber bald, wenn auch nur sehr schwach, die Worte zu:

»Es hat nichts auf sich... gewiß, das geht vorüber![94]

– Nic... mein armer Nic! klagte das junge Mädchen.

– Nur etwas Erschöpfung, liebste Miriota, etwas Aufregung. Das giebt sich bald wieder... und unter Deiner Pflege...«

Doch der Kranke brauchte selbst und in seiner Umgebung die größte Ruhe. So verschwand auch Meister Koltz aus dem Zimmer und ließ Miriota bei dem jungen Forstwächter, der sich eine aufmerksamere Krankenwärterin gar nicht hätte wünschen können und bald sanft entschlummerte.

Inzwischen berichtete der Gastwirth Jonas vor einem großen Zuhörerkreis und mit starker Stimme, um von Allen richtig verstanden zu werden, was sich seit ihrem Abgang zugetragen hatte.

Nachdem Meister Koltz, der Schäfer und er im Walde den Pfad aufgefunden, den Nic Deck und der Doctor sich gebrochen, hatten sie die Richtung gerade nach dem Karpathenschlosse eingeschlagen. Zwei Stunden arbeiteten sie sich die Abhänge des Plesa schon hinauf, als zwei Männer sichtbar wurden. Das waren der Doctor und der Forstwächter, der Eine, dem die Beine jeden Dienst versagten, und der Andere am Rande seiner Kräfte und am Fuße eines Baumes zusammengesunken.

Nach dem Doctor hinzulaufen, ihn zu fragen, ohne von ihm eine Antwort zu erhalten, denn er war viel zu sehr außer sich, um eine Silbe hervorbringen zu können, ferner aus Baumzweigen eine Bahre herzustellen, Nic Deck darauf zu legen und Patak wieder auf die Füße zu helfen, das war im Handumdrehen geschehen. Koltz und der Schäfer, die zuweilen von Jonas im Tragen abgewechselt wurden, hatten darauf den Rückweg nach Werst eingeschlagen.

Warum Nic Deck sich in einem solchen Zustand befand und ob er die Ruinen der Burg durchsucht habe, das wußte der Gastwirth ebenso wenig wie Meister Koltz, nicht mehr als der Schäfer Frik, denn der Doctor hatte sich noch nicht so weit wieder erholt, um ihre Wißbegierde befriedigen zu können.

Hatte Patak bis jetzt aber nicht gesprochen, so mußte er es nun wohl thun. Sapperment, er befand sich ja in Sicherheit im Dorfe, umgeben von seinen Freunden, inmitten seiner Clienten. – Von den Wesen da draußen hatte er nichts mehr zu fürchten; selbst wenn sie ihm den Eid entrissen hätten, zu schweigen, nichts von dem zu verrathen, was er im Karpathenschloß gesehen, so legte ihm doch das Interesse der Allgemeinheit den Zwang auf, jenen Eid zu brechen.


Miriota eilte den Männern entgegen. (S. 94.)
Miriota eilte den Männern entgegen. (S. 94.)

»Nun vorwärts, rafft Euch auf, Doctor, setzte ihm Meister Koltz zu, ruft Eure Erinnerung wieder wach!

– Ihr wollt... daß ich rede...[95]

– Im Namen der Einwohner von Werst und um die Ruhe und den Frieden des Dorfes zu sichern, befehl' ich's Euch!«


Einige Zigeunerfamilien zogen von hier fort. (S. 101.)
Einige Zigeunerfamilien zogen von hier fort. (S. 101.)

Ein volles Glas Rakion, das Jonas herbeibrachte, hatte die Wirkung, dem Doctor den Gebrauch seiner Zunge wiederzugeben, und in mehrfach unterbrochenen Sätzen erzählte er dann Folgendes:[96]

»Ihr wißt, wir machten uns Beide zusammen auf... Nic und ich... Thoren waren wir, reine Thoren!... Fast den ganzen Tag brauchten wir, um durch die vermaledeiten Wälder zu dringen.... Spät des Abends bei der Burg angelangt... Hu, ich zittre noch bei dem Gedanken und werde mein ganzes Leben lang zittern!... Nic wollte mit aller Gewalt hinein... Ja, schlafen wollte er sogar in dem Wartthurme... und das heißt ebensoviel, wie mit dem Belzebub sich ins Bett zu legen!...«

Der Doctor brachte das Alles mit so hohler Stimme vor, daß Jeden schon vom bloßen Anhören seiner Rede eine Gänsehaut überlief.[97]

»Das hab' ich aber nicht zugegeben... fuhr er fort... nein, ich gab's nicht zu! Was wäre denn daraus geworden, wenn ich Nic's Verlangen nachgab?... Die Haare stehen mir zu Berge, wenn ich mir das ausmale!«

Wenn die Haare des Doctors auf seinem Schädel jetzt wirklich in die Höhe standen, kam das freilich daher, daß er sie unwillkürlich selbst durchwühlte.

»Nic mußte sich also begnügen, auf dem Plateau des Orgall zu bleiben. Das war eine Nacht, Ihr Leute, eine Nacht, sag' ich Euch!... Versucht nur einmal Ruhe zu finden, wenn Einen die Geister keine Minute schlafen lassen... nein, nicht eine Minute! Plötzlich erscheinen feurige Gespenster, in den Wolken leibhaftige Balauris. Sie stürmen auf das Plateau hernieder, um uns aufzufressen...«

Alle richten die Blicke nach dem Himmel, um zu sehen, ob nicht etwa schon wieder eine Gespenstergaloppade über diesen hinjage.

»Und wenige Augenblicke danach, erzählte der entsetzte Doctor weiter, fing auch noch die Glocke der Kapelle an zu läuten!«

Alle Ohren lauschten gespannt, und mehr wie Einer glaubte entfernte Glockenschläge zu vernehmen, so sehr verschärfte der Bericht des Doctors die Einbildungskraft der an sich abergläubischen Zuhörer.

»Plötzlich, rief er schaudernd, ertönte ein furchtbares Geheul.... schon mehr ein Gebrüll von allerhand Raubthieren.... Nachher schoß ein blendender Schein aus den Fenstern des Wartthurmes.... Eine höllische Flamme badete das ganze Plateau bis in den Tannenwald hin in unerträglichem Lichte.... Nic Deck und ich... wir starren uns an... O, den Anblick wünsch' ich meinem verhaßtesten Feinde nicht!... Wir gleichen nur noch zwei Leichnamen, die bei dem fahlen Teufelsscheine einander angrinsen!...«

Wer jetzt den Doctor Patak mit dem krampfhaft verzerrten Gesicht und den unstät rollenden Augen sah, hätte wirklich fragen können, ob der Mann nicht eben aus jener Welt zurückgekehrt sei, nach der er schon so viele Seinesgleichen befördert hatte.

Man mußte ihn erst wieder zu Athem kommen lassen, denn er wäre jetzt ganz außer Stande gewesen, in der Erzählung fortzufahren. Das kostete Jonas ein zweites Glas Rakion, das dem Exkrankenwärter einen Theil des Verstandes, den die Geister ihm geraubt hatten, wiederzugeben schien.[98]

»Was war denn aber schließlich mit dem armen Nic Deck geschehen?« fragte Meister Koltz.

Mit gutem Grunde legte der Biró ein besonderes Gewicht auf die Beantwortung dieser Frage, da ja der junge Forstwächter persönlich in der Gaststube des »König Mathias« durch die Geisterstimme gewarnt worden war.

»Davon weiß ich selbst nicht mehr allzuviel, erklärte der Doctor. Es war endlich wieder Tag geworden.... Ich hatte Nic Deck gebeten, auf sein Vorhaben zu verzichten... doch Ihr kennt ihn ja... von einem solchen Starrkopf ist nichts zu wollen... er kletterte in den Wallgraben hinunter und mich schleppte er hinterher. Ich hatte übrigens gar kein Bewußtsein von dem, was um mich her vorging... Nic geht nachher bis dicht an das Ausfallsthor weiter.... Er ergreift eine Kette der Zugbrücke und klimmt längs der Verbindungsmauer zwischen den Bastionen hinaus.... Jetzt wurde ich mir wieder etwas klarer.... Noch ist es Zeit, den Wahnwitzigen aufzuhalten... um nicht zu sagen, den Gotteslästerer! Zum letzten Male befehle ich ihm, herunterzukommen, zurückzukehren, den Weg nach Werst wieder mit mir einzuschlagen. – »Nein!« Das ist die ganze Antwort, die ich von ihm bekomme.... Nun will ich entfliehen... ja wohl... Ihr Leute... ich gesteh' es ein, ich wollte entfliehen, und unter Euch ist Keiner, der nicht ganz denselben Gedanken gehabt hätte.... Doch vergeblich such' ich vom Erdboden loszukommen. Meine Füße sind angenagelt... festgenietet... eingewurzelt... Ich versuche mich mit Gewalt loszureißen... unmöglich!... Ich zapple mit allen Gliedern... vergebens!«

Doctor Patak ahmte hierbei die verzweifelten Bewegungen eines an den Beinen festgehaltenen Mannes nach, die etwa denen eines Fuchses glichen, der in ein Fangeisen gerathen ist.

Dann kam er auf seine Erzählung zurück:

»In diesem Augenblicke, sagt er, hör' ich einen Schrei... und was für einen!... Nic Deck hatte ihn ausgestoßen. Seine die Kette umklammernden Hände haben diese losgelassen, er stürzt in den Graben hinunter, wie von unsichtbarer Hand niedergeschlagen!«

Der Doctor berichtete ja hier die Ereignisse ganz so wie sie sich abgespielt hatten, und ohne daß seine Einbildungskraft, so erregt diese auch war, etwas hinzusetzte. Wie er sie schilderte, so hatten sich die Wunderdinge, deren Schauplatz das Plateau des Orgall in vergangener Nacht gewesen war, in der That zugetragen.[99]

Nic Deck aber erging es nach seinem Absturz wie folgt: Der Forstwächter ist bewußtlos, der Doctor Patak ganz unfähig, ihm zu Hilfe zu kommen, denn seine Stiefeln sind an die Erde genagelt und die geschwollenen Füße vermag er nicht herauszuziehen. Plötzlich wird die unsichtbare Macht, die ihn fesselt, mit einem Schlage gebrochen. Seine Beine sind wieder frei... er eilt auf seinen Gefährten zu und – von seiner Seite schon eine wahre Heldenthat – benetzt das Gesicht Nic Deck's mit seinem Taschentuche, das er mit Wasser aus dem Abzugscanal befeuchtet hatte. Der Forstwächter kommt wieder zu sich, sein linker Arm und ein Theil des Körpers sind aber seit dem schrecklichen Schlage, der ihn getroffen, wie gelähmt. Mit Hilfe des Doctors gelingt es ihm jedoch, die Böschung hinaufzuschleichen und nach dem Plateau zu gelangen. Dann geht es ohne Besinnen rückwärts, nach dem Dorfe zu. Nach einstündiger Wanderung schmerzen ihn der Arm und die linke Seite des Körpers dermaßen, daß er Halt machen muß... Endlich, gerade in dem Augenblicke, wo der Doctor, um weitere Hilfe zu holen, allein nach Werst laufen will, stellen sich Meister Koltz, Jonas und Frik gerade noch zu rechter Zeit ein.

Was dem jungen Forstwächter widerfahren und ob er schwer verletzt war, darüber vermied der Doctor Patak sich zu äußern, obwohl er sonst, wenn es sich um einen Krankheitsfall handelte, immer mit einem sehr bestimmt lautenden Urtheil bei der Hand war.

»Liegt Einer an einer natürlichen Krankheit danieder, begnügte er sich in sehr lehrhaftem Tone zu sagen, so ist das schon ernst genug. Handelt es sich aber gar um eine übernatürliche Krankheit, die der Chort Euch in die Glieder schickt, so kann diese auch nur der Chort wieder vertreiben.«

Bei jedem Mangel einer Diagnose erschien die Prognose bezüglich Nic Deck's wenig beruhigend. Zum Glück waren des Doctors Worte kein Evangelium, und wie viel Aerzte seit Hippokrates und Galen haben sich getäuscht und täuschen sich noch täglich, obwohl sie dem Doctor Patak im Wissen und Können weit »über« sind. Der junge Forstwächter war ein von Natur gesunder Bursche, bei seiner kräftigen Constitution konnte man wohl erwarten, daß er sich – auch ohne Teufelshilfe – wieder aus der Schlinge zöge, freilich unter der Voraussetzung, daß er die Vorschriften des alten Krankenwärters von der Quarantaine nicht gar zu genau befolgte.[100]

Quelle:
Jules Verne: Das Karpathenschloß. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXI, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 85-89,91-101.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
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