Elftes Capitel.
Vor der Regenzeit. – Besuch der Meiereien und der Eilande. – Die ersten Stürme. – Die Abende in Felsenheim. – Die Kapelle. – Ernsts Entdeckung und wie diese aufgenommen wird. – Fortdauer des schlechten Wetters. – Zwei Kanonenschüsse. – Auf der Haifischinsel.

[162] Vierundeinenhalben Tag oder hundertacht Stunden hatte die Abwesenheit der Bewohner von Felsenheim gedauert. Sie hätte sich noch weit länger ausdehnen dürfen, ohne daß die Hausthiere deshalb zu leiden gehabt hätten, denn[162] ihre Ställe waren mit Futtervorräthen für einen langen Zeitraum versorgt worden. Gelegentlich dieses Ausfluges hätte Wolston Zeit genug gehabt. seine Besichtigung der Insel bis zum Fuße der Bergkette fortzusetzen. von der er bei der Barre. im Flusse ja nicht mehr weit entfernt gewesen war. Höchstwahrscheinlich hätte er dem älteren Zermatt auch vorgeschlagen, noch drei bis vier Tage am Ankerplatze im Montrose-Flusse zu verweilen, wenn das Canot nicht auf das Hinderniß gestoßen wäre. das jede weitere Fahrt stromaufwärts unmöglich machte.

Der Ausflug war immerhin nicht ergebnißlos gewesen. Man hatte dabei die östliche Küste vom Cap im Osten an gegen zehn Lieues weit kennen gelernt. Nimmt man hierzu die gleichlange Strecke im Norden bis zur Perlenbucht hin, so war das alles, was man von dem Küstengebiete der Insel kannte. Was ihren Umfang im Westen und im Süden anging, welches Aussehen sie ebenda hatte, ob sie weitere öde oder fruchtbare Gegenden enthielt, darüber konnten die beiden Familien erst Aufklärung erhalten, wenn sie die ganze Insel umschiffen, wenigstens wenn nicht eine Besteigung der Berge einen Ueberblick über die gesammte Neue Schweiz vermittelte.

Freilich lag die Wahrscheinlichkeit vor, daß die »Licorne«, als sie wieder in See stach, schon deren Größenverhältnisse und deren Gestalt aufgenommen hätte. Führte der von Wolston vorgeschlagene Zug also zu keinem vollständigen Erfolge, so blieb nichts übrig, als die Rückkehr der Corvette abzuwarten, um von ihr in dieser Hinsicht Aufklärung zu erhalten.

Vorläufig sollten, sechs bis sieben Wochen lang, die Heu- und Kornernte, die Weinlese und die Einbringung der Feldfrüchte jede Stunde in Anspruch nehmen. Zermatt und seine Gefährten durften keinen Tag feiern, wenn sie die Meiereien in gutem Zustande vor der Jahreszeit haben wollten, die, den Winter bildend, unter dieser Breite der südlichen Erdhälfte so vielfach durch schlechte Witterung gestört wird.

Jedermann ging also ans Werk, und in erster Linie begaben sich die beiden Familien von Felsenheim nach Falkenhorst, wo sie sich mehr in der Nähe von Waldegg, von Zuckertop und vom Prospect-Hill befanden. In der Sommerwohnung fehlte es weder an Raum noch an Bequemlichkeit, da hier zwischen den mächtigen Wurzeln des Mangobaumes weitere Stuben eingerichtet waren, ohne von der Wohnung in der Luft zu reden, die eine so angenehme Lage inmitten des dichten Laubwerkes hatte. Am Fuße des Baumes lag ferner ein[163] geräumiger Hof für die Thiere, der mit Ställen und Schuppen ausgestattet und von einer undurchdringlichen Pfahlwand aus Bambus und stacheligem Gesträuch eingeschlossen war.

Es bedarf wohl kaum der Aufzählung der einzelnen Arbeiten, die in den nächsten zwei Monaten vorgenommen und gut ausgeführt wurden. Die Ansiedler mußten dabei von einer Meierei zur anderen gehen, die Körner- und Futterernte geschützt unterbringen, das vollreife Obst einsammeln und alles in stand setzen, um das Federvieh nicht von der Unbill der schlechten Jahreszeit leiden zu lassen.

Hervorzuheben ist jedoch, daß der Ertrag von den Feldern, dank der Bewässerung aus dem, durch den Canal reichlich gespeisten Schwanensee, ein merklich größerer geworden war. Das Gebiet des Gelobten Landes hätte jetzt wohl schon hundert Colonisten ernähren können, und es liegt auf der Hand, daß seine Bewohner Arbeit übergenug hatten, wenn sie nichts von dessen Ertrage einbüßen wollten.

Im Hinblick auf die gewöhnlich acht bis neun Wochen anhaltenden atmosphärischen Störungen war es erforderlich, bei den Meiereien alle durch Regen und Wind verursachten Beschädigungen sorgsam auszubessern. Die Stangen der Einfriedigungen waren theilweise neu zu befestigen, Fenster und Thüren wurden gut geschlossen, gedichtet und mit Gegenstützen versehen und die Dächer belastete man mit schweren Steinen, um sie gegen Sturmwinde widerstandsfähiger zu machen. Dieselben Vorsichtsmaßregeln wurden bezüglich der offenen und geschlossenen Schuppen und der Hühner- und Viehställe getroffen, deren zwei- und vierfüßige Bewohner zu zahlreich waren, als daß sie in den Wirthschaftsgebäuden bei Felsenheim hätten untergebracht werden können.

Selbstverständlich wurden auch die Bauanlagen auf der Walfisch- und der Haifischinsel so in stand gesetzt, daß sie den Windstößen, die sie bei ihrer freien Lage desto heftiger trafen, sicher widerstehen konnten.

Auf der Walfischinsel bildeten die harzreichen Bäume, die immergrünen Strandkiefern, jetzt schon dichte Gehölze. Die Anpflanzungen von Cocospalmen und anderen Nutzbäumen waren, seit dornige Hecken sie gegen alle Thiere beschützten, vortrefflich gediehen. In Zukunft war auch nichts mehr von den Hunderten von Kaninchen zu fürchten, die in der ersten Zeit alle jungen Triebe beschädigten. Verschiedene Seepflanzen boten den gefräßigen Nagern genügende Nahrung, unter anderen der Fucus saccharinus, nach dem sie vor allem lüstern schienen. Jenny traf bei ihrer Rückkehr jedenfalls das Eiland, das ihr der ältere[164] Zermatt als persönliches Eigenthum überwiesen hatte, in vortrefflichstem Zustande an.

Auf der Haifischinsel ließen die Anpflanzungen von Mango- und Cocosbäumen und Kiefern nichts zu wünschen übrig. Hier mußten nur die Einfriedigungen verstärkt werden, in denen sich die schon fast zahm gewordenen Antilopen befanden. Gras und Blätter, die Hauptnahrung dieser Wiederkäuer, konnten ihnen für die Zeit des Winters nicht fehlen, ebensowenig das nöthige Wasser, das die am Ende der Insel entdeckte, niemals versiegende Quelle lieferte. Der ältere Zermatt hatte in der Mitte des Platzes einen Schuppen aus starken Planken errichtet, worin aller Art Vorräthe aufgespeichert lagen. Die auf der Oberfläche des Hügels aufgestellte Batterie endlich hatte ein festes, von überhängenden Bäumen beschütztes Dach, das von der Flaggenstange überragt wurde.

Am Tage dieses Besuches lösten Ernst und Jack, wie alljährlich beim Anfang und beim Ende der Regenzeit, die zwei regelmäßigen Kanonenschüsse. Diesmal freilich wurde keine Antwort von der Seeseite her vernommen, wie vor sechs Monaten bei der Ankunft der englischen Corvette. Als dann die beiden Geschütze wieder mit neuen Kartuschen und Schlagröhren versehen waren, rief Jack:

»Nach Verlauf von drei Monaten werden wir an der Reihe sein, der »Licorne« zu antworten, wenn sie die Neue Schweiz salutirt, und mit welcher Freude werden wir ihr unsere Antwort senden!«

Die letzte Ernte an Weizen, Gerste, Roggen, Mais, Hafer, Hirse, Maniok, Sago und Bataten wurde bald in den Schuppen und Scheuern von Felsenheim untergebracht. Dank einer verständigen Wechselwirthschaft hatten die Gemüsefelder Erbsen, Schwert- und Buschbohnen, Möhren, Steckrüben, Lauch, Lattich und Kopfsalat in überreichlicher Menge geliefert. Die Felder und Anpflanzungen mit Zuckerrohr und Obstbäumen lagen noch in der Nähe der Wohnstätte an beiden Ufern des Wasserlaufes. Die Einbringung der Weinernte von Falkenhorst vollzog sich noch in der dafür bestimmten Zeit, und was den Meth anging, fehlte es für diesen weder an Gewürz noch an Roggenmehlteig, seine Gährung zu unterstützen. Palmenwein besaß man ebenfalls in Ueberfluß, von dem noch vorhandenen Canarienwein ganz zu schweigen. Mehrere Tönnchen mit Branntwein, die vom Lieutenant Littlestone herrührten, lagerten in dem kühlen Untergrunde der Felsenhöhle. Als Brennmaterial für die Küche gab es in großen Haufen aufgestapeltes trockenes Holz und überdies bestreuten die zu erwartenden Stürme das Uferland bei Felsenheim jedenfalls mit einer Menge abgebrochener Aeste[165] und Zweige, abgesehen von denen, die durch die Fluth aus der Rettungsbucht ans Land gespült wurden. Von einer Heizung der Wohn- und Schlafräume konnte man von vornherein absehen. Zwischen den Wendekreisen hier unter dem neunzehnten Breitengrade giebt es keine bemerkbare Kälte. Feuer bedurfte man nur für die Küche, sowie für die Wäsche und ähnliche häusliche Arbeiten.

Allmählich kam die zweite Hälfte des Mai heran und nun mußten alle Vorbereitungen bald beendigt sein. Unmöglich konnte man sich noch länger täuschen über die Vorzeichen des herannahenden schlechten Wetters. Mit Sonnenuntergang bezog sich der Himmel bereits mit Dunstmassen, die von Tag zu Tag dichter wurden. Der Wind schlug mehr und mehr nach Osten um, und bei dieser Richtung war die Insel allen Stürmen vom offenen Meere her preisgegeben.

Vor der vollständigen Einschließung in Felsenheim wollte der ältere Zermatt den 24. Mai noch zu einem Ausfluge nach der Einsiedelei von Eberfurt benützen, woran nur Wolston und Jack theilnehmen sollten. Es erschien rathsam, sich zu überzeugen, ob der Paß der Cluse hinreichend verschlossen sei, daß Raubthiere nicht dadurch eindringen konnten. Ein Ueberfall von solchen mußte auf jeden Fall verhütet werden, da die Folge davon eine gänzliche Verwüstung der Anpflanzungen gewesen wäre.

Diese Meierei, die entfernteste an der Grenze des Gebietes, lag gegen drei Lieues weit von Felsenheim.

Auf dem Büffel, dem Onagre (wilden Esel) und dem Strauße reitend, kamen die drei Besucher in weniger als zwei Stunden nach der Einsiedelei von Eberfurt. Die Verschläge wurden zwar noch in gutem Zustande gefunden, nur schien es angezeigt, den Verschluß zum Eingange der Cluse noch mit einigen Querbalken zu verstärken. Wenn Raubthiere oder Dickhäuter den Weg durch den Engpaß versperrt fanden, war kaum zu befürchten, daß sie auf anderem Wege weiter vordringen könnten.

Uebrigens zeigte sich auch, sehr zum Leidwesen Jacks, nirgends eine verdächtige Fährte. Der eifrige Jäger hoffte immer, mindestens einen jungen Elephanten zu erbeuten. Nachdem er einen solchen gezähmt, ans Haus und anfänglich an schweren Zug gewöhnt hätte, glaubte er mit Sicherheit, ihn auch zur Beförderung seiner eigenen Person abrichten zu können.

Am 25., als die ersten Regengüsse auf die Insel niederströmten, hatten sich die beiden Familien nach dem endgiltigen Auszug aus Falkenhorst in Felsenheim wieder eingerichtet.[166]

Nirgendswo anders hätte man eine geeignetere Wohnstätte finden können die sichereren Schutz gegen jede Witterungsunbill geboten und eine so behagliche Raumeintheilung ermöglicht hätte. Seit jenem Tage, wo Jacks Hammer »den Berg angeschlagen« hatte, war sie gar vielfach verbessert und verschönert worden. Die Steinsalzhöhle bildete jetzt eine höchst bequeme Wohnung. Die Zimmerflucht an der Vorderwand des Felsens hatte jetzt zahlreiche Fenster und Thüren Die Bibliothek, Ernsts Lieblingsaufenthalt, mit ihren zwei, nach Morgen. also nach dem Schakalbache zu gelegenen Fensterausschnitten, wurde von einem hübschen Taubenschlage überragt. Der geräumige »Salon« mit seinen grünen, leicht mit Kautschuk überzogenen Vorhängen an den Fenstern und mit allem Nöthigen – mit Tischen, Stühlen, Polsterstühlen und Sophas – aus der Cajüte des »Landlord« ausgestattet, diente noch weiter als Betsaal, und jedenfalls so lange, bis Wolston seine Kapelle erbaut hatte.

Ueber der Zimmerreihe zog sich eine Terrasse hin, nach der zwei schmale Pfade hinaufführten, und vor dieser lag noch eine Galerie mit einem von vierzehn Bambusstämmen getragenen Schutzdache. An diesen Pfeilern schlängelten sich Pfefferstauden und Zweige von anderen Büschen hinauf, die einen schwachen Vanilleduft ausströmten und mit Lianen und anderen Kletterpflanzen – alles jetzt im sattesten Grün – vermengt waren

An der anderen Seite der Grotte und längs des Baches hinauf lagen die eigentlichen Gärten von Felsenheim. Mit dornigen Hecken umgeben, enthielten sie verschiedene Abtheilungen, hier mit Gemüsen, dort mit Blumen, und dazwischen mit Anpflanzungen von Fruchtbäumen, wie von Pistazien, Mandel- und Nußbäumen, mit Orangen-, Citronen- oder Bananenbäumen und Goyaven, kurz, mit allen Arten, die gewöhnlich in sehr warmen Ländern vorkommen. Baumarten aus dem gemäßigten Klima Europas, wie Kirsch-, Birn-, Vogelkirsch- und Feigenbäume, bildeten wiederum die Einfassung des langen Weges nach Falkenhorst.

Seit dreizehn Jahren war schon so manche Regenzeit im Schutze dieser Wohnung verlebt worden, ohne daß man darin je von Wasser oder Wind zu leiden gehabt hätte. Jetzt sollten wieder einige Wochen unter gleichen Verhältnissen, doch in Gemeinschaft mit einzelnen neuen Insassen, verstreichen. Leider fehlten nur Fritz, Franz und die liebenswürdige Jenny, die Freude und der geistige Lebensquell dieser kleinen Welt.

Vom 25. ab ließ der Regen so gut wie gar nicht mehr nach. Gleichzeitig entfesselten sich die pfeifenden und heulenden Stürme, die vom hohen Meere[167] her über die Plateaus hinter dem Cap im Osten hinwegrasten. Jeder Ausflug verbot sich jetzt von selbst, dagegen ließen die Arbeiten im »Hause« niemand zum Feiern kommen. Eine wichtige Aufgabe bildete schon die Verpflegung der Thiere, der Büffel, des Onagres, der Kühe, Kälber und jungen Esel, sowie der, die fast mit im Hause lebten, wie der Affe Knips II., der Schakal Jager und der Schakal nebst dem Cormoran Jennys, die um derenwillen, man möchte sagen, verhätschelt wurden. Dazu kam die Zubereitung der Speisen und das Einmachen von Conserven und, wenn es einmal eine seltene und kurze Aufklärung des Himmels zuließ, der Fischfang an der Mündung des Schakalbaches und vor den Uferblöcken bei Felsenheim.

In der ersten Juniwoche verdoppelten sich die stürmischen Böen, theils floß der Regen wie aus engmaschigem Netze hernieder, theils schlug er als Platzregen klatschend auf die Erde auf. Ohne völlig wasserdichte Bedeckung konnte man sich keinen Schritt ins Freie wagen.

In der Umgebung wurden der Gemüsegarten, die Anpflanzungen und die Felder von diesen unaufhörlichen Niederschlägen überschwemmt, und von den Gesteinswänden bei Felsenheim gurgelten tausend Wasserfäden mit dem Geräusche von Stromschnellen herab.

Obwohl jetzt niemand hinausging, wenn es nicht die dringendste Nothwendigkeit erforderte, vergingen die Stunden doch ohne die geringste Langeweile. Zwischen den beiden Familien herrschte die vollständigste Einmüthigkeit, eine Uebereinstimmung der Anschauungen, die niemals Auseinandersetzungen aufkommen ließ. Natürlich brauchen wir kaum die Freundschaft zwischen dem älteren Zermatt und Wolston besonders hervorzuheben, ein Verhältniß, das in den sechs Monaten des gemeinschaftlichen Lebens nur immer tiefer Wurzel geschlagen hatte. Nicht anders stand es mit beiden Frauen, deren Eigenschaften und Anlagen sich recht glücklich ergänzten. Der immer heitere Spaßvogel Jack endlich, der stets wie auf dem Ansprung und begierig nach Abenteuern war, murrte höchstens zuweilen darüber, daß er seiner Jagdlust nicht fröhnen konnte.

Was Ernst und Annah anging, konnte es deren Eltern nicht entgehen, daß diese ein wärmeres Gefühl als das der Freundschaft zu einander hinzog. Das jetzt siebzehnjährige, aber etwas ernste und überlegte junge Mädchen mußte dem ebenfalls ernsten und überlegten jungen Manne ja nothwendigerweise gefallen, und dieser konnte, bei seinem einnehmenden Wesen, jener unmöglich mißfallen.[168]

Die Zermatts und die Wolstons faßten mit Vergnügen die Aussicht auf eine zukünftige Verbindung ins Auge, die die Bande zwischen den beiden Familien nur noch enger knüpfen würde.


 »Weil dieser Kiesel eine Pepite ist...« (S. 175.)
»Weil dieser Kiesel eine Pepite ist...« (S. 175.)

Uebrigens ließ man den Dingen ungehindert ihren Lauf, in der Erwartung, daß sich, wenn Fritz und Jenny mit der »Licorne« als Mann und Frau zurückkehrten, alles schon allein ordnen werde.

Kam es doch einmal zu einer harmlosen Neckerei, so ging diese gewiß von dem schalkhaften Jack aus, der übrigens bei seinem festen Vorsatze, Hagestolz zu bleiben, auf Ernst keineswegs eifersüchtig war.[169]

Während der Mahlzeiten und in den Abendstunden bildeten ausnahmslos die Abwesenden den Gegenstand der Unterhaltung. Man vergaß dabei weder den Oberst Montrose oder James und Suzan Wolston, noch Doll und Franz oder sonst einen von denen, die in der Neuen Schweiz ihr zweites Vaterland finden sollten.

Eines Abends stellte da der ältere Zermatt folgende Berechnung auf:

»Wir haben heute den fünfzehnten Juni, liebe Freunde. Da die »Licorne« am zwanzigsten October des vergangenen Jahres abgesegelt ist, ergiebt das bis jetzt reichlich acht Monate. Sie muß also nun auf dem Punkte sein, die europäischen Meere wieder zu verlassen und in den Indischen Ocean einzusegeln.

– Was meinst Du darüber, Ernst? fragte Frau Zermatt.

– Ich denke, erklärte dieser, daß die Corvette, unter Berücksichtigung ihres Aufenthaltes am Cap, nach drei Monaten hat in einem Hafen Englands eintreffen können. Dieselbe Zeit würde sie zur Rückreise brauchen, und da ausgemacht war, daß sie nach einem Jahre wieder hier sein sollte, wird sie jedenfalls auch ein halbes Jahr in Europa geblieben sein. Ich schließe also daraus, daß sie sich zur Zeit noch dort befindet.

– Doch ohne Zweifel fertig, in See zu gehen, bemerkte Annah.

– Das ist wohl anzunehmen, liebe Annah, antwortete Ernst.

– Uebrigens wäre es auch möglich, daß sie ihren Aufenthalt in England abgekürzt hätte, ließ sich Frau Wolston vernehmen.

– Möglich wohl, erwiderte ihr Gatte, obgleich sechs Monate für das, was sie zu erledigen hatte, keine zu lange Zeit sind. Unsere Lords der Admiralität übereilen sich nicht...

– Nun, warf der ältere Zermatt ein, wenn sich's aber um eine neue Erwerbung handelt...

– Da geht es wohl schneller, rief Jack. Wissen Sie übrigens, daß es ein recht schönes Geschenk ist, das wir Ihrem Vaterlande da machen, Herr Wolston?

– Das erkenne ich gern an, lieber Jack.

– Und doch. fuhr der junge Mann fort, welch schöne Gelegenheit wär' es für unsere alte Helvetia gewesen, hier den ersten Schritt zu einer colonialen Erweiterung zu thun! Eine Insel, reich an allen Thieren und Pflanzen der Tropenzone... eine Insel, die so vortheilhaft weit draußen im Indischen Meere liegt, so bequem zur Vermittlung des Handelsverkehres zwischen dem äußersten Asien und dem Großen Ocean...[170]

– Aha, unser Jack geht schon wieder durch. als ob er auf Brummer oder Leichtfuß ritte! spöttelte Herr Wolston.

– Nun, Ernst, fragte Annah, was ergiebt sich denn Ihrer Berechnung nach bezüglich der »Licorne«?

– Die Corvette wird spätestens in den ersten Tagen des Juli absegeln, um unsere Lieben und die Colonisten, die sich diesen zu folgen entschlossen haben mögen, hierher zurückzuführen. Da sie dann am Cap einmal Halt macht, meine liebe Annah, wird sie daselbst wahrscheinlich bis Mitte August vor Anker liegen, und ich erwarte kaum, sie vor Mitte October auf der Höhe des Caps der Getäuschten Hoffnung erscheinen zu sehen.

– Noch vier endlose Monate! murmelte Frau Zermatt. Welche Geduldsprobe, wenn man daran denkt, daß die, die unserem Herzen so theuer sind, auf dem Meere schwimmen!... Gott halte seine schützende Hand über sie!«

Wenn die mit den häuslichen Arbeiten überhäuften Frauen jetzt keine Stunde verloren, darf man nicht etwa glauben, daß die Männer müßig gegangen wären. Sehr häufig dröhnten die Hammerschläge aus der Schmiede oder hörte man das Schnurren der Drehbank. Wolston, als geschickter Mechaniker, verfertigte unter Mithilfe des älteren Zermatt, zuweilen der Ernsts, nur selten aber der Jacks – der, sobald sich der Himmel nur im mindesten klärte, sofort ins Freie eilte – allerlei nützliche Gegenstände zur Vervollständigung der Versorgung Felsenheims mit allem, was je nothwendig werden oder erwünscht sein konnte.

Sehr eingehend besprochen und zuletzt beschlossen wurde auch die Errichtung der geplanten Kapelle. Die Frage wegen des Platzes für diese gab zu einigen Verhandlungen Anlaß. Die einen wollten sie mit der Vorderseite nach dem Meere gerichtet und auf dem Felsenboden am Ufer, auf halbem Wege zwischen Felsenheim und Falkenhorst erbaut wissen, um dahin von beiden Wohnstätten aus keinen zu weiten Weg zu haben. Die anderen meinten, sie läge da den Stürmen von der Seeseite her zu sehr ausgesetzt und es wäre rathsamer, sie am Schakalbache, unterhalb des Wasserfalles, zu errichten. Frau Zermatt und Frau Wolston behaupteten aber mit Recht, daß diese Stelle zu weit abgelegen sei. So entschied man sich schließlich dahin, sie jenseit des Gemüsegartens und an einem Platze zu erbauen, wo sie durch die felsigen Höhen der Umgebung recht gut geschützt sein mußte.

Wolston bestand übrigens darauf, zu dem Bauwerke festeres und dauerhafteres Material als Holz und Baumstämme zu verwenden. Gestein gab es[171] hier ja mehr als genug; man konnte auch kleinere Felsblöcke vom Ufer benützen, wie man das an den Bauten in Stranddörfern so häufig findet. Den nöthigen Kalk würden Muschelschalen oder die massenhaft vorkommenden Baumkorallen liefern, die sich durch Ausglühen, zur Abscheidung der Kohlensäure, in Kalk verwandeln ließen.

Sobald die Witterung es gestattete, sollte diese Arbeit begonnen werden, und binnen zwei bis drei Monaten konnte sie jedenfalls zur allgemeinen Befriedigung beendigt sein.

In der Mitte des Juli, auf der Höhe der Regenzeit dieser Breite, erreichten die atmosphärischen Störungen eine verdoppelte Heftigkeit Meist war es ganz unmöglich, sich ins Freie zu wagen. Schwere Regenstürme peitschten das Ufer mit einer Gewalt, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Noch schlimmer, wenn kartätschengleich noch ein Hagelsturz dazu kam. Ueber das Meer wälzten sich riesige, überbrechende Wogen, deren Donner von den Aushöhlungen an der Küste widerhallte. Häufig flatterten feuchte Nebelfetzen über das Steilufer hinweg und fielen dann in dichten Tropfen am Fuße der Bäume nieder. Zuweilen kam es auch vor, daß sich unter der Zusammenwirkung des Sturmes und der Fluth eine Art Mascaret (d. i. eine mächtige, manche Flüsse hinauslaufende Woge) bildete, die sich schäumend im Schakalbache bis zum Wasserfalle hinwälzte. Der ältere Zermatt beunruhigte sich nicht wenig wegen der an den Bach grenzenden Felder. Man mußte sogar die Rohrleitung abschließen, die den Bach mit dem Schwanensee verband, da sonst die Umgebung von Waldegg von einer verderblichen Ueberschwemmung bedroht gewesen wäre. Auch die Lage der Pinasse und der Schaluppe im Hintergrunde der Bucht erweckte manche Befürchtung. Sehr häufig mußte man hier nachsehen, ob die Anker noch fest im Grunde saßen, und mußte die Haltetaue verdoppeln, um jedes Anstoßen gegen die Felsen zu verhindern. Hier hatte man übrigens keine Beschädigungen zu beklagen. Bedrohter waren dagegen vorzüglich die Meiereien von Waldegg und des Prospect-Hill wegen ihrer Lage in der Nähe des Ufers, wo sie vom ärgsten Wüthen des Sturmes getroffen wurden.

Als in der Natur einmal etwas mehr Ruhe eingetreten war, machten sich der ältere Zermatt, Jack, Ernst und Wolston sofort auf, einmal bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung vorzudringen.

Ihre Befürchtungen erwiesen sich leider begründet. Die beiden Meiereien hatten schon arg gelitten und machten Ausbesserungen und Verstärkungsarbeiten[172] nöthig, die sofort gar nicht auszuführen waren und deshalb bis zum Ende der schlechten Jahreszeit verschoben wurden.

Die Abende verbrachten die beiden Familien gewöhnlich im Bibliotheksraume. Hier fehlte es bekanntlich nicht an Büchern, die zum Theile noch vom »Landlord« geborgen waren, zum Theile, vorzüglich die neueren Werke, wie Reisebeschreibungen, naturgeschichtliche, zoologische und botanische Bücher, vom Lieutenant Littlestone herrührten und von Ernst schon mehrfach durchstudirt waren. Außerdem gab es noch andere. die Herrn Wolston gehörten, wie Lehrbücher für Mechanik, Meteorologie, Physik und Chemie. Ja es fanden sich sogar Jagderzählungen aus Indien und Afrika, die in Jack ein kaum zu überwindendes Verlangen nach diesen Ländern erweckten.

Während dann draußen der Sturm wüthete, wurde hier laut vorgelesen oder man plauderte einmal englisch und einmal deutsch – zwei Sprachen, die jetzt allen recht geläufig geworden waren, wenn auch zuweilen noch ein Wörterbuch aufgeschlagen werden mußte. Dabei gab es Abende, wo man sich ausschließlich der Sprache Großbritanniens, und andere, wo man sich nur der der deutschen Schweiz, und endlich, wenn auch seltener und mit größerer Schwierigkeit, auch solche, wo man sich der Sprache der französischen Schweiz bediente. Ernst und Annah hatten schon die größten Fortschritte in dieser schönen Sprache gemacht, die sich durch ihre Klarheit, Bestimmtheit und Geschmeidigkeit so vortheilhaft auszeichnet die dem Gedankenfluge des Dichters so willig folgt und sich auch für alle Darstellungen aus dem Gebiete der Wissenschaft und der Künste so vorzüglich eignet. Es war wirklich ein Vergnügen, den jungen Mann und das junge Mädchen französisch sprechen zu hören, wenn man sie auch nicht immer verstand.

Wir erwähnten bereits, daß der Monat Juli in diesem Theile des Indischen Oceans der unangenehmste ist. Ließen die Stürme einmal nach, so traten dafür dichte Nebel ein, die die ganze Insel umhüllten. Ein Schiff, das nur in der Entfernung von wenigen Kabellängen vorübergesegelt wäre, hätte weder von den Höhen im Innern, noch von den Vorbergen am Ufer aus bemerkt werden können.

Die Dunstmassen mußten jedenfalls weit nach Osten hinausreichen, so daß die Befürchtung nahe lag, es könnte sich irgend ein Schiff, wie früher der »Landlord« und der »Dorcas«, auf dem Wasser an der Insel verirren. In Zukunft erwuchs den Colonisten sicherlich die Verpflichtung, die Küsten der Neuen[173] Schweiz durch Leuchtfeuer zu bezeichnen, womit dann eine Landung, wenigstens im Norden, wesentlich erleichtert wurde.

»Warum sollten wir denn keinen Leuchtthurm erbauen? sagte Jack. Mit einem solchen auf dem Cap der Getäuschten Hoffnung und einem zweiten auf dem Cap im Osten würden doch Schiffe bequem in die Rettungsbucht einfahren können.

– Dazu wird auch noch Rath werden, antwortete sein Vater, alles zu seiner Zeit! Zum Glück bedarf der Lieutenant Littlestone keiner Leuchtthürme, unsere Insel wieder zu erkennen, noch sonstiger Feuer, um vor Felsenheim vor Anker zu gehen.

– Wir wären aber, fuhr Jack fort, doch wohl bequem im stande, das Ufer zu beleuchten...

– Er zweifelt entschieden an gar nichts mehr, unser Freund Jack! bemerkte Wolston ironisch.

– Warum sollte ich denn zweifeln, Herr Wolston, zweifeln nach allem, was wir unter Ihrer Anleitung bisher schon ausgeführt haben und noch ausführen können?...

– Da... hören Sie, wie er Ihr Lob singt, lieber Freund? sagte der ältere Zermatt.

– Und ich, nahm Jack wieder das Wort, gedenke dabei auch der Frau Wolston und Annahs.

– Jedenfalls werd' ich, antwortete das junge Mädchen, wo es mir an Kenntnissen fehlt, keinen Fehler aus Mangel an guten Willen begehen...

– Und mit gutem Willen... setzte Ernst ihre Worte fort.

– Erbaut man auch Leuchtthürme von zweihundert Fuß Höhe über dem Meere, fiel Jack ein. Ich rechne auch nicht wenig auf Annah, wenn es einmal zu einer Grundsteinlegung kommt.

– Ich stehe Ihnen jeden Tag zu Diensten, lieber Jack!« versicherte das junge Mädchen lächelnd.

Es scheint hier angezeigt, noch eines Gespräches zu erwähnen, das am Morgen des 25. Juli stattfand.

Das Zermatt'sche Ehepaar befand sich eben in sei nem Zimmer, als Ernst, aber noch »ernster« als sonst und strahlenden Blickes eintrat.

Er wünschte seinem Vater eine Entdeckung mitzutheilen, deren Ausbeutung. seiner Ansicht nach, von größter Wichtigkeit für die Zukunft werden könnte.[174]

Ernst hatte einen unscheinbaren Gegenstand in der Hand, den er, nachdem er ihn nochmals besichtigt hatte, dem älteren Zermatt übergab.

Es war einer der Kiesel, die er in dem Wildbett aufgelesen hatte, als er mit Wolston im Canot den oberen Lauf des Montrose besuchte.

Der ältere Zermatt nahm den Stein, dessen großes Gewicht ihm auffiel. Dann fragte er seinen Sohn, warum er ihm diesen anscheinend so geheimnißvoll gebracht habe.

»Weil es der Mühe lohnt, ihn etwas mehr zu beachten, erklärte Ernst.

– Warum denn?

– Weil dieser Kiesel eine Pepite (d. i. eine Edelmetall enthaltende Quarzart) ist...

– Eine Pepite?« wiederholte der ältere Zermatt erstaunt.

Er trat damit aus Fenster, um den Stein bei besserem Lichte zu betrachten.

»Ich bin meiner Sache gewiß, versicherte Ernst. Ich habe diesen Kiesel untersucht und Theilstücke davon analysirt, und deshalb kann ich behaupten, daß er eine reichliche Menge Gold in rohem Zustande enthält.

– Kannst Du Dich darin nicht täuschen, mein Sohn? fragte der ältere Zermatt.

– Nein, Vater, sicherlich nicht!«

Frau Zermatt hatte dem Zwiegespräch gelauscht, ohne ein Wort dazu zu äußern, ja ohne auch nur die Hand nach der kostbaren Gesteinsprobe auszustrecken, deren Auffindung sie völlig gleichgiltig zu lassen schien.

»Uebrigens hab' ich, fuhr Ernst fort, bei dem Hin- und dem Rückwege am Bette des Montrose sehr viele Steine dieser Art liegen sehen. Es unterliegt also keinem Zweifel, daß goldhaltiges Gestein in jener Gegend der Insel in Menge vorhanden ist.

– Nun, was geht das uns an?« sagte Frau Zermatt.

Der ältere Zermatt empfand recht wohl die Achtlosigkeit, die in der Frage seiner Gattin lag.

»Du hast doch, lieber Ernst, wandte er sich an diesen, noch gegen niemand von Deiner Entdeckung gesprochen?

– Gegen keinen Menschen.

– Das ist mir lieb zu hören! Nicht, daß ich kein Vertrauen zu Deinem Bruder und zu Herrn Wolston hätte... mir scheint aber, man habe es sich wohl zu überlegen, ehe man dieses Geheimniß bekannt werden läßt.[175]

– Was wäre dabei denn zu fürchten, Vater? fragte Ernst.

– Für den Augenblick gar nichts, destomehr aber für die Zukunft der einstigen Colonie! Das Vorkommen goldführenden Landes hier braucht nur bekannt zu werden, die Leute brauchen nur zu erfahren, daß die Neue Schweiz reich an solchen Pepiten ist, und sofort werden Goldsucher massenhaft hierher strömen, in ihrem Gefolge aber auch alle die Uebel, die Zügellosigkeit und die Verbrechen, die die Sucht nach jenem Metalle gebiert. Zwar ist ja anzunehmen, daß das, was Dir, Ernst, nicht entgangen ist, auch anderen nicht entgehen werde, und daß die Fundstätten am Montrose doch einmal entdeckt werden... nun, so möge das nur so spät wie möglich geschehen!... Du hast gut daran gethan, Dein Geheimniß zu bewahren, mein Sohn, und wir werden es ebenso in unserer Brust verschließen...

– Das ist klug und weise gesprochen, mein Lieber, ließ Frau Zermatt sich jetzt vernehmen, und ich kann Deine Worte nur vollständig bekräftigen. Nein, laßt uns nicht davon sprechen, auch wollen wir lieber gar nicht nach der Schlucht des Montrose gehen. Ueberlassen wir alles dem Zufall oder vielmehr Gott, der über die Schätze dieser Welt gebietet und sie austheilt, wie es ihm gefällt!«

Vater, Mutter und Sohn blieben noch kurze Zeit nachdenklich beisammen, waren aber fest entschlossen, jener Entdeckung keine weitere Folge zu geben und die Goldkiesel liegen zu lassen, wo sie einmal lagen. Die unfruchtbare Gegend am Oberlauf des Flusses und bis zum Fuße der Bergkette würde spätere Ansiedler der Insel gewiß nicht gleich anlocken, und damit wurden ohne Zweifel so manche üble Folgen verhindert.

Die schlechte Jahreszeit hielt noch unverändert und wahrscheinlich noch drei volle Wochen an. Der Wiedereintritt schöner Tage schien sich dieses Jahr zu verzögern. Nach vierundzwanzigstündiger Unterbrechung brach der Sturm wieder mit neuer Gewalt los, eine Folge der atmosphärischen Störungen, die offenbar den ganzen Indischen Ocean aufwühlten. So war die Mitte des August herangekommen. Entspricht dieser Monat auch nur dem Februar der nördlichen Erdhälfte, so lassen in ihm doch, zwischen den Wendekreisen und dem Aequator. die Regenfälle und die starken Winde merklich nach und der Himmel reinigt sich von den schweren Dunstmassen.

»Seit zwölf Jahren, bemerkte eines Tages der ältere Zermatt, haben wir ein so langes Anhalten stürmischer Witterung noch nicht erlebt. Ja, auch in der[176] Zeit vom Mai bis zum Juli gab es häufiger Perioden der Ruhe, und vom Anfang des August an sprangen die Westwinde wieder auf...

– Meine liebe Merry, sagte dazu Frau Zermatt, Sie werden von unserer Insel eine recht üble Vorstellung gewinnen.


Jack erlegte einige Dutzend Enten. (S. 186.)
Jack erlegte einige Dutzend Enten. (S. 186.)

– Darüber seien Sie ruhig, Betsie, antwortete Frau Wolston. Sind wir nicht in unserer englischen Heimat an ein volles Halbjahr abscheulicher Witterung gewöhnt?

– Gleichviel, meinte Jack, es ist aber doch bald zum verzweifeln! Einen solchen August in der Neuen Schweiz durchzumachen! Drei Wochen schon sollte[177] ich ja eigentlich zur Jagd ausgezogen sein, und alle Morgen fragen mich meine Hunde, was das bedeuten solle.

– O, wir nähern uns ja dem Ende, tröstete ihn Ernst. Nach den Anzeichen des Thermometers und des Barometers müssen wir sehr bald in die Periode der Gewitter eintreten, mit der ja gewöhnlich die Regenzeit abschließt.

– Sei dem wie ihm wolle, stieß Jack ärgerlich hervor, dieses abscheuliche Wetter hält gar zu lange an. Solche Witterung haben wir Herrn und Frau Wolston nicht versprochen, und ich bin überzeugt, daß auch Annah uns vorwirft, sie getäuscht zu haben...

– O nein, Jack, nein...

– Und daß sie am liebsten von hier wegginge!«

Die Augen des jungen Mädchens gaben darauf die Antwort. Sie verriethen, wie glücklich sie sich bei der herzlichen Gastfreundschaft der Familie Zermatt fühlte. Ihre Hoffnung ging dahin, daß sie, ihre Eltern und sie selbst, sich von dieser niemals trennten.

Wie Ernst vorausgesagt hatte, schloß auch jetzt die Regenzeit mit heftigen Gewittern, die fünf bis sechs Tage anhielten. Der Himmel stand dabei in Flammen und der vom Echo an der Küste verdoppelte Donner krachte, daß man glauben konnte, das Himmelsgewölbe müsse davon bersten.

Am 17. August kündigten sich diese Unwetter durch eine Erhöhung der Luftwärme an; dazu wurde es drückend schwül und im Nordosten ballten sich große bleigraue Wolken zusammen, die eine starke elektrische Spannung in der Atmosphäre verriethen.

Das von seiner Gesteinshülle beschützte Felsenheim spottete des Windes und des Regens. Ebenso waren hier keine Blitzschläge zu fürchten, die im offenen Lande und in Wäldern wegen der das elektrische Fluidum gut leitenden Bäume oft so gefährlich werden. Immerhin unterlagen Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah dem psychischen Eindruck. den solche Gewitter auch dann hervorbringen, wenn man ihnen ungefährdet gegenübersteht; sie ließen sich davon aber wenigstens nicht übermäßig in Angst jagen.

Am Abend des zweitfolgenden Tages tobte ein Unwetter, das seinesgleichen vorher noch nicht gehabt hatte. Alle waren im Bibliotheksraume versammelt und schreckten jetzt plötzlich bei einem trockenen, knatternden Donnerschlage empor, der mit einem langen Rollen in der Luft endigte.

Erst nach einer Minute wurde es draußen wieder stiller.[178]

Da hörte man unerwarteterweise ein anderes Gekrach.

»Was war das? rief Jack.

– Das war offenbar kein Donner, erklärte der ältere Zermatt.

– Nein, sicherlich nicht, bestätigte Wolston, ans Fenster tretend.

– Sollte das ein auf dem Meere abgefeuerter Kanonenschuß gewesen sein?« fragte Ernst.

Alle lauschten klopfenden Herzens. Vielleicht war es doch ein Irrthum... eine akustische Täuschung... der letzte, aus größerer Ferne kommende Widerhall von einem Donnerschlage. Rührte der Schall aber von der Lösung eines Geschützes her, so mußte sich in der Nähe der Insel ein Schiff befinden, das vielleicht vom Sturme verschlagen, vielleicht seinem Untergange nahe war...

Da wiederholte sich der kurze, scharfe Knall. Es war dasselbe Krachen, schien auch aus der gleichen Entfernung zu kommen und diesmal war ihm kein Blitz vorhergegangen.

»Noch einer, sagte Jack, und von diesem bin ich fest überzeugt...

– Ja ja, fiel Wolston ein, daß es ein Kanonenschuß war, was wir gehört haben.«

Sofort eilte Annah der Thüre zu.

»Die »Licorne«! rief sie ganz unwillkürlich; das kann nur die »Licorne« sein.«

Völlig verblüfft, schwiegen alle einige Secunden lang. Die »Licorne« wäre in Sicht der Insel und verlangte Hilfe? Nein... nein! Eher war anzunehmen, daß irgend ein Schiff, vom wüthenden Nordost gepackt, sich verirrt hätte zwischen den Klippen am Cap der Getäuschten Hoffnung, oder am Cap im Osten eingekeilt wäre; daß es aber die Corvette sein könnte, war kaum zu glauben. Diese müßte dann schon vor drei Monaten von Europa abgesegelt sein und ihren Aufenthalt in England bedeutend abgekürzt haben. Nein, nein! Der ältere Zermatt versicherte das mit solcher Bestimmtheit, daß sich alle seiner Anschauung anschlossen: die »Licorne« konnte das unmöglich sein.

Immerhin blieb es recht peinlich, zu denken, daß ein Schiff, nicht weit von der Insel, in Seenoth sei, daß der Sturm es auf die Klippen treibe, wo einst der »Landlord« zertrümmert worden war... daß es vergeblich Hilfe verlange...

Trotz des strömenden Regens begaben sich der ältere Zermatt, Wolston, Jack und Ernst hinaus und bestiegen die kleine Anhöhe hinter Felsenheim.[179]

Die Luft ringsum war aber so getrübt, daß sie auch von dort nach der Seite des Meeres zu nur wenige Toisen weit sehen konnten. Alle vier mußten denn auch schleunigst zurückkehren, ohne auf der Rettungsbucht irgend etwas bemerkt zu haben.

»Was hätten wir übrigens für jenes Schiff thun können? fragte Jack. – Leider gar nichts, antwortete sein Vater.

– Beten wir wenigstens für die Unglücklichen, die in schwerer Gefahr sind, sagte Frau Wolston, beten wir, daß der Allmächtige sie beschützen und retten möge!«

Die drei Frauen knieten am Fenster nieder und die Männer blieben andächtig gebeugt hinter ihnen stehen.

Da sich kein weiterer Geschützdonner vernehmen ließ, mußte man schließen, daß das Schiff entweder mit Mann und Maus untergegangen oder jetzt schon glücklich an der Insel vorübergesegelt sei.

Niemand verließ in dieser Nacht das große, gemeinschaftliche Zimmer, und als es wieder heller wurde und das Unwetter ausgetobt hatte, eilten alle über die Umfriedigung von Felsenheim hinaus.

Da war aber kein Schiff zu sehen, weder auf der Rettungsbucht, noch auf dem Meeresarme zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem im Osten.

Man bemerkte aber auch nichts von einem Fahrzeuge, das auf die »Landlord«-Klippe, drei Lieues von hier, aufgefahren wäre.

»Wir wollen einmal nach der Haifischinsel fahren, schlug Jack vor.

– Ja, Du hast recht, stimmte der ältere Zermatt zu. Von der Höhe der Batterie aus bietet sich eine weitere Aussicht.

– Und nebenbei, fuhr Jack fort, haben wir jetzt oder nie Veranlassung, einige Kanonenschüsse abzugeben. Wer weiß, ob sie nicht gehört und vom offenen Meere her beantwortet werden.«

Eine Schwierigkeit lag freilich darin, nach der Haifischinsel zu gelangen, denn die Bucht mußte noch stark aufgeregt sein. Die Entfernung bis dahin betrug ja aber nur eine Lieue, und mit der Schaluppe konnte man diese Fahrt wohl wagen.

Von schrecklicher Unruhe verzehrt, widersprachen auch Frau Zermatt und Frau Wolston diesem Plane nicht, handelte es sich doch vielleicht um die Rettung eines Schiffes!

Gegen sieben Uhr verließ die Schaluppe den kleinen Landeinschnitt. Der ältere Zermatt, Wolston, Jack und Ernst ruderten aus Leibeskräften, wobei sie[180] die Ebbeströmung noch unterstützte. Ein paar Sturzseen, die sie über das Vordertheil hinwegbekamen, konnten sie nicht zur Umkehr veranlassen.

Glücklich erreichten sie die kleine Insel und sprangen nun sofort aus Land.

Welche Verwüstung bot sich hier aber ihren Blicken! Da und dort lagen vom Sturme entwurzelte Bäume, die Einfriedigung für die Antilopen war umgestürzt, und erschrocken liefen die Thiere überall umher.

Zermatt und seine Begleiter kamen bald nach dem Batteriehügel, und natürlich war es Jack, der als erster auf dem Gipfel erschien.

»Hierher! Kommt herauf!« rief er voller Ungeduld.

Zerniatt, Wolston und Ernst beeilten sich, dem Rufe zu folgen.

Das Schutzdach, worunter die beiden Kanonen standen, war in der Nacht angezündet worden und zeigte nur noch einzelne rauchende Ueberreste. Die ihrer vollen Länge nach gespaltene Flaggenstange lag inmitten eines halb verkohlten Haufens von Gras und Laub. Die Bäume, deren Zweige sich sonst noch über der Batterie kreuzten, waren bis zu den Wurzeln zersplittert und man sah noch die Spuren der Flammen, die ihre oberen Zweige verzehrt hatten.

Die beiden Geschützrohre lagen auf ihren Lafetten. Sie waren zu schwer, als daß sie ein noch so heftiger Windstoß hätte umwerfen können.

Ernst und Jack hatten Schlagröhren mitgebracht zum Ersatze der alten, die jedenfalls unbrauchbar geworden waren, und sie hatten sich auch mit mehreren Kartuschen versehen, um Anwortschüsse geben zu können, wenn von der See her Kanonenschüsse zu hören wären.

Jack stand am ersten Geschütz und entzündete dessen neue Schlagröhre.

Diese brannte bis hinunter ab, ein Schuß ging aber nicht los.

»Die Ladung ist offenbar verdorben, meinte Wolston, und hat nicht mehr explodiren können.

– So wollen wir sie wechseln, sagte der ältere Zermatt. Nimm den Wischer, Jack, und ziehe auch die Kartusche vorsichtig heraus; dann setzen wir eine andere ein.«

Als der Wischer aber in das Rohr eingeführt wurde, gelangte dieser, zur großen Verwunderung Jacks, bis zum Grunde der Seele hinunter. Die am Ausgange der schönen Jahreszeit eingesetzte Kartusche befand sich nicht mehr darin, und bei dem zweiten Geschütze war dasselbe der Fall.

»Die Kanonen sind also abgefeuert worden? rief Wolston erstaunt.

– Abgefeuert? wiederholte der ältere Zermatt.[181]

– Ja... beide, erklärte Jack.

– Doch von wem?

– Von wem? antwortete Ernst nach kurzer Ueberlegung, ei nun, vom Blitz in eigener Person.

– Vom Blitz? fragte der ältere Zermatt.

– Ohne Zweifel, Vater. Bei dem letzten schweren Donner, den wir gestern hörten, hat der Blitz auf den Hügel hier eingeschlagen. Das Schutzdach ist infolge dessen abgebrannt, und nachdem das Feuer die beiden Geschütze erreicht hatte, sind die Schüsse einer nach dem anderen losgegangen.«

Diese Erklärung drängte sich angesichts der verkohlten Trümmer, die auf der Erde umherlagen, ganz von allein auf. Welche Angst und Unruhe hatten aber die Insassen von Felsenheim in der scheinbar endlosen Gewitternacht ausgestanden!

»Da seh' mir einer den Blitz, der zum Artilleristen wird, rief Jack, diesen Jupiter tonans, der sich in suchen mengt, die ihn gar nichts angehen!«

Die Geschütze wurden wieder geladen und die Schaluppe verließ die Haifischinsel, wo der ältere Zermatt sich vornahm, sobald die Witterung es erlaubte, ein neues Schutzdach herzustellen.

In der vergangenen Nacht war also kein Schiff im Gewässer der Insel gewesen, war kein Fahrzeug an den Klippen der Neuen Schweiz gescheitert.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 162-182.
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