Drittes Capitel.
Die britische Corvette »Licorne«. – Die vernommenen Kanonenschüsse. – Ankunft der Pinasse. – Die Familie Zermatt. – Die Familie Wolston. – Trennungspläne. – Verschiedene Tauschgeschäfte. – Der Abschied. – Abfahrt der Corvette.

[32] Die »Licorne«, eine kleine Corvette mit zehn Geschützen, die die britische Flagge führte, befand sich auf einer Art Rundfahrt und war jetzt auf dem Wege von Sydney (Australien) nach dem Cap der Guten Hoffnung. Der Befehlshaber, Lieutenant Littlestone, hatte eine Besatzung von sechzig Mann unter sich. Gewöhnlich nimmt ja ein Kriegsschiff keine Passagiere auf, die »Licorne« hatte aber Erlaubniß erhalten, eine englische Familie an Bord zu nehmen, deren Haupt aus Gesundheitsrücksichten nach Europa zurückkehren mußte. Die Familie bestand aus einem Herrn Wolston, Maschinen-Ingenieur, seiner Gattin, Merry Wolston, und aus seinen zwei Töchtern, Annah und Doll, von denen die eine siebzehn, die andere vierzehn Jahre zählte. Zu ihr gehörte außerdem noch ein Sohn, James Wolfton, der mit seiner Frau und seinem Kinde gegenwärtig in Capstadt wohnte.

Im Juli 1816 hatte die »Licorne« den Hafen von Sydney verlassen und sich, nach einer Fahrt längs der Südküste von Australien, nach den nordöstlichen Theilen des Indischen Oceans gewendet.

Bei dieser Fahrt sollte der Lieutenant Littlestone auf Befehl der Admiralität unter diesen Breiten kreuzen und ebenso an der Westküste Australiens wie auf den benachbarten Inseln nachforschen, ob es noch Ueberlebende von dem »Dorcas« gäbe, der seit dreißig Monaten verschollen war. Wo dieser gescheitert war, wußte niemand, obgleich an dem Unfalle kein Zweifel sein konnte, da der zweite Officier und drei Matrosen des Schiffes – die einzigen von denen, die dessen große Schaluppe besetzt gehabt hatten, aus dem Meere aufgefischt und nach Sydney zurückgebracht worden waren. Was den Kapitän Greenfield, die Matrosen und die Passagiere – darunter die Tochter des Obersten Montrose – betraf, konnte man nach dem Berichte, den der zweite Officier über den Schiffbruch erstattet hatte, kaum noch die Hoffnung hegen, sie wiederzufinden. Die Regierung von Großbritannien hatte aber dennoch weitere Nachforschungen veranlaßt, die sich über den östlichen Theil des Indischen Oceans bis in die Nähe des Meeres von Timor erstrecken sollten. Hier gab es zahlreiche, von Handelsschiffen[32] nur selten angelaufene Inseln, und es empfahl sich, davon alle zu besuchen, die in der Nachbarschaft des Meerestheiles lagen, wo der »Dorcas« jedenfalls gescheitert war.


Es war eine englische Corvette mit zehn Geschützen. (S. 31.)
Es war eine englische Corvette mit zehn Geschützen. (S. 31.)

Infolgedessen hatte die »Licorne« sich nach Umschiffung des Caps Leuwin nach Norden zu gewendet und nach vergeblichem Aufenthalte an einigen Sundainseln den Weg nach dem Cap wieder eingeschlagen. Da wurde sie von heftigen Stürmen überrascht, gegen die sie eine volle Woche, nicht ohne mehrfache Beschädigungen zu erleiden, ankämpfen mußte, und daraufhin war sie genöthigt[33] gewesen, eine geschützte Stelle aufzusuchen, um ihre Havarien auszubessern.

Am 8. October meldeten die Wachen Land im Süden, wahrscheinlich eine Insel, die aber auch auf den neuesten Seekarten noch nicht eingezeichnet war. Der Lieutenant Littlestone ließ auf das unbekannte Land zusteuern und fand auch glücklicherweise eine Zufluchtsstätte in einem Landeinschnitte an dessen östlicher Küste, der nicht nur gegen schlimme Winde Schutz gewährte, sondern auch einen vortrefflichen Ankergrund bot.

Die Mannschaft ging hier sofort ans Werk. Am Strande und am Fuße des felsigen Steinufers wurden einige Zelte aufgeschlagen. Man richtete ein förmliches Lager ein, immer unter Berücksichtigung der Maßnahmen, die die Klugheit erheischte. Dieser Küstenstrich konnte ja von Wilden bewohnt sein oder von solchen heimgesucht werden, und man weiß doch, daß die Eingeborenen im Indischen Ocean sich eines, leider gerechtfertigten, sehr übeln Rufes erfreuen.

Die »Licorne« lag nun hier erst seit zwei Tagen in Sicherheit, als die Aufmerksamkeit des Befehlhabers am Morgen des 10. October durch einen zweimaligen, von Westen herschallenden Kanonendonner erregt wurde.

Diese zweifache Detonation verdiente eine Antwort, und die »Licorne« gab sie durch eine Salve aus drei Geschützen, die in der Batterie an Backbord gelöst wurden.

Der Lieutenant Littlestone hatte nun alles weitere einfach abzuwarten. Sein in Reparatur befindliches Schiff hätte nicht die Anker lichten können, um aus der engen Bucht zu steuern und das im Nordosten sichtbare Cap zu umschiffen. Mindestens bedurfte es noch einiger Tage, ehe es wieder in See stechen konnte. Jedenfalls zweifelte der Befehlshaber indeß nicht daran, daß auch die Schüsse der Corvette vernommen worden wären, da gerade Seewind wehte, und er hielt das demnächstige Erscheinen eines Schiffes in Sicht der Bai für mehr als wahrscheinlich.

Es wurden deshalb mehrere Leute in die Takelage zum Ausguck befohlen. Am Abend hatte sich noch kein Schiff gezeigt. Das Meer blieb im Norden verlassen, ebenso verlassen der Theil des Ufers, der an die Bogenlinie der Bai grenzte. Von der Landung einer Abtheilung seiner Mannschaft und der Aussendung auf Kundschaft hatte der Lieutenant Littlestone abgesehen, da er seine Leute keinem gefährlichen Zusammentreffen aussetzen wollte. Die Umstände verlangten das ja auch so gebieterisch nicht. Sobald die »Licorne« in der Lage[34] wäre, ihren Ankerplatz zu verlassen, sollte sie der Linie des Landes folgen, dessen Lage – 19 Grad 30 Minuten südlicher Breite und 114 Grad 5 Minuten östlicher Länge von Ferro, jener im Atlantischen Ocean zur Gruppe der Canarien gehörigen Insel – mit größter Sorgfalt ermittelt worden war. Es unterlag keinem Zweifel, daß das Land eine Insel sei, denn in diesem Theile des Indischen Oceans giebt es kein Festland.

Drei Tage verstrichen ohne Aenderung der Sachlage. Freilich war ein heftiger Sturm losgebrochen, der Meer und Luft furchtbar aufwühlte, während die »Licorne« in Sicherheit unter dem Schutze der Uferwand lag.

Da ertönten am 13. October mehrere Kanonenschüsse, und zwar von derselben Richtung her wie die früheren.

Auf diese Salve, deren Schüsse durch einen Zeitraum von je zwei Minuten getrennt waren, antwortete die »Licorne« durch sieben Schüsse mit denselben Zwischenräumen. Daraus, daß die neuen Detonationen offenbar nicht aus geringerer Entfernung wie die ersten herkamen, schloß der Commandant, daß das Fahrzeug, von dem sie herrührten, seine Lage nicht verändert haben werde.

An diesem Tage gegen vier Uhr Nachmittags beobachtete der Lieutenant Littlestone, als er sich auf dem Verdeck erging, durch das Fernrohr ein leichtes Boot, das, mit zwei Männern darin, vom Vorgebirge aus zwischen den Klippen hinfuhr. Die Männer, die eine tiefdunkle Hautfarbe hatten, kannten nur Eingeborene von malaiischer oder australischer Rasse sein. Ihr Erscheinen bewies also, daß dieser Theil der Küste bewohnt war. Daraufhin wurden die nöthigen Maßregeln zur Abwehr eines etwaigen Ueberfalles getroffen, der in diesen Gebieten des Indischen Oceans immer zu befürchten war. Inzwischen näherte sich das Canot, eine Art Kajak. Man ließ es herankommen. Als es dann aber nur noch sechs Kabellängen von der Corvette entfernt war, hörte man ziemlich deutlich, daß sich die Männer einer völlig unverständlichen Sprache bedienten.

Der Lieutenant Littlestone und seine Officiere schwenkten ihre Taschentücher und streckten die Arme empor, zum Zeichen, daß sie keine Waffen führten. Der Kajak schien aber nicht geneigt, noch weiter heranzukommen. Schon im nächsten Augenblicke flog er, von den Pagaien kräftig angetrieben, davon und verschwand bald hinter dem Vorgebirge.

Die Nacht war schon angebrochen, als Lieutenant Littlestone sich mit seinen Officieren noch berieth, ob es rathsam sei, die große Schaluppe zur[35] Besichtigung der östlichen Küste auszusenden. Die Sachlage verlangte doch Aufklärung. Die Leute, die heute Morgen die Kanonenschüsse abgegeben hatten, waren doch sicherlich keine Wilden. Dagegen konnte man wohl annehmen, daß ein im Westen der Insel in Seenoth befindliches Schiff Hilfe verlange.

Daraufhin wurde denn beschlossen, am nächsten Tag eine Auskundschaftung in jener Richtung vorzunehmen, und die Schaluppe sollte um neun Uhr Morgens eben niedergelassen werden, als Lieutenant Littlestone dieses Manöver unterbrach.

Dicht vor dem Cap erschien jetzt – nicht ein Kajak oder eine Pirogue, wie sie die Eingeborenen benutzen, sondern – ein leichtes Fahrzeug von neuerer Bauart, eine Pinasse von etwa fünfzehn Tonnen. Sobald sie in die Nähe der »Licorne« gekommen war, hißte sie eine roth und weiße Flagge.

Wie erstaunten da der Lieutenant, seine Officiere und die Mannschaft der Corvette, als sie von der Pinasse ein Boot abstoßen sahen, das am Achter als Friedenszeichen eine weiße Flagge führte und auf die Corvette zusteuerte.

Zwei Männer kamen daraus an Bord der »Licorne« und stellten sich hier vor.

Es waren Schweizer, Johann Zermatt und sein ältester Sohn Fritz, Schiffbrüchige von dem Segler »Landlord«, von dem man seit reichlich zehn Jahren nichts gehört hatte.

Die Engländer geizten nicht mit herzlichen Begrüßungen des Vaters und des Sohnes. Auf ihre an den Lieutenant Littlestone gerichtete Einladung, mit an Bord der Pinasse zu kommen, ging dieser freudig ein.

Es kann wohl nicht auffallen, daß der ältere Zermatt einen gewissen Stolz darein setzte, dem Befehlshaber der »Licorne« erst seine blühend gesunde Lebensgefährtin und dann seine anderen drei Söhne vorzustellen. Jedermann mußte den entschlossenen Ausdruck ihres intelligenten Gesichtes and ihre strotzende Gesundheit bewundern. Es war in der That ein Vergnügen, diese prächtige Familie zu sehen. Darauf wurde auch Jenny dem Lieutenant Littlestone vorgestellt.

»Welches Land ist das aber, das Sie seit mehr als zehn Jahren bewohnen, Herr Zermatt? fragte dieser.

– Wir haben es die Neue Schweiz genannt, antwortete Zermatt, ein Name, der ihm hoffentlich bleiben wird.

– Ist es eine Insel, Herr Commandant? fragte Fritz.

– Ja, eine Insel im Indischen Ocean, die die Karten noch nicht enthalten.[36]

– Wir wußten bis jetzt noch nicht, daß es eine Insel sei, denn aus Besorgniß vor einer gefährlichen Begegnung haben wir diesen Theil der Küste niemals verlassen.

– Daran haben Sie recht gethan, denn wir haben wirklich Eingeborene bemerkt, erwiderte der Lieutenant Littlestone.

– Eingeborene? rief Fritz, der sein Erstaunen nicht verhehlte.

– Gewiß, versicherte der Commandant. Gestern... in einer Art Pirogue, oder richtiger, in einem Kajak.

– Diese Eingeborenen waren niemand anders als mein Bruder und ich, fiel Jack lachend ein. Wir hatten uns Gesicht und Arme geschwärzt, um für Wilde gehalten zu werden.

– Wozu aber diese Verkleidung?

– Weil wir nicht wußten, mit wem wir es zu thun haben könnten, Herr Commandant! Ihr Schiff konnte ja auch ein Seeräuberschiff sein.

– Oho! rief der Lieutenant Littlestone. Ein Schiff Seiner Majestät des Königs Georg des Dritten!...

– Ja, ja, ich bekenne unseren Irrthum, lenkte Fritz ein. Es erschien uns aber dennoch rathsamer, erst noch nach unserer Wohnstätte Felsenheim zurückzukehren, um dann alle zusammen wiederzukommen.

– Ich füge hinzu, fuhr der ältere Zermatt fort, daß wir uns das gleich für den nächsten Morgen vorgenommen hatten. Fritz und Jack hatten bemerkt, daß Ihr Schiff in Reparatur war, und wir nahmen daher an, daß wir es in der kleinen Bucht hier antreffen würden.«

Wie glücklich fühlte sich aber Jenny, als der Lieutenant Littlestone ihr sagte, daß ihm der Name des Obersten Montrose nicht unbekannt sei. Vor der Abfahrt der »Licorne« nach dem Indischen Meere hatten die Zeitungen überdies das Eintreffen des Obersten in Portsmouth und darauf in London gemeldet.

Seit jener Zeit aber, und nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, daß die Passagiere und die Mannschaft des »Dorcas«, mit Ausnahme des in Sydney gelandeten zweiten Officiers und dreier Matrosen, umgekommen wären, wurde der unglückliche Vater eine Beute der Verzweiflung, da er annehmen mußte, daß bei jener Katastrophe auch seine Tochter das Leben eingebüßt hätte. Das konnte für ihn nur ausgeglichen werden durch seine Freude, wenn er vernahm, daß Jenny aus dem Schiffbruche des »Dorcas« gerettet worden war.[37]

Inzwischen wurde die Pinasse zurecht gemacht, um nach der Rettungsbucht heimzukehren. Herr und Frau Zermatt wollten dem Lieutenant Littlestone in ihrem Heim Unterkunft bieten, dieser aber wollte sie wieder wenigstens bis zum Ende des Tages bei sich behalten. Da sie darauf eingingen, die Nacht über hier in der kleinen Bucht zu bleiben, wurden am Fuße der Felsen noch drei Zelte aufgeschlagen, eines für die vier Söhne, das zweite für Herrn und Frau Zermatt und das dritte für Jenny Montrose.

Nun konnte die Geschichte der Familie Zermatt seit deren erstem Betreten der Neuen Schweiz eingehend erzählt werden. Es war ja erklärlich, daß der Commandant und seine Officiere daraufhin den Wunsch äußerten, die Anlagen der kleinen Colonie und die bequemen Wohneinrichtungen von Felsenheim und Falkenhorst kennen zu lernen.

Nach einer vortrefflichen Mahlzeit, die an Bord der »Licorne« bereitet worden war, verabschiedeten sich Zermatt und seine Gattin, deren vier Söhne und Jenny vom Lieutenant Littlestone und begaben sich in ihre Zelte am Lande zur Ruhe.

Als sie allein waren, unterhielt sich der ältere Zermatt noch eine Zeit lang mit seiner Gattin.

»Meine liebe Betsie, begann er, da wäre uns nun Gelegenheit geboten, nach Europa heimzukehren und unsere Landsleute, unsere Freunde wiederzusehen. Wir müssen aber bedenken, daß unsere Lage sich jetzt wesentlich verändert hat. Die Neue Schweiz ist keine unbekannte Insel mehr; andere Schiffe werden bald genug hier eintreffen...

– Was willst Du mit dem allen sagen? fragte Frau Zermatt.

– Nun, wir werden uns entscheiden müssen, ob wir diese Gelegenheit benützen wollen...

– Darüber, lieber Mann, antwortete Betsie, hab' ich schon seit einigen Tagen nachgedacht und bin zu folgendem Ergebnisse gekommen: Warum sollten wir von hier weggehen, wo wir uns so glücklich gefühlt haben? Warum sollten wir versuchen, Verbindungen wieder anzuknüpfen, die die Zeit und unser Fernsein ja völlig zerrissen haben? Wir sind doch allmählich in die Jahre gekommen, wo man sich nach Ruhe und Frieden sehnt und kaum noch Lust hat, weite Reisen zu wagen.

– Ah, mein Herz, rief Zermatt, Betsie umarmend, Du hast in meinem Innern gelesen. Wahrlich, es wäre eine Undankbarkeit gegen die Vorsehung,[38] unsere Neue Schweiz zu verlassen! Es handelt sich hierbei freilich nicht um uns allein... unsere Kinder...

– Unsere Kinder? fiel Betsie ein. O, ich begreife recht wohl, daß sie das Verlangen haben, in ihr Vaterland zurückzukehren, sie sind ja jung, ihnen winkt noch eine Zukunft... und wenn auch ihr Fortgehen uns schwer genug ankommen wird, dürfen wir sie doch wohl nicht zurückhalten.

– Du hast recht, Betsie; hierin stimme ich mit Dir ganz überein.

– Unsere Söhne mögen sich getrost an Bord der »Licorne« einschiffen. Wenn sie fortgehen, werden sie ja auch einmal wiederkommen.

– Wir dürfen indeß auch Jenny nicht vergessen, fuhr Zermatt fort, jetzt, wo wir wissen, daß ihr Vater seit zwei Jahren nach England zurückgekehrt ist, daß er sie seit zwei Jahren beweint! Es ist doch nur natürlich, daß sie zu ihrem Vater heimzukehren wünscht.

– Es wird uns freilich sehr schmerzlich berühren, sie von hier scheiden zu sehen, wo sie so gut wie unsere Tochter geworden ist, antwortete Betsie; Fritz empfindet für sie eine tiefe Zuneigung, die von ihr offenbar erwidert wird. Immerhin haben wir Jenny ihren freien Willen zu lassen!«

Die beiden Gatten plauderten über diese Angelegenheit noch eine Zeit lang weiter. Sie waren sich völlig klar über die Folgen, die die unerwartete Veränderung ihrer Lage mit sich führen konnte, und erst in später Nachtstunde fanden sie infolge ihrer Gemüthserregung eine Stunde unruhigen Schlummers.

Am folgenden Tage setzte die Pinasse, nachdem sie durch die Bai und um das Cap im Osten gesegelt war, den Lieutenant Littlestone, zwei seiner Officiere, die Familie Zermatt und die Familie Wolston an der Mündung des Schakalbaches ans Land.

Der Engländer beinächtigte sich dasselbe Gefühl der Bewunderung und des Erstaunens, wie vor Jahren Jenny Montrose's, als sie zum erstenmale nach Felsenheim kam. Der ältere Zermatt empfing seine Gäste in der Winterwohnung und wollte sie später nach dem »Schloß« Falkenhorst, nach dem Landhause des Prospect-Hill, den Meiereien von Waldegg und Zuckertop und nach der Einsiedelei Eberfurt geleiten.

Der Lieutenant Littlestone und seine Officiere bewunderten rückhaltlos das fröhliche Gedeihen dieses Gelobten Landes, das es der Thatkraft, der Einsicht und der herzlichen Einigkeit einer Familie von Schiffbrüchigen verdankte, die nun schon fast elf Jahre auf dieser menschenleeren Insel weilte. Bei Beendigung[39] des bescheidenen Gastmahles, das ihnen im größten Zimmer von Felsenheim dargeboten worden war, unterließen es die Gäste auch nicht, zu Ehren der Colonisten der Neuen Schweiz zu trinken.

Im Laufe des Tages hatten Wolston, seine Frau und seine Töchter Gelegenheit, mit Herrn und Frau Zermatt näher bekannt zu werden. So erscheint es nicht auffallend, daß gegen Abend vor der Abfahrt Wolston, der seiner Gesundheit wegen recht gut einen mehrwöchigen Aufenthalt auf dem Lande brauchen konnte, sich noch einmal an den älteren Zermatt wendete.

»Herr Zermatt, begann er, darf ich mit vollem Vertrauen und ganz aufrichtig zu Ihnen reden?

– O, natürlich!

– Das Leben, das Sie hier auf der Insel führen, könnte mir ausnehmend gefallen, fuhr Wolston fort. Mir kommt es vor, als befände ich mich in dieser herrlichen Natur gleich besser, und ich würde mich glücklich schätzen, irgendwo in Ihrem Gelobten Lande eine Zeit lang verweilen zu dürfen... selbstverständlich, wenn Sie dagegen nichts einzuwenden haben.

– Nicht das geringste, Herr Wolston, beeilte sich Zermatt zu antworten. Meine Frau and ich werden hoch erfreut sein, Sie in unsere kleine Colonie aufzunehmen, und vielleicht etwas zu Ihrem Besten beitragen zu können. Was übrigens uns beide betrifft, haben wir beschlossen, unsere Tage in der Neuen Schweiz zu beschließen... sie ist uns ja zum zweiten Vaterlande geworden, darum wollen wir sie auch nie mehr verlassen.

– Ein Hurrah der Neuen Schweiz!« riefen die Tischgäste in freudiger Begeisterung.

Dabei leerten sie ihre Gläser mit dem köstlichen Canarienwein, den Frau Zermatt an Stelle des hiesigen Gewächses bei besonderen Gelegenheiten vorzusetzen pflegte.

»Und ein Hoch auch auf die, die auf jeden Fall hier bleiben wollen!« riefen Jack und Ernst dazu.

Fritz hatte kein Wort geäußert und Jenny senkte schweigend den Kopf.

Als die Gäste darauf weggefahren waren, um auf die »Licorne« zurückzukehren, und Fritz sich mit seiner Mutter allein sah, umarmte er diese, doch ohne eine Silbe zu sprechen. Als er sie aber so betrübt sah bei dem Gedanken, daß ihr ältester Sohn sie verlassen könne, rief er, vor ihr niedersinkend:

»Nein, Mutterherz! Eher als sie niemals... Nein, eher gehe ich nicht fort!«
[40]

Nach einer vortrefflichen Mahlzeit, die an Bord... (S. 38)
Nach einer vortrefflichen Mahlzeit, die an Bord... (S. 38)

Auch Jenny, die inzwischen herangetreten war, schluchzte, während sie sich Frau Zermatt in die Arme warf:

»Verzeihung! Verzeihung, wenn ich Ihnen Kummer bereite, ich, die Sie wie die eigene Mutter liebt und verehrt! Fern von hier weilt aber mein armer Vater... darf ich da zaudern?«

Frau Zermatt und Jenny blieben noch beisammen und nachdem sie sich gründlich ausgesprochen hatten, schien sich Betsie mit dem Gedanken an eine Trennung vertraut gemacht zu haben.

Da trat der ältere Zermatt mit Fritz herein, und Jenny wandte sich an den ersteren:

»Mein liebster Vater – es war das erstemal, daß sie ihm diesen Namen gab – segnen auch Sie mich, wie meine zweite Mutter mich gesegnet hat! Lassen Sie uns gehen... Lassen Sie uns nach Europa reisen... Ihre Kinder kehren bestimmt hierher zurück, und fürchten Sie nicht, daß irgend etwas sie jemals von Ihnen scheiden könnte! Der Oberst Montrose ist ein Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, er wird für alles, was seine Tochter Ihnen schuldet, aufkommen!... Fritz muß ihn in England mit aufsuchen! Vertrauen Sie uns einen dem anderen an!... Ihr Sohn wird für mich einstehen, wie ich für ihn!«

Mit Zustimmung des Befehlshabers der »Licorne« kam es nun zu folgender Abmachung: Durch die Ausschiffung der Familie Wolston wurden auf der Corvette mehrere Plätze frei. Fritz, Franz und Jenny sollten diese einnehmen, und auch Doll, die jüngste Tochter Wolston's, die sich zu ihrem Bruder nach Capstadt begeben und mit ihm, seiner Gattin und seinem Kinde, nach der Neuen Schweiz zurückkehren sollte. Ernst und Jack gedachten dagegen bei den Eltern zu bleiben.

Was den Lieutenant Littlestone betraf, war die ihm übertragene Aufgabe ja erledigt, erstens, weil er Jenny Montrose, die einzige Ueberlebende vom »Dorcas«, gefunden hatte, und zweitens, weil diese Insel, die Neue Schweiz, einen vorzüglichen Zufluchtshafen im Indischen Ocean darbot. Da der ältere Zermatt, der sie jetzt, als der erste, der sie betreten hatte, thatsächlich besaß, sie Großbritannien anzubieten wünschte, versprach Lieutenant Littlestone die hierbei nöthigen Schritte zu thun und ihm seiner Zeit die Einwilligung der britischen Regierung zu melden.

Es war hiernach anzunehmen, daß die »Licorne« zum Zwecke der Besitzergreifung hierher zurückkehren werde. Die Corvette sollte dann auch Fritz, Franz[43] und Jenny Montrose wieder mitbringen und in Capstadt James Wolston, dessen Schwester Doll und dessen Frau und Kind an Bord nehmen. Was Fritz betraf, sollte dieser mit Zustimmung seiner Eltern die für seine Verheirathung – eine Ehe, die Oberst Montrose sicherlich mit Freude begrüßen würde – nöthigen Papiere gleich mitnehmen, und man gab sich sogar der Hoffnung hin, daß der Oberst die jungen Ehegatten nach der Neuen Schweiz begleiten werde.

In dieser Weise war also alles besprochen. Immerhin würde es eine schmerzliche, herzbrechende Trennung werden, wenn die Mitglieder der Familie Zermatt sich für eine, doch nicht gar so kurze Zeit trennen mußten. Mit der Rückkehr Fritzens, Franzens, Jennys, ihres Vaters und vielleicht gar einiger Colonisten, die sich diesen zu folgen entschlossen hätten, zog dann das Glück wieder hier ein, ein Glück, das nichts mehr stören sollte und das das weitere Aufblühen der Colonie jedenfalls fördern mußte.

Jetzt wurden sofort die nöthigen Vorbereitungen in Angriff genommen. Noch wenige Tage, und die »Licorne« würde bereit sein, die Einbuchtung der östlichen Küste zu verlassen, die nach ihr getauft worden war. Sofort nach vollendeter Auftakelung sollte die englische Corvette auslaufen und nach dem Cap der Guten Hoffnung segeln.

Jenny wollte natürlich einige suchen, die sie eigenhändig auf dem Rauchenden Felsen angefertigt hatte, mitnehmen oder vielmehr dem Oberst Montrose mitbringen. Jeder Gegenstand erinnerte sie ja an das Leben, das sie in mehr als zweijähriger Verwaistheit so muthig ertragen hatte. Fritz bekümmerte sich auch um diese Gegenstände, die er gleich einem Schatze behüten wollte.

Der ältere Zermatt übergab seinen Söhnen allerlei, was einen Handelswerth hatte und auf den Märkten Englands voraussichtlich verkauft werden konnte, darunter Perlen, die in großer Menge aufgefischt worden waren und einen hohen Werth repräsentirten, Korallen, die man an den Eilanden und längs der Nautilusbai gesammelt hatte, und Vanilleschoten, mit denen mehrere Säcke gefüllt wurden.

Mit dem durch den Verkauf dieser verschiedenen Dinge erlangten Gelde sollte Fritz allerlei einkaufen, was für die Colonie gebraucht würde, einen Vorrath, der auf dem ersten Schiffe verfrachtet werden sollte, das die Colonisten für ihre Rückfahrt gewählt hätten. Diese Waaren bildeten übrigens eine so bedeutende Ladung, daß sie ein Fahrzeug von mehreren hundert Tonnen zu ihrer Ueberführung beanspruchten.[44]

Andererseits schloß Zermatt mit dem Lieutenant Littlestone auch verschiedene Tauschgeschäfte ab. Er verschaffte sich dadurch mehrere Fäßchen Wein und Branntwein, Kleidungsstücke, Wäsche und Schießbedarf, darunter ein Dutzend Tönnchen Pulver nebst Gewehrkugeln, Blei und Geschosse. Konnte die Neue Schweiz auch die gewöhnlichen Bedürfnisse ihrer Bewohner befriedigen, so war es doch räthlich, mit allem wohlversorgt zu sein, was die Benützung der Feuerwaffen sicherte. Das machte sich nicht allein wegen der Jagd nöthig, sondern auch in Hinblick auf die Vertheidigung für den – wenn auch wenig wahrscheinlichen – Fall eines Ueberfalles der Colonisten durch Seeräuber oder durch wilde Eingeborene, wenn es solche in der noch unbekannten Berggegend im südlichen Theile der Insel gab. Gleichzeitig übernahm es der Commandant der »Licorne«, den Angehörigen der früher umgekommenen Passagiere die Werthsachen zuzustellen, die von dem gescheiterten »Landlord« noch geborgen worden waren. Neben baarem Gelde im Betrage von mehreren tausend Piastern befanden sich darunter Halsbänder, Spangen, Ringe, goldene und silberne Uhren, kurz, eine ganze Sammlung kostbarer, wenn auch oft unnützer Dinge. Abgesehen von ihrem Geldwerthe, mußten diese Gegenstände für die Verwandten der Verunglückten doch auch als Andenken von hohem Werthe sein.

Ein Tagebuch, das der ältere Zermatt seit der ersten Zeit seines Aufenthaltes hier sorgsam geführt hatte, sollte Fritz nach England mitnehmen, um der Neuen Schweiz ihren Platz in der geographischen Nomenclatur zu sichern.1

Am Tage vor der Abfahrt waren diese Vorbereitungen beendigt. Alle Stunden, über die er frei verfügen konnte, hatte der Lieutenant Littlestone im angenehmsten Verkehr mit der Familie Zermatt verbracht. Man gab sich hier der sicheren Erwartung hin, daß er vor Ablauf eines Jahres, nach dem Anlaufen des Caplandes und nachdem er in London die Befehle der Admiralität bezüglich der Colonie erhalten hätte, zurückkehren werde, um von dieser officiell im Namen Großbritanniens Besitz zu ergreifen. Mit dem Wiedereintreffen der »Licorne« würde die ganze Familie Zermatt wieder beisammen sein und sich in Zukunft niemals mehr trennen.

Schließlich kam der 19. October heran.

Seit dem Tage vorher hatte die Corvette die »Licorne«-Bucht verlassen und eine Kabellänge von der Haifischinsel entfernt Anker geworfen.[45]

Ein trauriger Tag für das Zermatt'sche Ehepaar und für Ernst und Jack, von denen Fritz, Franz und Jenny am folgenden Morgen scheiden sollten, ebenso wie für Herrn und Frau Wolston, da ja deren Töchterchen Doll auch mit abfuhr. Wer hätte jetzt von all diesen muthigen Herzen eine ihre Kräfte übersteigende Festigkeit fordern können, und wie hätten sie vermocht, ihre Thränen zurückzuhalten?

Der ältere Zermatt bemühte sich zwar, seinen Schmerz zu verhehlen, doch gelang ihm das nur wenig. Betsie und Jenny lagen einander weinend in den Armen. Mit Tagesanbruch entführte die kleine Schaluppe die Abreisenden nach der Haifischinsel. Zermatt und seine Gattin, Ernst, Jack und Herr und Frau Wolston nebst deren älteren Tochter gaben ihnen das Geleit.

Hier auf der kleinen Insel, nahe der Einfahrt zur Rettungsbucht wurde zum letztenmale Abschied genommen, während die Schaluppe das gesammte Gepäck nach der Corvette beförderte. Alle preßten einander lang und innig in die Arme. Schriftlich in Verbindung zu bleiben, davon konnte keine Rede sein, denn zwischen England und der Neuen Schweiz war kein Briefverkehr möglich. So sprachen alle nur von dem ersehnten Wiedersehen, von der möglichst schnellen Heimkehr und von der Wiederaufnahme des gemeinschaftlichen Lebens. Dann nahm das große Boot der »Licorne« Jenny Montrose, Doll Wolston, sowie Fritz und Franz auf und brachte sie an Bord des Kriegsschiffes.

Ein halbe Stunde später lichtete dieses die Anker und steuerte bei recht günstigem Nordostwind auf die hohe See hinaus, nachdem es mit drei Kanonenschüssen die Flagge der Neuen Schweiz salutirt hatte.

Diesen drei Schüssen antworteten die jetzt von Ernst und Jack bedienten Geschütze der Haifischinsel. Nach einer weiteren Stunde waren auch die obersten Segel der »Licorne« hinter den äußersten Felsen des Caps der Getäuschten Hoffnung verschwunden.[46]

Fußnoten

1 Dieses Tagebuch erschien später unter dem Titel »Der Schweizer Robinson«.


Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 47.
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