Siebenzehntes Capitel.
Eine Schaluppe in Windstille. – Seit acht Tagen ausgesetzt. – Was der Kapitän Gould und der Obersteuermann John Block sich sagen. – Eine lichte Stelle in den Dunstmassen im Süden. – Land!... Land!

[256] Es war Nacht... tiefdunkle Nacht und der Himmel kaum vom Wasser zu unterscheiden. Aus den tiefliegenden, schweren, zerfetzten Wolken zuckte zuweilen ein greller Blitz, dem ein dumpfes Donnerrollen folgte, als wäre der Luftraum ungeeignet, einen Ton schärfer wiederzugeben. In diesen seltenen Fällen erhellte sich für einen Augenblick der düstere und immer öde und leere Horizont. Keine Woge schäumte auf dem weiten Meere und nichts war zu bemerken, als das regelmäßige und eintönige Auf- und Abschwellen der Dünung mit kleinen Wellenfurchen, die dann und wann aufflimmerten. Kein Lufthauch zog über die unendliche Wasserwüste dahin, nicht einmal der schwüle Athem eines Gewitters. Im Luftmeere hatte sich aber so viel elektrisches Fluidum angesammelt, daß es sich in phosphorescirenden Ausströmungen entlud und das Takelwerk des Fahrzeuges mit den bläulichen Zungen des St. Elmsfeuers bekrönte. Obwohl die Sonne schon seit vier bis fünf Stunden untergegangen war, hielt sich die verzehrende Hitze des Tages doch noch immer auf ihrer Höhe.

Mit verhaltener Stimme plauderten zwei Männer auf dem Hintertheile einer großen, halb, bis an den Fuß des Mastes, gedeckten Schaluppe, deren Klüver- und Focksegel bei dem eintönigen Schlingern klatschend zusammenschlugen.

Einer der Männer, der das Steuer unter einem Arme hielt, suchte den heftigen Gierschlag von einem Bord zum anderen möglichst zu mäßigen. Es war ein untersetzter, kräftiger Seemann von etwa vierzig Jahren mit einem Körper von Eisen, in dem weder Anstrengungen noch Entbehrung, vor allem auch eine Entmuthigung nie die Oberhand gewannen. Dieser Bootsmann, ein Engländer, nannte sich Block – John Block.

Der andere, weit jüngere Mann – der kaum achtzehn Sommer zählen mochte – schien nicht zur Kategorie der Theerjacken zu gehören.[256]

Auf dem Boden der Schaluppe, unter dem Halbdeck oder den Bänken lag, unfähig die Ruder zu führen, eine Anzahl menschlicher Wesen. Darunter befand sich ein Kind von fünf Jahren, ein armes, kleines Geschöpf, das schluchzend weinte und das seine Mutter durch Zureden und wiederholt durch einen Kuß zu beruhigen sachte.

Nach vorn auf dem Verdecke vor dem Maste, nahe dem Steg des Klüvers, überließen sich zwei regungslos und stumm, Hand in Hand dasitzende Personen den traurigsten Gedanken, und so tief war die Dunkelheit, daß sie einander[257] nur beim Aufleuchten der Blitze zu erkennen vermochten.


Für einen Augenblick erhellte sich der öde und leere Horizont. (S. 256.)
Für einen Augenblick erhellte sich der öde und leere Horizont. (S. 256.)

Vom Boden des Fahrzeuges erhob sich dann und wann ein Kopf, der aber sofort wieder zurücksank.

Eben jetzt sagte der Obersteuermann zu dem neben ihm sitzenden jungen Manne:

»Nein, nein; ich habe mir den Horizont beim Sonnenuntergang genau angesehen... da war kein Land in Sicht, kein Segel auf dem Meere. Was ich aber gestern Abend nicht wahrnehmen konnte, das zeigt sich vielleicht heute mit Tagesanbruch.

– Ja, Obersteuermann, wir müssen nun sicherlich binnen höchstens achtundvierzig Stunden ein Land angelaufen haben, sonst ist keiner von uns mehr am Leben!

– Freilich... freilich... 's wird bald die höchste Zeit, daß ein Land auftaucht, erklärte John Block. Die Continente und die Inseln sind ja nur dazu geschaffen, tüchtigen Leuten Zuflucht zu bieten... na, und schließlich trifft man doch allemal eines oder das andere an.

– Vorausgesetzt, daß der Wind uns zu Hilfe kommt, Obersteuermann!

– Der ist ja überhaupt nur dazu erfunden, meinte John Block. Heute hat er unglücklicherweise anderswo zu thun... im Atlantischen oder Stillen Ocean, denn hier bei uns hat er nicht genug geweht, nur meine Müttze aufzublasen! Ja, ja, ein hübscher Sturm, der uns nach einer Küste triebe, wäre freilich angenehmer.

– Nach einer Küste triebe oder uns verschlänge, Block...

– Davon reden wir nicht... nein, nein! Das wäre ja die allerschlimmste Art, der Sache ein Ende zu machen...

– Wer kann das wissen, Obersteuermann?...«

Einige Minuten wechselten die Männer kein weiteres Wort. Man hörte nichts als ein schwaches Anklatschen des Wassers gegen die Seitenwände des Fahrzeuges.

»Und unser Kapitän?... begann darauf der jüngere wieder.

– Harry Gould, der brave Mann... mit ihm geht's leider nicht gut, antwortete John Block. Die Schurken haben ihm gar zu arg mitgespielt. Wenn er nur die schlimme Kopfwunde nicht hätte, die ihm so manchen Schmerzensruf auspreßt. Herr des Himmels, wenn ich bedenke, daß es ein Officier war, dem er das größte Vertrauen schenkte, und der doch die unseligen Burschen aufgehetzt hatte! Wahrlich, wenn jener Schurke, der Borupt, nicht eines schönen[258] Morgens oder am Nachmittage, meinetwegen auch bei Sonnenuntergang, am Ende einer Raa baumelt...

– Der Elende!... Der Judas! rief der junge Mann, dessen Hand sich vor Entrüstung zur Faust ballte. Doch der arme Harry Gould... Sie haben ihn doch wohl am letzten Abend verbunden, Block?

– Gewiß, und als ich ihn unter dem Verdeck bequem gelagert hatte, konnte er, als ein frischer kalter Umschlag auf seinem Kopfe lag, auch einige Worte, freilich nur mit ganz schwacher Stimme, zu mir sprechen.... »Danke, Block, ich danke,« sagte er, als ob es nöthig wäre, daß er sich mir gegenüber in Danksagungen erschöpfte!... »Und das Land?... Das Land?« fragte er weiter. – »Beruhigen Sie sich darüber, Kapitän,« hab. ich ihm geantwortet, »ich versichere Ihnen, daß es irgendwo liegt, vielleicht gar nicht weit von hier!« Da hat er mich noch einmal angesehen, und dann fielen ihm die Augen wieder zu.«

Vor sich hin murmelte der Seemann weiter:

»Das Land, das Land!... O, Borupt und seine Helfershelfer wußten recht gut, was sie thaten! Die ganze Zeit über, wo sie uns im Raume unten eingesperrt hielten. haben sie den Curs gewechselt... haben sich von unserem Fahrwege um ein paar hundert Lieues entfernt, ehe sie uns in dieser Schaluppe aussetzten... hier in einem Meerestheile, den wohl kaum jemals ein Schiff berührt!«

Der junge Mann hatte sich inzwischen erhoben und horchte, über Backbord hingebeugt, aufmerksam hinaus.

»Sie haben nichts gehört, Block? fragte er.

– Nichts... gar nichts, erklärte der Obersteuermann, die Dünung läuft ja auch so still, als läge eine Oelschicht auf dem Wasser!«

Ohne ein Wort zu erwidern, nahm der junge Mann, die Arme über der Brust gekreuzt, seinen früheren Platz wieder ein.

Gleichzeitig schleppte sich einer der Bootsinsassen nach einer Bank und rief mit dem Ausdrucke der Verzweiflung:

»Ach, wäre unsere Schaluppe doch von einem Wogenberge verschlungen worden und es uns erspart geblieben, alle Schrecken des Hungers zu kosten! Morgen geht unser letzter Proviant zu Ende... dann bleibt uns nichts... nichts mehr...

– Morgen... das ist erst morgen, Herr Wolston, erwiderte der Obersteuermann. Wäre die Schaluppe gekenntert, so gäb's für uns kein morgen mehr. Da wir ein solches aber noch vor uns haben...[259]

– Schön, Block, das war gut gesprochen, fiel sein junger Nachbar ein. Man darf niemals verzweifeln, James! Welche Gefahren uns auch drohen mögen, unsere Tage gehören dem allgütigen Gott, der schon schicken wird, was er für recht hält. Seine Hand lenkt ja alles, was auf Erden geschieht, und wir dürfen nicht sagen, daß er sie von uns zurückgezogen habe!

– Ja, ja, flüsterte James, den Kopf senkend, man kann sich nur nicht immer beherrsthen!«

In diesem Augenblicke trat ein anderer Passagier, ein Mann von etwa dreißig Jahren – der auf dem äußersten Vordertheile des Fahrzeuges gesessen hatte – an John Block heran.

»Obersteuermann, begann er, unser unglücklicher, vom Fieber verzehrter Kapitän kann die Schaluppe schon seit acht Tagen nicht mehr führen und Sie sind deshalb an seine Stelle getreten. Unser Heil liegt in Ihrer Hand. Hegen sie noch eine Spur von Hoffnung?

– Das will ich meinen, erklärte John Block. Ja, sicherlich, sag' ich Ihnen! Ich hoffe, daß diese verwünschte Windstille bald aufhört und daß eine gute Brise uns wohlbehalten nach einem Hafen treibt...

– Nach einem Hafen? wiederholte der Passagier, der mit dem Blicke die Finsterniß ringsum zu durchdringen suchte.

– Nun, zum Henker, polterte John Block, irgendwo muß doch einer sein! Herr Gott, wenn ich der Schöpfer wäre, sollten Sie bald ein halbes Dutzend uns passende Inseln pricken können!

– So viel verlangen wir von ihm gar nicht, Steuermann, antwortete der Passagier, der bei diesem Gedanken ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken konnte.

– Nun ja doch, lenkte John Block ein, wenn er unsere Schaluppe nur nach einer von denen führt, die schon vorhanden sind, das genügte ja, und es wäre nicht nöthig, daß er erst Inseln zu unserem Besten erschüfe, obwohl er damit in dieser Gegend thatsächlich sehr sparsam gewesen ist!

– Ja, wo befinden wir uns denn jetzt?

– Das kann ich, selbst auf einige hundert Lieues genau, leider auch nicht sagen, gestand John Block. Acht Tage, acht endlos lange Tage haben die elenden Kerle uns im unteren Schiffsraume eingeschlossen, so daß wir den Curs nicht beobachten, nicht sehen konnten, ob sie nach Norden oder Süden zu steuerten. Jedenfalls mußte das Schiff tüchtig treiben, denn geschlingert und gestampft hat es die ganze Zeit über gerade genug![260]

– Ich glaub' es wohl, John Block, daß wir damals eine große Strecke fortgekommen sind, doch in welcher Richtung?

– Das kann ich eben nicht sagen, versicherte der Steuermann. Sind wir nach der Seite des großen Oceans hin getrieben worden, statt nach dem Indischen Meere hinauf zu fahren? Am Tage der Meuterei befanden wir uns noch Madagascar gegenüber. Da der Wind damals aber stetig aus Westen blies, wer weiß da, ob das Schiff nicht mehrere hundert Lieues weit, vielleicht nach den Inseln Sanct Paul und Amsterdam zu, gelaufen ist?

– Dorthin, wo gerade Wilde von der schlimmsten Sorte hausen, schaltete James Wolston ein. Uebrigens waren die, die uns ausgesetzt haben, auch um kein Haar besser!

– Auf jeden Fall, erklärte John Block, wird der elende Borupt den Curs der »Flag« gewechselt und sich nach Meerestheilen gewendet haben, wo er einer Bestrafung leichter entgehen könnte, um dort mit seinen Spießgesellen Seeräuberei zu treiben. Ich meine also, wir waren von unserem Reisewege schon weit weg, als die Schaluppe ausgesetzt wurde. Wenn sich in der Gegend hier nur eine Insel, wäre es auch nur eine unbewohnte, vorfindet, dann ist uns schon geholfen! Jagd und Fischfang würden uns die Nahrung liefern, irgend eine Höhle uns Unterkommen bieten. Warum sollten wir aus einer solchen Insel nicht dasselbe machen, was die Schiffbrüchigen des »Landlord« aus der Neuen Schweiz gemacht haben? Mit tüchtigen Armen, mit Umsicht und Entschlossenheit sollten wir doch...

– Gewiß, fiel James Wolston ein. Jene hatten aber den gescheiterten »Landlord« in der Nähe, dessen Ladung sie bergen konnten, wir dagegen haben von dem Frachtgute der »Flag« nichts... gar nichts!«

Das Gespräch erlitt jetzt eine Unterbrechung, da eine vom Schmerz halberstickte Stimme hörbar wurde.

»Zu trinken!... Zu trinken! lauteten die kaum verständlichen Worte.

– Das ist der Kapitän, rief einer der Insassen. Das Fieber verzehrt ihn! Zum Glück fehlt es uns nicht an Wasser, und ich will gleich...

– Das ist meine Sache, fiel der Obersteuermann ein. Nehme einer von Euch das Steuer. Ich weiß, wo die Wassertonne steht, schon einige Tropfen werden für unseren Kapitän eine Erquickung sein.«

John Block erhob sich von der Bank am Achter und schritt dem Vordertheile der Schaluppe zu.[261]

Die drei anderen Passagiere blieben stillschweigend zurück und erwarteten die Rückkehr des Mannes.

Schon nach zwei bis drei Minuten nahm John Block seinen Platz wieder ein.

»Nun, wie steht's? fragte einer der Drei.

– Es war mir bereits jemand zuvorgekommen, antwortete John Block. Einer unserer guten Engel kniete schon beim Kapitän, träufelte ihm etwas frisches Wasser auf die Lippen und kühlte seine schweißbedeckte Stirne. Ob Herr Gould bei Bewußtsein war oder nicht, das kann ich nicht entscheiden. Er schien mir mehr nur zu phantasieren. »Das Land muß doch da draußen liegen!« stieß er wiederholt mühsam hervor, und dabei schwankte seine Hand hin und her wie der Wimpel eines Großmastes, der nach allen Seiten flattert. Ich antwortete ihm: »Ja wohl, Herr Kapitän, ja wohl! Land ist nicht mehr fern. Wir werden es bald anlaufen, ich fühlte es... dort im Norden!« Da ist übrigens auch etwas Wahres daran, wir alten Theerjacken, wir fühlen so etwas vorher. Dann setzte ich noch hinzu: »Fürchten Sie nichts, Herr Kapitän, es geht alles gut! Wir haben eine solide Schaluppe und ich werde sie schon auf dem richtigen Wege halten. Hier in der Umgegend müssen so viele Inseln sein, daß uns nur die Auswahl schwer fallen wird. Wir werden aber schon eine finden, die uns paßt!« Er verstand mich auch, der arme Mann, das bin ich überzeugt, denn als ich die Bordlaterne näher an sein Gesicht hielt, sah ich ihn lächeln, freilich recht sterbenstraurig lächeln. Auch den guten Engel blickte er wehmüthig an. Dann schlossen sich seine Augen und er verfiel gleich wieder in Schlummer. Ich habe mich vielleicht einer starken Lüge schuldig gemacht, als ich vom Lande sprach, als ob es schon in Sicht wäre. Hab' ich damit ein Unrecht begangen?

– Nein, John Block, erwiderte der jüngste der drei Passagiere, das sind Nothlügen, die der Himmel verzeiht.«

Die Unterhaltung endete hiermit, und die Stille ringsum wurde nicht weiter gestört, als durch das Klatschen der Segel am Maste, wenn die Schaluppe sich von dem einen Bord nach dem anderen neigte. Die meisten von denen, die sie trug, und die von Müdigkeit erschöpft, von Entbehrungen geschwächt waren, vergaßen in bleischwerem Schlafe die drohenden Gefahren der Zukunft.

Von einer Zukunft konnte man freilich kaum sprechen, da diese vielleicht auf wenige Tage zusammenschmolz. Hatten die Unglücklichen noch einigen Vorrath, ihren Durst zu löschen, so wußten sie doch schon morgen nicht mehr, womit sie[262] ihren Hunger stillen sollten. Von den wenigen Pfunden Pökelfleisch, die bei der Aussetzung der Schaluppe noch in diese geworfen worden waren, war nichts mehr vorhanden. Die Passagiere waren – elf Personen! – nur noch auf einen Sack Schiffszwieback angewiesen. Wie sollten sie aber vorwärts kommen, wenn die Windstille anhielt?... Seit achtundvierzig Stunden war kein Lufthauch durch die erstickende Atmosphäre gestrichen, nicht einmal einer der vereinzelten Windstöße, die fast den letzten Seufzern eines Sterbenden gleichen. Hier drohte also binnen kurzer Frist der Tod durch Hunger!

Zu jener Zeit gab es noch keine Dampfschiffahrt. Es war daher nur zu unwahrscheinlich, daß auch ein Fahrzeug in diesem Meerestheile auftauchte und daß die Schaluppe wegen Mangel an Wind in Sicht einer Festlandsküste oder einer Insel kommen könnte.

Hier galt es in der That, ein festes Vertrauen auf Gott zu haben, um nicht der Verzweiflung zu verfallen, oder sich der unerschütterlichen Philosophie des Steuermanns zu erfreuen, der die Dinge immer nur von der besten Seite ansah. Auch jetzt hätte man ihn wiederholt für sich murmeln hören können:

»Ich weiß es ja, sprach er leise für sich, der Augenblick wird kommen, wo der letzte Zwieback verzehrt ist, so lange man aber noch einen Magen hat, darf man sich nicht allzu sehr beklagen, wenn man auch nichts hineinzustecken hat! Ja, wenn man keinen Magen und doch etwas hätte, einen solchen damit zu füllen, das wäre eine schlimme Verlegenheit!«

Während John Block am Steuer blieb, hatten die anderen Insassen ihren Platz auf den Bänken wieder eingenommen; sie sprachen aber kein Wort. Das Wimmern des Kindes, die ihm unbewußten Klagen des Kapitäns unterbrachen allein die unheimliche Stille.

So verstrichen zwei Stunden. Die Schaluppe war kaum um eine Kabellänge weiter gekommen und bewegte sich nur mit dem Auf- und Abschwellen der Dünung. Diese aber bleibt immer auf derselben Stelle. Mehrere Holzstückchen, die am Abend vorher über Bord geworfen worden waren, schwammen noch immer in der Nähe umher, und das Segel hatte sich nicht ein einzigesmal gebläht, die Schaluppe davon wegzuführen.

Unter diesen Umständen war es eigentlich unnöthig, am Steuer, das doch keine Wirkung haben konnte, auszuharren. Der Obersteuermann hatte seinen Posten aber nicht verlassen wollen. Die Ruderpinne unter dem Arme, versuchte er wenigstens, die Gierschläge zu mildern, die die Schaluppe immer von Backbord[263] nach Steuerbord warfen, um seinen Gefährten gar so arge Stöße zu ersparen.


 »Blicken Sie da hinunter, nach Osten hin,« sagte John Block. (S. 267.)
»Blicken Sie da hinunter, nach Osten hin,« sagte John Block. (S. 267.)

Es mochte gegen drei Uhr Morgens sein, als John Block einen leichten Hauch an seine Wangen wehen fühlte, obwohl diese bei seinem langen Seeleben nicht gerade zart geblieben waren.

»Sollte der Wind aufwachen?« murmelte er, sich erhebend.

Nachdem er sich nach Süden zu gewendet hatte, streckte er den mit Speichel befeuchteten Zeigefinger hinaus.


Einer der ersten, die an Bord kamen, war James Wolston. (S. 271.)
Einer der ersten, die an Bord kamen, war James Wolston. (S. 271.)

Kein Zweifel, er empfand infolge der Verdunstung eine gewisse Kühle, und gleichzeitig hörte er aus der Ferne das Plätschern von Wellen.

Da wendete er sich an einen der Passagiere, der auf einer der Bänke in der Mitte neben einer Frauengestalt saß.

»Herr Fritz!« rief er halblaut.

Dieser erhob den Kopf und neigte sich etwas nach ihm hin.

»Was wünschen Sie, Steuermann? fragte er leise.

– Blicken Sie da hinunter, nach Osten hin, sagte John Block.

– Was sehen Sie denn da draußen?

– Täusche ich mich nicht, so entsteht dort am Horizonte ein lichterer Streifen...«

Thatsächlich breitete sich an jener Seite des Horizontes eine weniger dunkle Linie aus. Die Grenze zwischen Himmel und Wasser war deutlich zu erkennen. Es sah aus, als spaltete sich an jener Stelle die Dunsthülle, und vielleicht brach durch sie, wenn sie sich erweiterte, ein frischerer Luftzug herein.

»Das bedeutet Wind!« versicherte der Obersteuermann.

Immerhin blieb es ja nicht ausgeschlossen, daß die Dünste nur vor dem ersten Morgenscheine zeitweilig auseinander gewichen wären.

»Ist das nicht blos der Tag, der dort herauszieht? fragte einer der Passagiere.

– Möglicherweise der Tag, der freilich recht frühe käme, antwortete John Block. möglicherweise indeß auch die Brise. Ich habe schon so etwas davon an meinem Barte verspürt... da seht, die einzelnen Haare zittern ja noch. Natürlich weiß ich, daß es sich um keine Brise handelt, vor der man die Bramsegel einziehen müßte, doch aber um mehr Wind, als seit achtundvierzig Stunden geweht hat. Und dann, Herr Fritz, spitzen Sie nur die Ohren und lauschen, Sie werden wohl auch hören, was ich schon zu hören glaubte...

– Sie haben reckt, bestätigte der Angeredete, nachdem er sich über das Schandeck hinausgebeugt hatte, das ist die Brise...

– Und wir sind zu ihrem Empfange bereit, rief der Steuermann. Das Focksegel ist gehißt; wir brauchen nur die Schote etwas anzuziehen, um keinen Wind zu verlieren.

– Doch wohin wird er uns treiben?

– Wohin er will, antwortete der Steuermann, ich verlange von ihm weiter nichts, als daß er uns aus dieser verwünschten Gegend wegführt!«[267]

Wiederum vergingen zwanzig Minuten. Der Luftzug, der vorher kaum fühlbar war, wurde bald etwas stärker. Am Hintertheile schlugen kleine Wellen schon hörbar an. Die Schaluppe machte einige ausgiebigere Bewegungen, die nicht von der langsamen, mehr abschwellenden Dünung herrührten. Einzelne Falten des Segels weiteten sich etwas aus, schlossen sich dann und öffneten sich auch wieder und die Schote schlug gelegentlich gegen ihre Klampe. Der Wind war freilich noch immer nicht stark genug, das grobe Gewebe des Fock- und des Klüversegels aufzublähen. Man mußte sich vorläufig damit begnügen, die Schaluppe mittelst eines Riemens in der gleichen Richtung zu halten. Eine Viertelstunde später ließ sie aber schon ein leichtes Kielwasser hinter sich.

Jetzt bemerkte einer der auf dem Vordertheile liegenden Passagiere, der sich erhoben hatte, die Lichtung, die sich am Himmelsrand im Osten etwas mehr erweiterte. Von Bank zu Bank kletternd, kam er zu dem Steuermann.

»Deutet das auf eine Brise? fragte er.

– Ja, gewiß, versicherte John Block. Ich glaube, daß wir sie bald haben, und festhalten werden wir sie, wie einen Vogel in der Hand, daß sie uns nicht entschlüpft!«

Wirklich begann jetzt der Wind von jener Oeffnung der Wolkendecke her zu wehen und gleichzeitig brach dort der erste Schein des Tages deutlicher hindurch. Von Südosten bis Südwesten, ja fast über drei Vierteln des Himmelsgewölbes und auch oben im Zenith ballten sich aber noch dichte Wolkenmassen zusammen. Die Sehweite vom Boote aus beschränkte sich auf wenige Kabellängen, darüber hinaus wäre noch kein Schiff zu erkennen gewesen.

Da die Brise auffrischte, mußte die Schote angezogen und das Focksegel, dessen Brisse zu lose hing, besser gehißt und um einige Kompaßstriche gewendet werden, um dem Klüversegel den Wind nicht abzufangen.

»Wir haben ihn... wir haben ihn!« rief der Obersteuermann freudig, als die etwas über Steuerbord liegende Schaluppe mit dem Bug ein wenig in die ersten Wellen einschnitt.

Nach und nach vergrößerte sich die helle Stelle mehr nach dem Zenith zu. Der Himmelsgrund färbte sich mit röthlichen Tönen. Daraus war zu schließen, daß der Wind sich eine Zeit lang in der gleichen Richtung halten, und daß damit in diesem Theile des Oceans die Periode der Windstille abgeschlossen sein werde.

Jetzt wuchs auch die Hoffnung, nach einem mehr oder weniger nahen Lande zu kommen oder einem Schiffe zu begegnen, das, nachdem es ebenfalls[268] mehrere Tage still gelegen hatte, nun imstande gewesen war, seine Fahrt fortzusetzen.

Gegen fünf Uhr verbrämte sich die Wolkenöffnung mit einem Kranz sehr lebhaft gefärbten lichten Dunstes. Das war der Tag, der mit der den niedrigen Breiten der intertropischen Zonen eigenen Schnelligkeit herauszog. Bald strahlte ein purpurfarbener Schein fächerförmig vom Horizonte empor. Der Rand der durch die Refraction scheinbar schon höher schwebenden Sonnenscheibe berührte die jetzt scharfe Kreislinie zwischen Himmel und Wasser. Fast sofort hefteten sich die Strahlenbündel an die kleinen Wolken, die im Zenith hingen, so daß sie in allen Abstufungen des Roth erglühten. Nur von den im Norden lagernden dichten Dunstmassen wurden sie aufgehalten und konnten diese nicht durchdringen. Das nach rückwärts schon sehr erweiterte Gesichtsfeld blieb nach vorn zu noch immer recht beschränkt. Die Schaluppe ließ jetzt einen wirbelnden Kielwasserstreifen hinter sich, dessen Weiß von dem sonst grünlichen Wasser auffallend abstach.

In diesem Augenblick trat, in ihrem Horizontaldurchmesser stark vergrößert, die Sonne vollständig hervor. Kein Dunst verschleierte ihren Glanz, der den Augen ganz unerträglich wurde. Ihr wendeten sich auch die Blicke nicht zu, wohl aber der fast entgegengesetzten Seite. Die Passagiere bemühten sich nur, den Norden im Auge zu behalten, den Norden, dem die Brise sie zutrieb. Was die Dunstwand in dieser Richtung verhüllte, darüber wollten sie sich vor allem unterrichten, nenn nur die Sonne Kraft genug hatte, den Schleier davor zu lüften.

Endlich, kurz vor halb sieben Uhr, kletterte einer der Passagiere behende bis zur Segelstenge hinauf, gerade als die Sonnenstrahlen auch den Himmel im Norden zuerst beleuchteten.

Da rief eine laute Stimme jubelnd:

»Land!... Land im voraus!«[269]

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 256-265,267-270.
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