Fünfundzwanzigstes Capitel.
Die zweite Grotte. – Getäuschte Hoffnung. – Fritzens Kerze. – Durch die Felswand. – Mehrmalige Rast. – Das obere Plateau. – Nichts im Süden, im Osten und im Westen. – Im Augenblick des Abstieges.

[362] Frau Wolston brauchte einige Zeit, sich von der erlittenen schrecklichen Seelenqual zu erholen. Bob war ihr indeß wiedergegeben, und für die Leiden einer Mutter giebt es ja kein besseres Heilmittel, als die Liebkosungen ihres Kindes.

Was hier überhaupt vorgegangen war, ist jetzt wohl leicht zu errathen. Beim Spielen mit dem Albatros war Bob diesem nach dem Hintergrunde der Grotte nachgelaufen. Doch der Vogel hatte sich in das enge Loch gezwängt und Bob war ihm nachgefolgt. Am Ende des kurzen unterirdischen Ganges lag eine[362] finstere Aushöhlung, aus der sich der Kleine nicht hatte wieder herausfinden können. Zuerst hatte er jedenfalls gerufen, doch ohne gehört zu werden. dann hatte er das Bewußtsein verloren, und wer konnte wissen, was aus ihm geworden wäre, wenn Fritz nicht, rein durch einen glücklichen Zufall, den Schrei des Albatrosses vernommen hätte.

»Na, begann der Obersteuermann, jetzt, wo Bob wieder in den Armen der Mama liegt, jetzt ist ja alles wieder gut; obendrein haben wir durch ihn noch eine zweite Grotte entdeckt. Freilich wissen wir damit nichts anzufangen. Die erste genügt uns ja, und es verlangt wohl keinen, aus dieser wegzuziehen.

– Mindestens, fiel der Kapitän Gould ein, möcht' ich aber wissen, ob sie sich etwa weiterhin erstreckt.

– Bis zur anderen Seite des Steilufers, Herr Kapitän?...

– Das wäre doch möglich, Block.

– Ja freilich, gestand der Obersteuermann. Doch angenommen, sie reichte durch die ganze Felsmasse hindurch, was würden wir jenseit dieser finden? Sand, Felsen, Buchten, Vorgebirge, von fruchtbarem Boden und Pflanzen aber nicht so viel, wie in meinen Hut hineinginge.

– Das mag wohl richtig sein, meinte Fritz. Immerhin dürfen wir nicht unterlassen, zu sehen...

– Werden's sehen, Herr Fritz, werden alles sehen, und, wie man sagt, das Ansehen kostet ja nichts!«

Diese Besichtigung konnte indeß nichtsdestoweniger die wichtigsten Folgen haben, sie mußte also ohne Zögern vorgenommen werden, was denn auch sofort ausgeführt wurde.

Der Kapitän, Fritz und Franz begaben sich nach dem Hintergrunde der Grotte zurück, und mit einigen dicken Kerzen in der Hand folgte der Obersteuermann ihnen nach Um das Hindurchkommen zu erleichtern, erweiterten die ersteren die noch etwas enge Oeffnung und den Gang, indem sie einige, da hineingestürzte Steine herausholten.

Es bedurfte jedoch über eine Viertelstunde, ehe die Oeffnung hinreichend groß war. Uebrigens hatte weder der Kapitän Gould, noch einer der anderen seit der Landung an dieser Insel an Leibesumfang zugenommen. Drei Monate einer immerhin dürftigen Lebensführung und einseitigen Ernährung waren dazu auch nicht geeignet, außer wenn einer von der Natur besonders zum Embonpoint neigt, wie der Obersteuermann, der, seit er von der »Flag« weg war, doch um[363] einige Pfund zugenommen hatte. Als alle hindurchgekrochen waren, wurden die Lichter angebrannt, deren Schein nun eine Untersuchung der zweiten Höhle ermöglichte.

Diese erwies sich bedeutend tiefer als die erste, zwar weniger breit, dagegen wohl hundert Fuß lang. Eigentlich bildete sie nur eine Art natürlichen Stollens von zehn bis zwölf Fuß Höhe und gleicher Breite. Vielleicht hingen noch andere Hohlräume mit ihr zusammen und bildeten im Innern der Felsmasse ein Labyrinth mit Gängen nach verschiedenen Richtungen. In diesem Falle konnte ja, wie der Kapitän Gould es sich gedacht hatte, recht wohl ein solcher Gang, wenn auch nicht nach dem Plateau, so doch nach der anderen Seite des Steilufers des westlichen Vorberges oder des Hügels an der Ostseite führen.

Kapitän Gould kam noch einmal auf diese Möglichkeit zu reden.

»Ja, das kann ja richtig sein, meinte John Block, und wenn es uns von außen her nicht gelungen ist, das Plateau zu erreichen, so gelingt es vielleicht von innen her.«

Nach etwa hundert Schritten durch den Gang, der sich mehr und mehr verengerte, erreichten die drei Männer eine Felswand, vor der sie Halt machen mußten.

John Block leuchtete daran von unten bis nach oben überall umher, entdeckte dabei aber nur einige ganz enge Spalten, worin kaum eine Hand Platz hatte. Hier schwand also jede Hoffnung, weiter durch die Steinmasse vorzudringen.

Die Seitenwände des Ganges zeigten in ihrer ganzen Länge nirgends eine Oeffnung. Die zweite Aushöhlung hinter der ersten Grotte... das blieb vorläufig die einzige Entdeckung, die der Zwischenfall mit Bob zur Folge hatte.

»Auf diesem Wege, äußerte Harry Gould, werden wir also nicht über das Steilufer hinauskommen...

– Und auch nicht hinauf!« setzte der Obersteuermann hinzu.

Als man sich hierüber klar war, blieb nichts weiter übrig, als umzukehren.

Empfand man es immerhin als eine Täuschung, im Berginnern keinen wirklichen Durchgang entdeckt zu haben, so hatte doch auch vorher niemand ernstlich daran geglaubt.

Und dennoch schien es dem Kapitän Gould, John Block und Fritz, als sie zurückgekehrt waren, so, als ob sie jetzt fester als je an diesen Strand gekettet wären.[364]

Im Laufe der folgenden Tage zeigte das bis dahin sehr schöne Wetter deutlich Neigung umzuschlagen. Der Himmel bedeckte sich mit anfänglich leichten, bald aber dichter werdenden Wolken. Diesmal aber trieb sie eine nördliche Brise über das obere Plateau hin, eine Brise, die am Abend des 22. schnell an Stärke zunahm.

Bei dieser Windrichtung war für die Schildkrötenbucht nichts zu fürchten. Unter dem Schutze der Uferhöhe war sie dem Wogenschlage nicht so ausgesetzt, wie bei dem schrecklichen Sturm, der die Schaluppe zerstört hatte. Das Meer blieb längs des unteren eigentlichen Ufers ruhig, da es der Kraft des tollen Windes erst eine gute halbe Lieue draußen ausgesetzt war; es war also nichts zu fürchten, selbst wenn jetzt ein Orkan losbrechen sollte.

In der Nacht vom 22. bis zum 23. tobte ein sehr schweres Gewitter. Gegen ein Uhr Morgens wurden alle durch einen Donnerschlag erweckt, der stärker war, als ein Kanonenschuß, den man dicht am Eingange der Grotte abgefeuert hätte.

Fritz, Franz und der Obersteuermann sprangen aus ihren Nischen hervor und stürzten nach dem Ausgange.

»Hier hat es ganz in der Nähe eingeschlagen, sagte Franz.

– Jedenfalls oben am Rande,« antwortete John Block, der einige Schritte weit hinaustrat.

Suzan und Doll, die sich immer ängstlich beklommen fühlten bei den Gewittern, die ja nervöse Personen so peinlich erregen, waren Jenny vor die Grotte hinaus gefolgt.

»Nun, wie steht's? fragte Doll,

– Es ist keinerlei Gefahr, meine liebe Doll, antwortete Franz. Geht nur wieder hinein und macht Augen und Ohren hübsch fest zu.«

Jenny war eben an ihren Gatten herangetreten.

»Das riecht hier aber nach Rauch, Fritz, sagte sie.

– Kein Wunder! Es ist Feuer... da draußen... rief der Obersteuermann

– Wo denn? fragte der Kapitän Gould.

– Der Tanghaufen am Fuße des Steilufers brennt!«

In der That hatte der Blitz den Haufen trockener Pflanzen entzündet, und in kürzester Zeit verbreitete sich der Brand auf die Schicht von Seegras, die am Fuße der Bergmasse abgelagert war. Das Ganze brannte wie Stroh, knisterte im Winde und wirbelte in züngelnden und umherhüpfenden Flammen empor, die weithin einen scharfen, beißenden Rauch verbreiteten.[365]

Zum Glück lagerte nichts von dem gefährlichen Materiale vor dem Eingange der Grotte, so daß das Feuer diese nicht erreichen konnte.

»Da... da gehen unsere Wintervorräthe in Rauch und Flammen auf! rief John Block.

– Ist denn gar nichts davon zu retten? sagte Fritz.

– Nein, leider nicht das geringste,« antwortete der Kapitän Gould.

Das Feuer verbreitete sich mit so rasender Schnelligkeit, daß ihm überhaupt nicht Einhalt zu thun und nur etwas von dem einzigen Brennmaterial der Schiffbrüchigen zu bergen gewesen wäre.

Das Meer lieferte zwar unablässig neues, Tang und Seegras wurden ja fast täglich ausgeworfen, doch wie langer Zeit bedurfte es, eine so große Menge wie die frühere anzusammeln! Die Fluth spülte davon, je zweimal in vierundzwanzig Stunden, ja stets nur einige Armvoll ans Land. Was jetzt auf dem Strande lagerte, war das Werk mehrerer Jahre; wer konnte aber voraussagen, ob die Wellen in den wenigen Wochen bis zum Eintritt der schlechten Jahreszeit genug für den Bedarf einer Ueberwinterung auswerfen würden?

In weniger als einer Viertelstunde hatte sich die Feuerlinie über den ganzen Hintergrund des Vorlandes ausgedehnt, und außer einigen kleinen Seegrashaufen längs des Vorberges war nichts mehr übrig. Dieser neue Schicksalsschlag verschlimmerte die ohnehin beunruhigende Lage nicht wenig.

»Nein, Sapperment, so geht es nicht weiter!«

Im Munde des sonst so zuversichtlichen Obersteuermanns hatten diese Worte eine um so schwerer wiegende Bedeutung.

Die Mauern dieses Kerkers barsten darum aber doch nicht, um die Gefangenen entschlüpfen zu lassen.

Am nächsten Tage, am 23. Januar, herrschte, wenn auch nicht mehr gewitterhaftes, so doch recht unruhiges Wetter, und noch immer fegte ein scharfer Nordwind über das obere Plateau hinweg.

Zunächst galt es nun, sich zu überzeugen, ob wenigstens die dürren Ablagerungen am Vorberge vom Feuer verschont geblieben wären. Das war wenigstens theilweise der Fall. John Block, Fritz, Franz und James gingen deshalb sofort daran, so viel davon herbeizutragen, daß der Heizstoff, selbst ohne den täglichen Auswurf des Meeres zu rechnen, für eine Woche ausreichte.

So lange freilich der Nordwind anhielt, mußten die schwimmenden Pflanzenmassen nach dem Meere hinausgetrieben werden.[366]

Bei Südwind waren davon jedenfalls größere Mengen zu gewinnen.

Immerhin ermahnte der Kapitän Gould, angesichts der späteren Zeit keine vernünftige Vorsicht außeracht zu lassen.

»Ja ja, Sie haben recht, Herr Kapitän, stimmte John Block ein, wir könnten, was uns von Tang übrig geblieben ist, in Hinblick auf den Winter wohl unter Schutz bringen.

– Da ließe sich ja. fügte Fritz hinzu. als Lagerplatz recht gut die zweite Grotte benützen, die wir erst gestern entdeckt haben.«

Das erschien sehr rathsam, und gleich am Vormittage desselben Tages wollte sich Fritz noch einmal in diese hineinbegeben, um ihre inneren Raumverhältnisse eingehender zu besichtigen. Mit einer Kerze ausgerüstet, kroch er durch die enge Oeffnung, die die beiden Grotten in Verbindung setzte. Die zweite konnte ja doch einen Ausgang nach der anderen Seite der Felswand haben.

Da fühlte Fritz in dem Augenblicke, wo er das Ende des langen Ganges erreichte, einen frischen Luftzug und vernahm auch, als er aufhorchte, ein ununterbrochenes Pfeifen.

»Der Wind, murmelte er, das ist der Wind!«

Jetzt trat er noch näher, an die Wand heran, und über diese mit der Hand hinstreichend, entdeckte er einige Sprünge im Gestein.

»Der Wind, wiederholte er, das ist der Wind. Er dringt hier hindurch, weil er von Norden her weht. Irgendwo muß also, nach der Seite oder nach dem Kamme des Steilufers zu, doch ein Durchgang vorhanden sein. Von dieser Seite also bestände eine Verbindung nach dem nördlichen Abhange.«

Da, als Fritz längs der Wand hinleuchtete, erlosch plötzlich die Kerze, die ein schärferer Windhauch, der durch einen Sprung eindrang, ausgeblasen hatte.

Das war für Fritz genug des Hinweises; seine Ueberzeugung stand nun fest: drang man durch diese Steinwand, so war ein Ausgang ins Freie gewonnen.

Sich nach der Höhle zurückzutasten, wo ihn alle erwarteten, diesen seine Entdeckung mitzutheilen, sie mit sich zu nehmen, um den Beweis zu liefern, daß er sich nicht getäuscht hätte, das war das Werk weniger Minuten.

Fritz, hinter ihm der Kapitän Gould, dann John Block, Franz und James begaben sich aus der ersten Höhle in die zweite, bei deren Beleuchtung durch mehrere Kerzen jetzt aber die Vorsicht gebraucht wurde, sie nicht zu sehr der Wand im Hintergrunde zu nähern.

Fritz hatte sich nicht getäuscht: durch die Wand strich ein kühlerer Luftzug.[367]

Der Obersteuermann senkte nun das Licht nach dem Erdboden, und siehe da, der Gang war hier nur durch Steingeröll verschlossen, das jedenfalls nach und nach von der Hauptmasse losgebröckelt war.

»Die Thür, rief er, da ist die Thür! Und es bedarf nicht einmal eines Schlüssels. sie zu öffnen!... O, Herr Kapitän, Sie hatten doch uns gegenüber recht!

– Ans Werk... aus Werk!« begnügte sich Harry Gould zu antworten.

Der Durchgang war ohne Schwierigkeit von den Steinen zu befreien. Von Hand zu Hand reichte man sie einander hin; es waren freilich ziemlich viele, denn der Geröllhaufen hatte fünf bis sechs Fuß Höbe. Mit dem Fortschreiten der Arbeit wurde der Luftstrom immer lebhafter. Unzweifelhaft war eine Aushöhlung, die in die Bergmasse von der anderen Seite hereinreichte, vorhanden.

In einer Viertelstunde war der Durchgang genügend freigelegt.

Fritz drang zuerst hinein und stieg, die anderen hinter ihm, einen steilen, von schwachem Tageslicht erhellten Stollen zwölf bis vierzehn Fuß hoch hinaus.

Ein lothrechter Schacht, den die Männer hier vermuthet hatten, fand sich nirgends. Sie gelangten endlich zwischen zwei sehr hohe, glatte Felsmauern, über denen der Himmel sichtbar war, und die eine fünf bis sechs Fuß breite, gewundene Schlucht bildeten. Längs dieser Schlucht war es, wo der Wind sich fing, der im Hintergrunde des Ganges durch die Spalten der Steinwand eindrang.

Das Steilufer war also in seiner ganzen Dicke gespalten; doch wohin lief dieser Spalt aus?

Um das zu erfahren, mußte man schon bis zu seinem Ende hingehen, wenn das überhaupt möglich war.

Es bedarf wohl kaum der Schilderung des Eindruckes, den diese Entdeckung hervorrief; fühlten sich doch alle in der Lage von Gefangenen, vor denen sich die Thür des bisherigen Kerkers öffnete.

Da es erst acht Uhr Morgens war, fehlte es nicht an Zeit zur weiteren Auskundschaftung, auch entstand gar nicht die Frage, einen Einzelnen, ob Fritz oder den Obersteuermann, damit zu beauftragen. Alle wollten sie weiter vordringen, ohne einen Augenblick zu verlieren.

»Wir wollen aber wenigstens einige Nahrungsmittel mitnehmen, bemerkte Jenny, da sich unsere Abwesenheit verlängern könnte.

– Und übrigens wissen wir ja gar nicht, wohin wir gehen, sagte Franz.[368]

– Wohin?... Hinaus!... In die Freiheit!« erwiderte der Obersteuermann.

Mit diesen wenigen Worten gab er den Empfindungen. die alle beherrschten, den treffendsten Ausdruck.


Der Weg verlief ziemlich steil aufwärts... (S. 373.)
Der Weg verlief ziemlich steil aufwärts... (S. 373.)

Der Kapitän Gould bestand indeß darauf, erst vorher zu frühstücken und für die Möglichkeit eines längeren Ausbleibens gleich für mehrere Tage Proviant mitzunehmen.

Das Frühstück wurde bald verzehrt. Jeder führte gleich doppelte Bissen zum Munde, und keiner sprach ein Wort, nur um schneller essen zu können. Harry Gould und seine Gefährten verlangte es, nach viermonatlichem Aufenthalt an dieser Bucht. doch dringend zu erfahren. ob ihre Lage hier sich jetzt bessern oder vielleicht gänzlich verändern sollte.

Zur Rückkehr war es immer noch Zeit, wenn das obere Plateau sich ebenso unwirthlich wie das Vorland erweisen, wenn es sich nicht zu einer mehr dauernden Niederlassung eignen sollte und wenn auch von seinem höchsten Punkte aus kein Land in der Nähe zu erblicken wäre. Ueberzeugten sich die Ausgesetzten von der »Flag«, daß sie hier auf einem Eiland oder einer Insel weilten, so wollten sie nach ihrer Grotte zurückkehren und sich so gut wie möglich für eine Ueberwinterung einrichten.

Bevor der Weg durch die Schlucht mit ihrem ganz unbekannten Ausgange angetreten wurde, hätte es ja rathsamer erscheinen können, vielleicht Harry Gould, Fritz und den Obersteuermann vorauszuschicken, damit diese sich überzeugten, ob sie überhaupt einen passirbaren Ausgang nach dem Plateau oder nach einer Flanke des Steilufers hätte. Das hätte aber niemand zugegeben... alle wollten an dem Unternehmen theil haben. Jenny, Doll und Suzan Wolston waren vorzüglich dafür eingenommen, und da kein Hinderniß vorlag, zusammen zu gehen, wurde darüber kein weiteres Wort verloren.

Nach eingenommenem Frühstück beluden sich die Männer mit einigen Speisevorräthen. Alle begaben sich, sogar der Albatros. der neben Jenny hertrabte, aus der ersten Grotte durch die Oeffnung nach dem dahinter liegenden Gang.

Die spaltartige Schlucht erreichten Fritz und Franz als die ersten; nach ihnen kamen Jenny, Doll und Suzan mit dem kleinen Bob an der Hand.

Der Kapitän Gould und James folgten diesen, und John Block bildete den Schluß des Zuges.

In ihrem ersten Theile war die Schlucht so enge, daß alle einzeln hintereinander marschiren mußten; verbreiterte sie sich später, so wollten sie zu zweien[371] oder dreien gehen. Thatsächlich wanderten sie ja nur gleichsam im Grunde eines Risses des Bergstockes, der zwischen zwei lothrechten, acht- bis neunhundert Fuß hohen Wänden hin verlief.

Nach etwa hundert Schritten auf gerader Strecke zeigte der Boden eine deutliche Neigung, so daß man schnell vorwärts kam. Freilich verlängerte sich dadurch der Gesammtweg, denn wenn er auf dem Plateau ausmündete, mußte an der etwa achtzig Toisen betragende Höhenunterschied zwischen diesem und dem Vorlande erst überwunden werden. Der Weg wurde auch durch viele Krümmungen noch weiter verlängert. Das Ganze machte den Eindruck eines Labyrinths, das sich in schroffen und launischen Windungen durch die Bergmasse hinzog. Da es aber an Licht von obenher niemals fehlte, glaubte Harry Gould beurtheilen zu können, daß die Hauptrichtung der Schlucht von Süden nach Norden verlief. Die Seitenwände traten nach und nach weiter auseinander, was das Fortkommen des kleinen Trupps erleichterte.

Gegen zehn Uhr mußte einmal zur Erholung Halt gemacht werden. Man hatte eine geräumige, halbrunde Stelle erreicht, über der ein größeres Stück des Himmels sichtbar war.

Franz schätzte die Höhenlage dieser Stelle nur auf etwa zweihundert Fuß über der Meeresfläche.

»Wenn das richtig ist, sagte er, würden wir zum Aufstieg fünf bis sechs Stunden brauchen.

– O, dann wär' es ja noch heller Tag, wenn wir oben ankommen, bemerkte Fritz, und wir hätten nöthigenfalls sogar noch Zeit, vor der Nacht zurückzukehren.

– Sie haben ganz recht, Fritz, sagte Harry Gould, wissen wir denn aber, ob die Schlucht sich nicht durch zahlreiche Umwege verlängert?

– Und ob sie überhaupt nach dem Steilufer hinausführt? setzte Franz hinzu.

– Ob wir nun nach dem Gipfel oder nach der Seite der Felsmauer kommen, ließ sich der Obersteuermann vernehmen, nehmen wir die Dinge, wie sie liegen. Gelangen wir nach oben... nun gut, kommen wir tiefer unten heraus... auch gut, es kommt ja darauf nicht so viel an!«

Das war ja richtig, und doch, welche Enttäuschung, welche Entmuthigung mußte es zur Folge haben, wenn dieser Weg durch ein unüberwindliches Hinderniß geschlossen war und also keinen Ausgang ins Freie bot.

Nach halbstündiger Rast brach die kleine Gesellschaft wieder auf. Die auch weiterhin in Windungen verlaufende Schlucht, die zehn bis zwölf Fuß Breite[372] hatte, zeigte einen sandigen, zuweilen mit Steinen besäten Boden, doch keine Spur von Pflanzenwuchs. Das ließ darauf schließen. daß auch das Oberland unfruchtbar sein müsse, denn sonst hätte doch ein, vom Regen hereingespültes Samenkorn, hätte irgend ein Keim hier doch Wurzel geschlagen; davon zeigte sich aber nichts, nicht einmal ein Büschel von Flechten oder Moosen.

»Liebe Jenny, begann Fritz nach Beendigung des einfachen Mahles, ich ersuche Dich, mit Frau Wolston und Doll hier zurückzubleiben, Franz wird Euch gern Gesellschaft leisten. Der Kapitän Gould, John Block und ich, wir werden versuchen, die Höhe des Steilufers zu erreichen. Verirren können wir uns ja unmöglich. Dann treffen wir Euch hier an dieser Stelle wieder an und Ihr habt Euch eine vielleicht nutzlose Anstrengung erspart«

Jenny bat aber, unterstützt von Suzan und Doll, ihren Gatten so inständig, sie mitzunehmen, daß Fritz nachgeben mußte, obwohl Harry Gould seinem ersten Vorschlage beigestimmt hatte.

Um drei Uhr wurde der Weg wieder fortgesetzt, gleich von Anfang an aber zeigte sich, daß dieser je länger je mehr immer größere Schwierigkeiten bot. Er verlief ziemlich steil aufwärts, und dazu machte der oft mit Geröll bedeckte Boden, auf dem bei jedem Schritte einzelne Steine ins Rollen kamen, den Aufstieg höchst mühsam, so daß Harry Gould und Fritz nur mit äußerster Vorsicht dahinschritten. Die Schlucht hatte sich jetzt übrigens zu einer Art Hohlweg verbreitert, dessen Böschung noch um zwei- bis dreihundert Fuß aufstieg. Wiederholt mußte einer der Wanderer dem anderen helfen und diesen an den Armen emporziehen. Alles deutete indeß darauf. hin, daß das Plateau zu erreichen sein werde. Der Albatros breitete die mächtigen Schwingen aus und schwebte leicht in die Höhe, als wolle er einladen, ihm zu folgen. Ach, daß man ihn in seinem Fluge nicht begleiten konnte!

Nach unerhörten Anstrengungen befanden sich gegen fünf Uhr alle glücklich auf der Uferhöhe.

Von hier aus war aber nach Süden, Osten und Westen hin nichts zu sehen, als das unendliche Meer!

Nach Norden dagegen zeigte das Plateau eine Ausdehnung, die nicht abzuschätzen war, weil dessen Grenze verdeckt lag. Deshalb ließ sich nicht beurtheilen, ob es auch dort mit einer steilen, nach dem Meere zu gewendeten Wand ausliefe, und ob man bis zu seinem Rande vordringen müsse, um den Meereshorizont sehen zu können.[373]

Wie enttäuschend wirkte dieses Bild auf die Armen, die hier ein fruchtbares, grünendes, bewaldetes Land zu finden gehofft hatten! Ueberall dieselbe trostlose Unfruchtbarkeit wie an der Schildkrötenbucht, die, wenn auch ebenso unfruchtbar, doch minder traurig aussah, da sie hier und da mit Moos bewachsene Stellen aufwies und an ihrem Rande wenigstens einige Seepflanzen vorkamen. Nach Sonnenauf- und -untergang zu spähte man vergeblich nach einem Festlande oder einer Insel... alles deutete hier auf ein vereinzelt liegendes Eiland hin.

Daß das Meer im Norden nicht sichtbar war, lag an der mehrere Lieues betragenden Ausdehnung des Plateaus. Diese Strecke mußte jedenfalls noch überwunden werden, um sich über die Größe und Gestaltung des ganzen Eilandes zu vergewissern.

Gegenüber diesem Schwinden ihrer letzten Hoffnung sprach jetzt keiner auch nur ein einziges Wort. Da die schreckliche Einöde nicht die geringsten Hilfsquellen versprach, blieb kaum etwas anderes übrig, als wieder nach dem Hohlweg umzukehren, den bis her bewohnten Strand mit der Grotte aufzusuchen und sich in dieser für die langen Wintermonate so gut wie möglich in der Erwartung einzurichten, daß doch einmal noch Hilfe von außen kommen werde.

Es war jetzt um die fünfte Stunde, und da es bald zu dunkeln drohte, war keine Zeit mehr zu verlieren. Ging der Abstieg voraussichtlich auch schneller von statten, als der Aufstieg, so mußte der Weg in der Finsterniß jedenfalls mehr Hindernisse bieten.

Da nun der nördliche Theil des Plateaus noch zu besichtigen war, entstand die Frage, ob das wohl geschehen solle, so lange es heute noch Tag war, oder sollte man sich gar zu einer Uebernachtung zwischen den auf dem Plateau verstreut liegenden Felsblöcken entschließen? Das zweite erschien nicht rathsam, denn wo wäre hier bei einem Umschlag des Wetters Schutz zu finden gewesen? Die Vorsicht verlangte eine sofortige Rückkehr.

Da trat Fritz mit einem vermittelnden Vorschlage hervor.

»Meine liebste Jenny, sagte er, Franz mag Dich mit Doll, Frau Wolston und dem Kleinen nach der Grotte zurückgeleiten. Ihr könnt die Nacht hier nicht zubringen. Der Kapitän Gould, John Block und ich, wir werden allein zurückbleiben und morgen, sobald es hell wird, die Besichtigung vollenden.«

Jenny antwortete zunächst nicht, während Suzan und Doll einen fragenden Blick auf sie richteten.[374]

– Fritz hat mit seinem Vorschlage völlig recht, erklärte Franz, und was hätten wir übrigens zu erwarten, wenn wir alle hier verweilten?«

Jenny schwieg noch immer. Ihre Blicke schweiften über das endlose Meer an drei Vierteln des Horizontes. Vielleicht spähte sie nach einem Schiffe aus, dessen Lichter draußen auf dem Meere aufleuchten könnten...

Schon versank die Sonne schnell hinter den Wolken, die der Wind von Norden her zusammentrieb, und es bedurfte mindestens eines zweistündigen Marsches, inmitten tiefer Finsterniß, die Schildkrötenbucht zu erreichen.

Noch einmal nahm Fritz das Wort.

»Jenny ich bitte Dich... gehe!... Der morgende Tag wird für unsere Nachforschung ausreichen. Gegen Abend sind wir jedenfalls wieder bei Euch. Haben wir dann Ursache, hierher zurückzukehren, so wird es ohne Zögern geschehen.«

Jenny blickte zum letztenmale nach allen Seiten hinaus. Schon hatten sich alle zum Aufbrechen bereit erhoben. Der getreue Albatros flatterte von Felsblock zu Felsblock, während andere Vögel, wie Möven, Seeschwalben und Trauerenten, in den Vertiefungen des Steilufers kreischend ihr Nest aufsuchten.

Die junge Frau erkannte, daß sie dem Rathe ihres Gatten folgen müsse.

»Wir wollen gehen, erklärte sie, wenn auch ungern.

– Also vorwärts!« mahnte Franz.

Da sprang plötzlich der Steuermann mit einem Satz auf, krümmte die Hand wie zu einem Schalltrichter zusammen und horchte gespannt nach Norden hinaus.

Stark gedämpft durch eine weite Entfernung war ein kurzer Donner zu hören.

»Hurrah... ein Kanonenschuß!« rief John Block.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 362-369,371-375.
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