Drittes Capitel.
Ragged-School (die Lumpenschule).

[27] »Nummer 13, was hat der?...

– Das Fieber.

– Und Nummer 9?...

– Den Keuchhusten.

– Nummer 17?...

– Auch den Keuchhusten.

– Und Nummer 23?...

– Ich glaube, der wird den Scharlach bekommen.«

Alle diese Antworten schrieb O'Bodkins in ein musterhaft geführtes Register auf die offenen Conten der erwähnten Nummern ein. Hier war je eine Columne für den Namen der Krankheit, für die Stunde des Arztbesuches, für die verordneten Arzneien und für die Art der Verabreichung derselben angelegt, wenn die Erkrankten ins Hospital übergeführt waren. Da standen die Namen in gothischer Schrift, die Nummern in arabischen Ziffern, die Medicamente in Rundschrift und die Vorschriften in englischem Ductus – alles eingefaßt mit zierlichen Klammern in blauer Tinte und an gewissen Stellen schwarz doppelt unterstrichen, ein Muster von Kalligraphie und Uebersichtlichkeit.[27]

»Einige von diesen Kindern sind ernstlich erkrankt, bemerkte noch der Arzt. Achten Sie darauf, daß sie sich bei der Ueberführung nicht erkälten.

– Gewiß, ich werde schon dafür Sorge tragen, antwortete O'Bodkins. gleichgiltig. Sind sie nicht mehr hier, so bin ich ihrer ledig. Wenn dann nur meine Buchführung in Ordnung ist....

– Na, und wenn sie ihrer Krankheit erliegen, unterbrach ihn der Doctor, schon nach Hut und Stock fassend, ist der Verlust, mein' ich, auch nicht so arg....

– Gewiß nicht, stimmte O'Bodkins zu. Ich schreibe sie dann in die Rubrik der Verstorbenen ein und ihr Conto wird abgeschlossen. Ist das aber geschehen, so hat niemand mehr Ursache sich zu beklagen.«

Mit einem Händedrucke verabschiedete sich der Arzt des Hauses.

O'Bodkins war der Director der »Ragged-School« von Galway, einer Kleinstadt an der Bai und in der Grafschaft gleichen Namens, im Südwesten der Provinz Connaught. Nur hier dürfen die Katholiken Grundeigenthum besitzen, und hierher (und nach Munster) befleißigt sich England, das nicht protestantische Irland zurückzudrängen.

Man kennt die Art Leute wie O'Bodkins ja zur Genüge; auch er verdient kaum unter die liebevollen Vertreter der Menschheit gerechnet zu werden. Er ist ein untersetzter Mann, einer jener Cölibatäre, die weder eine Jugend gehabt haben, noch ein Alter haben werden, die sich immer gleich bleiben und Haare haben, die weder ausfallen noch ergrauen, die mit goldener Brille, welche man ihnen im Grabe am Besten läßt, schon auf die Welt gekommen sind, die keine Nahrungs-, keine Familiensorgen kennen, ausreichend haben, was sie bedürfen, und deren Herz von zarteren Empfindungen niemals bewegt worden ist. Er gehört zu den, weder guten noch schlechten Geschöpfen, die ihre irdische Laufbahn vollenden, ohne je etwas Gutes oder Böses gethan zu haben, und die niemals unglücklich sind... nicht einmal über das Unglück andrer.

O'Bodkins war also wie von Natur zum Director einer Lumpenschule geschaffen.

Wir haben bereits gesehen, mit welch' erstaunlicher Sorgfalt, welch' peinlicher Abwägung des Soll und Haben die Bücher des Mannes geführt waren. Im Hause standen ihm übrigens die bejahrte Mutter Kriß, an deren Munde stets die Tabakspfeife hing, und ein älterer Pensionär, namens Grip, helfend zur Seite. Letzterer, ein armer Teufel mit gutmüthigen Augen, einem gewissen[28] Ausdruck von Fröhlichkeit in den Zügen und einer für den Irländer charakteristischen, etwas aufgebogenen Nase, war unendlich mehr werth als Dreiviertel der elenden Kreaturen, die in dieser Art Schulhospiz Aufnahme gefunden hatten.

Diese Bewohner des Hauses waren Waisen oder verlassene Kinder, die ihre Eltern meist gar nicht gekannt hatten. Am Bachesrand oder am Feldrain geboren, auf Straßen oder Landwegen aufgelesen, kehrten sie nach Erreichung des arbeitsfähigen Alters auch dahin zurück... ein Ausschuß der menschlichen Gesellschaft. Doch was konnte aus zwischen Pflastersteinen verstreutem Samenkorn für andre Frucht wohl erwachsen?

In der Schule von Galway befanden sich deren etwa dreißig im Alter von drei bis zu zwölf Jahren, alle in Lumpen gehüllt und immer hungrig, da sie sich nur von der öffentlichen Mildthätigkeit ernährten. Mehrere davon waren immer krank, und diese Kinder schnellten die Sterblichkeit des Ortes nicht unwesentlich in die Höhe – freilich »kein arger Verlust«, nach Aussage des Arztes

Er hat ja damit nicht ganz Unrecht, wenn keine Erziehung im Stande ist, jene zu verhindern, einst Uebelthäter zu werden. Und doch wohnt eine Seele auch unter diesen zerfetzten Hüllen, und bei besserer Methode gelänge es vielleicht, so manchen zum Guten zu lenken. Jedenfalls wäre zur Erziehung und Heranbildung solcher Unglücklichen ein andrer Lehrer nöthig, als jener Hampelmann O'Bodkins, ein Lehrer, wie man solche selbst in den dürftigsten Gemeinden Irlands nicht gar so selten antrifft.

Der »Findling« war einer der jüngsten in dieser Ragged-School. Er zählte jetzt kaum vierundeinhalb Jahre. Armes Kind! Es hätte an seiner Stirn die trostlose Aufschrift »Keine Hoffnung! Keine Aassichten!« tragen sollen. Von Thornpipe zur lebendigen Kurbel erniedrigt, dann durch das Mitleid einiger guten Seelen in Westport seinem Peiniger entrissen und nun Zögling der Lumpenschule in Galway! Und wenn er diese einst verließ, drohte es ihm dann nicht noch schlechter zu ergehen?

Gewiß war es lobenswerth von dem Pfarrer des Kirchspiels gewesen, dieses unglückliche Wesen aus den Händen des Marionettenschaustellers zu befreien. Nach vielen vergeblichen Mühen mußte man damals endlich verzichten, seine Herkunft nachzuweisen. Der »Findling« entsann sich nur darauf, bei einer garstigen Frau gelebt zu haben, gleichzeitig mit einem kleinen Mädchen,[29] das ihm recht zugethan, und noch einer andern, die aber gestorben war. Einen Ort wußte er freilich nicht anzugeben. Ebenso konnte niemand sagen, ob er ein nur verlassnes oder ein gestohlnes Kind war.

Seit seiner Befreiung in Westport hatte bald dieses bald jenes Haus für ihn nach Kräften gesorgt. Die Frauen beklagten sein Schicksal. Der Name »Findling« war ihm geblieben. Einzelne Familien pflegten ihn acht, andere vierzehn Tage lang. So vergingen drei Monate. Das Kirchspiel war aber selbst recht arm, und schon lebten viele Bedürftige auf öffentliche Kosten. Wäre ein Waisenhaus vorhanden gewesen, so würde der Knabe darin einen Platz bekommen haben. Ein solches gab es aber nicht, und so hatte man ihn nach der Lumpenschule in Galway bringen müssen, und hier befand er sich nun seit neun Monaten, mitten unter einer Rotte verwahrloster Rangen. Was sollte aus ihm werden, wenn er diese Anstalt einmal verließ? Er gehörte zu jenen Enterbten, für die von frühester Jugend an die Beschaffung der täglichen Bedürfnisse eine Lebensfrage bildet, eine Frage, die gar zu oft ohne Antwort bleibt.

Seit neun Monaten also befand sich der Findling unter der Pflege und Zucht der halb verwilderten alten Kriß, des in sein Schicksal ergebenen Grip und des Directors O'Bodkins, dieser Maschine zur Ausgleichung von Einnahmen und Ausgaben. Seine gute Constitution half ihm aber, viele hier unvermeidliche Schädigungen zu überwinden. Er stand nicht mit in des Directors großem Buche in der Rubrik der Masern, des Scharlachs und andrer Kinderkrankheiten, sonst wäre sein Conto wohl schon beglichen gewesen... in dem gemeinsamen Grabe, das Galway seinen öffentlichen Armen gewährte.

Neben der körperlichen Gesundheit war in der Lumpenschule aber auch die geistige und moralische Entwicklung arg gefährdet, und es gehörte eine vortreffliche sittliche Veranlagung dazu, der Ansteckung durch tägliches böses Beispiel nicht zu erliegen. Hier befand sich sogar ein Knabe, dessen Mutter »ihre Zeit in Norfolk absaß«, auf ferner Insel inmitten des australischen Meeres, und dessen wegen Raubmords verurtheilter Vater hinter den Mauern von Newgate unter den Händen des berühmten (Scharfrichters) Berry geendet hatte.

Dieser Knabe hieß Carker. Schon in seinem zwölften Jahre schien er in den verbrecherischen Spuren der Eltern weiter zu wandeln. Daß dieser inmitten des verwahrlosten Gesindels der Lumpenschule eine gewisse Rolle spielte. ist ja nicht zu verwundern. Er, ein Verdorbener, der andre verdarb, genoß eines besondern Ansehens, er hatte seine Schmeichler und Helfershelfer, war der geborne[30] Anführer der Schlimmsten und bereits zu jedem schlechten Streiche bereit, eine Vorübung zu den Verbrechen, die er nach seinem Austritt aus der Schule gewiß beging.

Der »Findling« freilich empfand nur heftigen Widerwillen gegen Carker, wenn er ihn – den Sohn des Gehenkten! – zuweilen auch mit großen Augen voller Erstaunen betrachtete.

Im allgemeinen gleichen diese Armenschulen kaum den modernen Unterrichtsanstalten, für die der Cubikmeter Luft nach hygienischen Grundsätzen berechnet und der Raumbedarf nach der Kopfzahl bemessen ist. Zum Lager gab es Stroh, da ist das Bett bald gemacht und bedarf kaum des Aufschüttelns. Von einem Speisesaale war keine Rede, und der erschien auch überflüssig, wo man nur Brodrinden nebst einigen Kartoffeln, und auch das oft nur in unzureichender Menge, zu kauen hatte. Die Last des Unterrichtens der Lumpenschüler lag auf den Schultern des Herrn O'Bodkins. Er sollte ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen lehren, doch ohne Gewähr des Gelingens, und wenn die Kinder zwei bis drei Jahre unter seiner Zuchtruthe gestanden hatten, gab es unter ihnen kaum ein Dutzend, die einen Maueranschlag zu entziffern vermocht hätten. Obgleich einer der Jüngsten, unterschied sich der Findling jedoch sehr von seinen Kameraden durch einen regen Lerntrieb, der ihm so manche Spöttelei einbrachte. Es ist doch tief bedauerlich und social unverantwortlich, wenn ein Menschenkind, das nach geistiger Ausbildung trachtet, diese entbehren muß. Niemand vermag ja den zukünftigen Verlust durch die Brachlegung eines jungen Gehirns abzuschätzen, das die Natur vielleicht mit den besten – jetzt nicht aufgehenden – Keimen ausgestattet hatte.

Wenn die Zöglinge nun hier kaum mit dem Kopfe arbeiteten, lag das nicht etwa daran, daß sie mit Handarbeit überbürdet gewesen wären. Die tägliche Beschäftigung der Kinder bestand vielmehr nur darin, daß sie etwas Brennmaterial für den Winter aufsammelten, sich bei mitleidigen Seelen abgelegte Kleidungsstücke erbettelten und den Unrath von Pferden und andern Thieren zusammenscharrten, um diesen an die Landleute für wenige Coppers zu verkaufen – eine Einnahmequelle, für die O'Bodkins eine besondre Rechnung führte – endlich durchwühlten sie, womöglich vor den Hunden oder im Nothfalle nach Verjagung der Vierfüßler, die Kehrichthaufen an den Straßenecken nach irgendwelchem verwendbaren oder verwerthbaren Abfall. Spiele, Unterhaltungen gab es hier nicht, wenn man es nicht als Vergnügen rechnen will, sich gegenseitig[31] zu zerkratzen, zu kneipen und zu beißen, abgesehen von den übeln Streichen, die Grip gar häufig gespielt wurden. Der brave Bursche machte davon wenig Aufhebens; doch das reizte Carker und die andern Schlingel nur noch mehr an, ihm auf gemeinste und grausamste Weise mitzuspielen.

Das einzige einigermaßen saubere Zimmer der Lumpenschule war das des Directors, das natürlich keiner betreten durfte, denn dann wären dessen Bücher unfehlbar zerrissen, seine Schreibereien überallhin verstreut worden. Im Gegentheil gefiel es dem Manne, wenn seine Zöglinge sich draußen umhertrieben[32] und dumme Streiche machten; ihm kamen sie, die der Hunger und die Müdigkeit in die Lumpenschule heimtrieb, doch immer zu zeitig zurück.


Die tägliche Beschäftigung der Kinder.... (S. 31.)
Die tägliche Beschäftigung der Kinder.... (S. 31.)

Bei seiner ernsteren Natur und seinen besseren Neigungen war der Findling unablässig nicht nur dem rohen Spotte, sondern auch den Gewaltthätigkeiten Carker's und eines halben Dutzend andrer preisgegeben. Er vermied es aber, sich zu beklagen.

Wenn er nur stark genug gewesen wäre! Er hätte sich schon Respect verschafft, hätte Schlag für Schlag, Fußtritt für Fußtritt zurückgegeben –[33] jetzt freilich schwoll ihm das Herz nur vor Ingrimm, zur Selbstvertheidigung zu schwach zu sein.


Wenn der Große den Kleinen an der Hand führte. (S. 35.)
Wenn der Große den Kleinen an der Hand führte. (S. 35.)

Gleichzeitig verließ er das Schulhaus am wenigsten, da er sich ja der Ruhe erfreute, wenn die übrigen draußen herumlungerten. Er stand sich dabei freilich schlecht, denn unterwegs hätte er ja etwas zum abnagen finden oder ein altbackenes Brödchen für zwei bis drei als Almosen erhaltene Coppers kaufen können. Ihm widerstrebte es aber, die Hand auszustrecken und hinter den Wagen herzulaufen, um ein verlorenes Geldstückchen aufzulesen, vorzüglich aber, Ladenauslagen und dergleichen zu berauben, was die andern oft genug leichten Herzens thaten. Nein, er zog es vor, bei Grip zu bleiben.

»Nun, Du willst nicht fortgehen? fragte ihn dieser.

– Nein, Grip.

– Carker wird Dich schlagen, wenn Du heut' Abend nichts heimgebracht hast.

– Da will ich mich lieber schlagen lassen!«

Grip empfand für den Findling eine warme, von diesem getheilte Zuneigung. Selbst geistig ziemlich beanlagt und geübt im Lesen und Schreiben, bemühte er sich, dem Kinde zu lehren, was er gelernt hatte. Seit seinem Verweilen in Galway zeigte der Findling auch immer weitere Fortschritte, wenigstens im Lesen, und versprach also, seinem Lehrer Ehre zu machen.

Hier sei auch nicht vergessen, daß Grip einen großen Vorrath unterhaltender Geschichten im Kopfe hatte, die er gern erzählte.

Mit seinem herzlichen Lachen in dieser düstern Umgebung kam es dem Findling vor, als verbreite der gute Grip einen Lichtstrahl in der traurigen Finsterniß.

Was unsern Helden am meisten wurmte, war, daß die andern sich immer an Grip rieben und ihm ihr Uebelwollen auf jede Weise fühlen ließen, was dieser, wie erwähnt, mit philosophischer Ruhe duldete.

»Aber, Grip!... begann der Findling zuweilen.

– Was willst Du?

– Der Carker ist doch recht schlecht!

– Gewiß, sehr ungezogen.

– Warum klopfst Du ihm nicht den Rücken?

– Ich? Klopfen?...

– Ja, und auch den andern?«[34]

Grip zuckte mit den Schultern.

»Bist Du denn nicht stark, Grip?

– Das weiß ich nicht.

– Du hast aber doch lange Arme und Beine...«

Ja, groß war Grip wohl, doch auch hager, wie ein Blitzableiter.

»Nun also, Grip, warum prügelst Du sie nicht, die abscheulichen Kerle?

– Weil sich's nicht der Mühe lohnt.

– O, wenn ich Deine Arme und Beine hätte...

– Dann wär's besser, Kleiner, sich ihrer zum arbeiten zu bedienen.

– Meinst Du?

– Ganz gewiß.

– Nun gut, laß uns zusammen arbeiten. Sprich!... Wir versuchen's. Willst Du?«

Grip wollte das herzlich gern.

Zuweilen gingen beide aus. Grip nahm das Kind mit, wenn er etwas zu besorgen hatte. Der Findling trug freilich die erbärmlichste Kleidung, die ihm nicht einmal auf den Leib paßte; zerrissene Hosen, eine zerfetzte Jacke, eine Mütze ohne Deckel und an den Füßen Rindslederschuhe, deren Sohlen nur durch Bindfaden noch daran festgehalten wurden. Mit Grip, der auch nur das abgetragenste Zeug besaß, sah es allerdings kaum besser aus. Es waren gleiche Brüder mit gleichen Kappen. Jetzt, in der schönen Jahreszeit, ging das ja noch an. Gute Witterung ist in den nördlichen Grafschaften Irlands aber ebenso selten, wie ein gutes Essen in der Hütte Paddys. Beim Regen aber, beim Schnee erregten die beiden, halb entblößt und erfroren, die Füße vom Schnee fast angeätzt, das Mitleid der ihnen begegnenden Leute, wenn der Große den Kleinen an der Hand führte und beide Trab liefen, um sich etwas zu erwärmen.

So trollten sie durch die Straßen von Galway, das fast einer spanischen Stadt ähnelt, oft unbeachtet von einer gleichgiltigen Menge. Der Findling hätte gar zu gern gewußt, was in den Häusern da drin wäre. Durch die engen, meist mit Gittern verwahrten Fenster mit den herabgelassenen Jalousien war freilich nichts zu entdecken. Für ihn waren diese Häuser mit Silbermünzen angefüllte Geldschränke. Und die Gasthäuser, wohin die Reisenden im Wagen angefahren kamen, wie gern hätte er in deren schöne Zimmer einmal gesehen, vorzüglich in die des Royal-Hôtel! Die Dienerschaft hätte aber sicherlich beide[35] wie Hunde fortgejagt oder, was noch schlimmer ist, wie Bettler, denn ein Hund findet noch eher einmal eine liebkosende Hand.

Und wenn sie vor den, übrigens nur mangelhaft ausgestatteten Läden der Flecken des oberen Irland stehen blieben, schienen diese den beiden unschätzbare Reichthümer zu bergen. Da warfen sie brennende Blicke auf die Auslage eines Kleiderladens, sie, die sich nur in Lappen wickeln konnten, oder durch das Fenster eines Schuhwaarengeschäfts, sie, die nur fast barfuß gingen. Der Genuß, einmal einen neuen Rock auf dem Leibe oder eigens angemessene Stiefeln an den Füßen zu tragen, blieb ihnen voraussichtlich ja für immer versagt, ebenso wie den vielen Elenden, die da verurtheilt sind, sich mit dem, was andre wegwerfen, und mit Abfällen aus der Küche zu begnügen.

Auch Schlächterläden gab es da, mit ganzen Rindervierteln am Haken, von denen eines ausgereicht hätte, die Lumpenschule einen vollen Monat hindurch zu sättigen. Als Grip und der Findling das saftige Fleisch betrachteten, da öffneten sie weit den Mund, fühlten aber, wie ihr Magen sich dabei zusammen schnürte.

»Ei was, sagte Grip, bewege nur die Kinnladen, Kleiner, das ist fast ebenso gut, als wenn Du geschmaust hättest!«

Und vor den großen Brodlaiben, die noch einen angenehmen, warmen Duft ausströmten, vor den »Cakes« und andern feineren, den Gaumen reizenden Backwaaren standen sie wohl auch zuweilen mit trockner Zunge und zusammengepreßten Lippen, Hunger, den quälenden Hunger in den Zügen, und dann murmelte der Findling wohl:

»Ach, das muß aber gut schmecken, Grip!

– Gewiß, Kleiner, bestätigte dieser.

– Hast Du schon so etwas gegessen?

– Ja, einmal doch.

– Ach!« seufzte der kleine Junge.

Er hatte ja nie dergleichen gekostet, weder bei Thornpipe. noch seit die Lumpenschule ihm Obdach gewährte.

Eines Tages fragte ihn eine Frau, die für sein blasses Gesicht Mitleid empfand, ob ihn wohl so ein Kuchen erfreuen würde.

»Da wünscht' ich mir lieber Brod, erwiderte er.

– Warum denn das, mein Kind?

– Weil man davon mehr bekommt.«[36]

Eines Tages aber, als Grip für einige Besorgungen ein paar Pence erhalten hatte, kaufte dieser einen kleinen, mindest acht Tage alten Kuchen.

»Schmeckt er gut? fragte er den Knaben.

– O, herrlich... so süß, als ob er gezuckert wäre!

– Da ist auch Zucker drin, versicherte Grip, echter, richtiger Zucker!«

Bisweilen lustwandelten die beiden Freunde bis zur Vorstadt Salthill. Von hier aus kann man die ganze Bai überblicken, die zu den schönsten Irlands gehört. Da sieht man die drei Inseln Aran, die sich am Eingange erheben, wie die drei Felskegel von Vigo – eine weitere Aehnlichkeit mit Spanien – und rückwärts die wilden Bergmassen des Burren und des Clare, sowie die steilen Uferklippen von Moher. Dann gingen sie nach dem Hafen zurück, nach den Quais und längs der Docks hin, deren Anlage begonnen hatte, als einmal die Absicht aufgetaucht war, Galway zum Ausgangspunkte einer transatlantischen Dampferlinie zwischen Europa und Nordamerika zu machen, da von hier aus der Seeweg am kürzesten wäre.

Als beide da verschiedene Schiffe, theils in der Bai vor Anker liegend, theils an der Hafenmauer vertäut, erblickten, fühlten sie sich mächtig davon angezogen, als wenn das Meer gegen arme Leute minder grausam sein könnte als die Erde, da es eine sichrere Existenz verspricht und das Leben in der freien Luft der Oceane jedenfalls dem in den dunstigen, verpesteten Gassen der Städte vorzuziehen ist. Vor allen andern Berufen schien ihnen der des Seemannes ebenso dem Kinde die Gesundheit, wie dem Manne den Lebensunterhalt zu gewährleisten.

»Das muß schön sein, Grip, auf diesen Schiffen mit ihren großen Segeln zu fahren! rief der Findling aufjubelnd aus.

– Wenn Du wüßtest, wie es mich danach verlangt! antwortete Grip, der den Kopf zurückwarf.

– Warum bist Du dann nicht Seemann geworden?...

– Du hast Recht... ich hätte Matrose werden sollen.

– Du wärst so weit... so weit gefahren....

– Nun, vielleicht macht sich das noch.« – Jetzt war es freilich nichts damit.

Der Hafen von Galway wird durch die Mündung eines Flusses gebildet. der aus dem Lough Corrib abströmt und sich in die Bai ergießt. Am andern Ufer, jenseits einer Brücke, erhebt sich das bemerkenswerthe Dorf Claddagh,[37] das viertausend Einwohner zählt, lauter Fischer, die sich seit langer Zeit einer selbstständigen Gemeindeverwaltung erfreuen, und deren Ortsvorsteher in alten Urkunden als »König« aufgeführt ist. Grip und das Kind kamen dann und wann bis nach Claddagh. Der Findling hätte alles darum gegeben, einer der rüstigen, muthwilligen, wettergebräunten Knaben hier, der Sohn einer kräftigen Mutter zu sein, in deren Adern noch ein Tropfen galicisches Blut rollte, wenn die Frauen gleich ihren Männern auch ein etwas wildes Aussehen haben. Ja, er beneidete diesen lebenslustigen Schwarm, der sich gewiß glücklicher fühlte, als die Kinder in so manchen Städten Irlands. Wie gern hätte er sich zu den Knaben gesellt, die da lachten, kreischten, im Wasser herumplätscherten, wie gern hätte er zu ihnen gehört! Bei seiner zerfetzten Kleidung wagte er's aber nicht, sich ihnen zu nähern, sie hätten ja glauben können, er wolle betteln. So hielt er sich, eine schwere Thräne im Auge, beiseite und schlürfte nur nach dem Marktplatze hin, um sich die schönfarbigen Makrelen und die silbergrauen Häringe, die einzigen Meeresbewohner, auf deren Fang die Fischer von Claddagh ausgehen, etwas anzusehen. Von den Hummern und Taschenkrebsen, die es zwischen den Klippen der Bai ebenfalls in großer Menge gab, konnte er nicht glauben, daß sie gut schmeckten, obgleich ihm Grip, nach dem, was ihm zu Ohren gekommen war, versicherte, »es wäre wie Schaumkuchen, was die Thiere unter ihrer Schale hätten«. Vielleicht sollten sie das einmal selbst erproben.

Nach ihrem Spaziergange begaben sich beide durch die engen und schmutzigen Straßen in der Richtung nach der Lumpenschule zurück. Dabei gingen sie an Ruinen vorüber, die Galway das Aussehen verleihen, als sei es zur Hälfte durch ein Erdbeben zerstört worden. Und doch haben Ruinen, wenn die Zeit sie geschaffen hat, auch ihren Reiz. Hier freilich, wo sie nur aus Häusern bestanden, die wegen Mangels an Baucapitalien unvollendet blieben, deren kaum dem Erdboden entstiegene Mauern überall Risse zeigten, kurz, hier, wo nur eine Folge der Vernachlässigung und nicht ein Werk der Jahrhunderte vorlag, machte das Ganze eher einen beklemmenden, traurigen Eindruck.

Noch schlimmer als die ärmeren Stadttheile, noch abstoßender als die verwitterten Hütten der Vorstädte Galways, so freilich sah die elende, dumpfige Wohnung, das unzureichende Obdach aus, wo das Elend die Genossen des Findlings zusammenpferchte, und Grip und er beeilten sich auch gar nicht, als die Stunde der Heimkehr geschlagen hatte.[38]

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 27-39.
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