Erstes Capitel.
Ihre Herrlichkeiten.

[209] Ohne sein gewohntes vornehmes Auftreten zu verleugnen, nahm Lord Piborne verschiedene, auf seinem Tische liegende Papiere auf, ordnete die da[209] und dort verstreuten Zeitungsblätter, durchsuchte die Taschen seines goldgelben Plüschschlafrocks, durchwühlte auch die eines stahlgrauen Ueberziehers, der über der Lehne eines Armstuhles hing, und wendete sich dann zurück, während ein kaum bemerkbares Runzeln der Augenbrauen an seiner Stirn sichtbar wurde.

In dieser hocharistokratischen Weise und ohne sonstige Veränderung der Gesichtszüge pflegte Seine Herrlichkeit stets auch dem lebhaftesten Unbehagen Ausdruck zu geben.

Eine leichte Neigung des Oberkörpers deutete darauf hin, daß er sich sogar einmal bücken wollte, um einen Blick unter den von einer großen, schwer befranzten Decke verhüllten Tisch zu werfen. Davon kam er jedoch zurück und »geruhte« auf den Knopf einer Klingel zur Seite des Kamins zu drücken.

Fast augenblicklich erschien John, der Kammerdiener, auf der Thürschwelle des Gemaches und blieb hier regungslos stehen.

»Sieh nach, ob mein Portefeuille hier unter den Tisch gefallen ist,« sagte Lord Piborne.

John bückte sich nieder, hob die faltenreiche Decke etwas in die Höhe und richtete sich mit leeren Händen wieder auf.

Das Portefeuille Seiner Herrlichkeit fand sich an dem bezeichneten Platze nicht.

Ein zweites leichtes Stirnrunzeln des Lord Piborne.

»Wo ist Lady Piborne? fragte er.

– In ihren Gemächern, antwortete der Kammerdiener.

– Und der Graf Ashton?

– Er lustwandelt im Parke.

– Melde Ihrer Herrlichkeit der Lady Piborne meine Empfehlung und sage ihr, ich wünsche die Ehre zu haben, sie baldmöglichst zu sprechen.«

John machte steif auf der Stelle Kehrt – ein stilgerechter Lakei hat sich im Dienste nicht zu verneigen – und verließ streng abgemessenen Schrittes das Cabinet, um die Befehle seines Herrn auszuführen.

Seine Herrlichkeit Lord Piborne zählt fünfzig Jahre – fünfzig Jahre, die seiner mehrere hundert Jahre alten und von keinem Verstoß gegen die Ehre des Adels, von keiner Mißheirat befleckten Familie hinzuzurechnen waren. Ein hervorragendes Mitglied des englischen Oberhauses, bedauert er in gutem Glauben das Aufhören vieler alten Privilegien der Feudalzeit, die schöne Zeit der Lehen, Renten, der Allodialgüter und Domänen, der Macht persönlichen Gerichtsstandes,[210] deren sich seine Ahnen erfreuten, und der tiefen Ehrerbietung, die diesen jeder Lehensmann ohne Zögern entgegen brachte. Alles, was nicht von einer, der seinigen ebenbürtigen Herkunft ist, was sich eines so alten Stammbaumes nicht rühmen kann, steht für ihn auf der Stufe des Bauers, des Bürgers, wenn nicht gar des Leibeignen oder Sclaven. Er ist Marquis, sein Sohn folglich Graf. Baronetts, Ritter und andre niedre Adelige haben seiner Auffassung nach kaum das Recht, in den Vorzimmern der wirklich vornehmen Welt zu erscheinen. Groß, hager, das Gesicht glatt rasiert, die Augen wie erloschen, so sehr sind sie gewöhnt, Mißachtung auszudrücken, im Sprechen karg und trocken, repräsentiert Lord Piborne den Typus jener hochmüthigen Edelleute, die sich in den Hüllen bestaubter Pergamente vergraben und die – glücklicher Weise – selbst in dem aristokratischen Königreiche Großbritannien und Irland jetzt auf den Aussterbeetat gesetzt scheinen.

Hierzu ist nachzutragen, daß der Marquis englischer Abstammung ist und daß er keine Mesalliance einging, als er die Marquise, die schottischer Herkunft ist, zum Altare führte. Ihre Herrlichkeiten waren ganz für einander geschaffen, beide fest entschlossen, niemals von ihrem hohen Sitze herabzusteigen, und wahrscheinlich auserlesen, eine noch höher steigende Nachkommenschaft zu hinterlassen. Sie bildeten sich ohne Zweifel ein, daß Gott dereinst erst Handschuhe anlegen würde, um sie in seinem Paradiese nach Gebühr zu empfangen.

Die Thür öffnete sich, und als hätte es sich um den Eintritt einer hohen Dame in einen Empfangssalon gehandelt, meldete der Kammerdiener:

»Ihre Herrlichkeit Lady Piborne.«

Die Marquise – eine reife Vierzigerin – groß, hager, eckig, die Haare von breitem Stirnband gehalten, die Lippen dünn, die Nase aristokratisch adlerartig, die Taille schlank und die Schultern abstehend – war gewiß niemals schön gewesen; was aber die Vornehmheit der Haltung und des Benehmens, die Uebereinstimmung in Traditionen und Privilegien anging, hätte Lord Piborne gewiß keine bessere Gemahlin finden können.

John rollte einen wappengeschmückten Lehnstuhl heran, worauf die Marquise sich niederließ, und zog sich lautlos zurück.

Der vornehme Gemahl richtete das Wort an die Dame.

»Sie werden verzeihen, Marquise, daß ich Sie ersuchen lassen mußte, Ihre Gemächer zu verlassen, um mir die Gunst einer Besprechung in meinem Cabinet zu gewähren.«[211]

Es braucht nicht Wunder zu nehmen, daß Ihre Herrlichkeiten, selbst in privater Unterhaltung, so schwulstige Phrasen drechselten. Das gehört hier einmal zum guten Ton. Und übrigens waren beide noch in der »Puder- und Perrückenschule« der früheren Gentry aufgewachsen. Nie hätten sie sich zu der Vertraulichkeit des landläufigen Geplauders herabgelassen, das Dickens im Scherze »Perrucobalivernage« genannt hat.

»Ich stehe zu Ihrem Befehl, Marquis, erwiderte Lady Piborne. Welche Frage hätten Sie an mich zu richten?

– Ich möchte, Marquise, Sie ersuchen, mir mit Ihrem Gedächtniß zu Hilfe zu kommen.

– Ich höre.

– Sind wir nicht gestern gegen drei Uhr nachmittags hier vom Schlosse weg nach Newmarket und zu unserm Attorney, Herrn Laird, gefahren?«

Der Attorney ist der bevollmächtigte Rechtsanwalt, der seinen Auftraggeber bei den Civilgerichten des Vereinigten Königreiches vertritt.

»Gewiß... gestern... Nachmittag, antwortete Lady Piborne.

– Erinnere ich mich recht, so hat Graf Ashton, unser Sohn, uns im Wagen begleitet?

– Ganz recht, Marquis, er nahm einen Platz auf dem Vordersitze ein.

– Die beiden Lakeien standen doch hinter uns auf dem Wagen?

– Ja wohl, wie das ihre Pflicht ist.

– Gut denn, antwortete Lord Piborne, der seine Uebereinstimmung durch eine leichte Kopfbewegung zu erkennen gab, dann, Marquise, erinnern Sie sich wohl auch, daß ich ein Portefeuille bei mir führte, das die Papiere betreffs des Rechtsstreites enthielt, der uns mit dem Kirchspiele bevorsteht?

– Jenes ungerechten Processes, den man die Kühnheit, die Unverschämtheit hat, uns aufzunöthigen! setzte Lady Piborne mit bezeichnender Geberde hinzu.

– Dieses Portefeuille, fuhr Lord Piborne fort, enthielt nicht allein sehr wichtige Documente, sondern auch eine Summe von hundert Pfund in Banknoten, die für unsern Sachwalter bestimmt war.

– Sie erinnern sich an alles ganz genau, Marquis.

– Sie wissen auch, Marquise, wie alles zugegangen ist. Wir sind in Newmarket angekommen, ohne die Kalesche verlassen zu haben. Laird hat uns an der Schwelle seines Hauses empfangen. Ich zeigte ihm sofort die Schriftstücke und erbot mich, das Geld bei ihm zu deponieren. Er hat darauf geantwortet,[212] daß er für jetzt weder des einen noch des andern bedürfe, unter dem Hinzufügen, daß er selbst nach dem Schlosse kommen werde, wenn es Zeit sei, gegen die Anmaßungen des Kirchspiels aufzutreten.

– Gegen die schmählichen Anmaßungen, die früher als Attentate auf die grundherrlichen Rechte betrachtet und bestraft worden waren...«

Hiermit sprach die Marquise nur eine Auffassung aus, der der Marquis in ihrem Beisein oft ganz gleichlautenden Ausdruck gegeben hatte.

»Daraus ergiebt sich, nahm Seine Lerrlichkeit wieder das Wort, daß ich mein Portefeuille behalten habe, daß wir bald wieder in den Wagen gestiegen sind und das Schloß gegen sieben Uhr, als es bereits zu dunkeln anfing, erreicht haben.«

Der Abend war finster gewesen, denn der Vorgang fiel noch in die letzte Aprilwoche.

»Jenes Portefeuille, berichtete der Marquis weiter, das ich bestimmt in die rechte Brusttasche meines Pelzes gesteckt habe, kann ich nun nicht mehr finden.

– Vielleicht haben Sie es bei der Heimkehr auf den Tisch Ihres Cabinets gelegt?

– Das vermuthete ich auch, Marquise, habe aber vergeblich unter meinen Papieren danach gesucht.

– Seit gestern ist doch niemand hierher gekommen?

– Doch... John... mein Kammerdiener... dem kann ich aber vertrauen...

– Es ist immer klug, die Leute im Verdacht zu haben, erwiderte Lady Piborne.

– Uebrigens wär' es möglich, fuhr der Marquis fort, daß mein Portefeuille hinter ein Kissen in der Kalesche geglitten wäre.

– Das müßte einer der Lakeien entdeckt haben, und wenn er die hundert Pfund Sterling nicht für eine gute Prise ansah...

– Ach, die hundert Pfund, unterbrach sie Lord Piborne, von denen will ich nicht viel reden; doch die Familienpapiere, die unsre Rechte gegenüber dem Kirchspiel nachweisen...

– Gegenüber dem Kirchspiel, pah!« sagte Lady Piborne.

Man hörte es, daß das Herrenhaus ans ihrem Munde sprach und daß sie die Insassen des Kirchspiels als untergeordnete Vasallen ansah, deren Ansprüche ebenso bedauernswerth, wie respectwidrig waren.[213]

»Wenn wir nun, aller Gerechtigkeit zum Hohne, fuhr sie fort, diesen Proceß verlieren sollten...

– Und wir verlieren ihn ganz sicher, erklärte Lord Piborne, wenn wir jene wichtigen Acten nicht vorzulegen im Stande sind...

– So würde das Kirchspiel in Besitz der hundert Acres Wald kommen, die an den Park grenzen und seit den Plantagenets zur Domäne der Piborne's gehört haben?

– Ja, Marquise.

– Das wäre abscheulich!

– Abscheulich, wie alles, was den Feudalbesitz in Irland antastet, jene Ansprüche der Home-rulers, die Ueberlassung des Grund und Bodens als Eigenthum des Bauern, die ganze Erhebung gegen den Landlordismus!... O, wir leben in einer seltsamen Zeit! Wenn der Lordlieutenant nicht bald Ordnung schafft, indem er die Rädelsführer der Landliga aufknüpfen läßt, weiß ich nicht... oder weiß ich vielmehr nur zu gut, wie das enden wird....«

Da öffnete sich die Thür des Cabinets, auf deren Schwelle ein junger Mann erschien.

»Ah, Sie sind es, Graf Ashton?« unterbrach sich Lord Piborne.

Der Marquis und die Marquise hätten es niemals versäumt, ihrem Sohne diesen Titel zu geben, der alle von seiner Geburt ihm auferlegten Pflichten hätte zu vernachlässigen gefürchtet, wenn er darauf nicht antwortete:

– Ich wünsche Ihnen guten Tag, Mylord, mein Vater!«

Dann trat er auf Milady, seine Mutter, zu, der er würdevoll die Hand küßte.

Der junge Gentleman von vierzehn Jahren hatte ein regelmäßiges, doch recht ausdrucksloses Gesicht, dessen Züge gewiß auch später an Lebhaftigkeit und Intelligenz nicht gewannen. Er war ja der natürliche Abkomme eines Marquis und einer Marquise, die sich, gut zwei Jahrhunderte hinter ihrer Zeit zurückgeblieben, jedem Fortschritte des modernen Lebens abhold erwiesen – zwei Typen aus der Periode der Cromwell, waschechte, unbelehrbare Tories alten Schlages. Der Instinct der Rasse bewirkte schon, daß dieser Knabe sich etiquettengerecht verhielt, daß er Graf blieb vom Scheitel bis zu den Zehen, obwohl ihn die Marquise sehr verwöhnt hatte und die Dienerschaft des Schlosses »abgerichtet« war, sich allen seinen Launen zu fügen. So besaß er keine, der für dieses Alter charakteristischen Eigenschaften, weder die ungebundene Beweglichkeit[214] des Körpers, noch die Wärme des Herzens oder den Enthusiasmus der Jugend.

Es war so ein junger Herr, der in allen, die ihm nahe kamen, nur tief unter ihm Stehende sah, dem das Mitgefühl für die Armuth abging, der zwar in allen Zweigen des Sports – dem Reiten, Jagen, Wettrennen, dem Croquett und Lawn-Tennis – schon recht bewandert, sonst aber erschreckend unwissend war, trotz des halben Dutzends von Hauslehrern, die sich vergeblich mit ihm abgemüht hatten.

Die Zahl solcher jungen Gentlemen von hoher Geburt, die trotz ihrer Distinguirtheit später als klägliche Schwachköpfe durchs Leben wandern, zeigt zwar entschieden Neigung zur Abnahme. Noch giebt es deren aber genug, und der Graf Ashton Piborne gehörte unzweifelhaft zu dieser Sorte.

Er hörte jetzt von dem Verluste des Portefeuilles und erinnerte sich, daß Mylord, sein Vater, dasselbe in der Hand gehabt hatte, als er aus dem Hause des Sachwalters zurückkam, und daß er es bei der Abfahrt von Newmarket nicht in die Tasche gesteckt, sondern hinter sich auf den Wagensitz gelegt habe.

»Sind Sie Ihrer Sache sicher, Graf Ashton? fragte die Marquise.

– Ja, Milady, und ich glaube nicht, daß das Portefeuille habe aus dem Wagen fallen können.

– Dann hätte es sich also, meinte Lord Piborne, noch darin befinden müssen, als wir am Schlosse wieder eintrafen.

– Und man kommt zu dem Schlusse, daß es einer der Diener unterschlagen hat,« setzte Lady Piborne hinzu.

Dieser Ansicht war natürlich auch Graf Ashton. Er hatte gar kein Vertrauen zu solchen »Kerlen«, die immer spionieren, wenn sie nicht gar stehlen – und beides meist zusammen thun – die man das Recht haben sollte, wie einst die Leibeigenen Großbritanniens, nach Belieben auszupeitschen. Woher er etwas von »Leibeignen in Großbritannien« gehört hatte, das mochte der Himmel wissen. Er beklagte nur, daß der Marquis und die Marquise ihm keinen eignen Kammerdiener oder wenigstens einen Groom zugetheilt hatten, der würde schon die Hand des Herren zu fühlen bekommen haben u. s. w.

Das hieß rein herausgesprochen, und um eine solche Sprache zu führen, mußte man das blaue Blut der Piborne's in den Adern haben.


John hob die faltenreiche Decke auf. (S. 210.)
John hob die faltenreiche Decke auf. (S. 210.)

Die Verhandlung lief also darauf hinaus, daß das Portefeuille gestohlen, und zwar von einem der Diener gestohlen sein werde, daß darüber eine[215] Untersuchung angestellt und jeder, auf dem der geringste Verdacht haften bleibe, sofort der Polizei überwiesen werden müsse, da dem Lord Piborne das Recht der hohen und niedern Gerichtsbarkeit abging.


 »Verzeihen Eure Herrlichkeit.« (S 218)
»Verzeihen Eure Herrlichkeit.« (S 218)

Der Graf Ashton drückte also auf den Knopf der Klingel, und wenige Augenblicke später erschien der Schloßverwalter vor ihren Herrlichkeiten.

Dieser Herr Scarlett, der Intendant des Lord Piborne, war der richtige Scheinheilige, eine schmeichlerische, katzenbuckelnde Persönlichkeit, der immer den grundehrlichen Mann spielte und von der Dienerschaft des Hauses bestens[216] gehaßt wurde, da er seine Untergebenen zwar ohne Aufbrausen und Anmaßung, doch im Grunde schlecht behandelte.

Vor dem Marquis, der Marquise und dem Grafen Ashton erschien er die Unterwürfigkeit selbst, wie der niedrigste Kirchendiener vor dem ersten Geistlichen seiner Parochie.

Jetzt erzählte man ihm den Vorfall. Das Portefeuille war ohne Zweifel auf ein Sitzpolster im Wagen gelegt worden, wo es sich doch hätte wiederfinden müssen.[217]

Das war auch die Meinung Scarlett's, schon weil es die des Lord und der Lady Piborne war. Bei der Rückkehr des Wagens hatte er, der sich in respectvoller Entfernung von dessen Thür hielt, bei der Dunkelheit natürlich nicht sehen können, ob das Portefeuille an der vom Marquis bezeichneten Stelle lag.

Wenn Scarlett auch der Gedanke kam, die Brieftasche hätte auf die Landstraße hinaus gefallen sein können, so hütete er sich doch, das auszusprechen, da auf den Lord Piborne damit der Vorwurf der Unachtsamkeit gefallen wäre; er begnügte sich vielmehr mit der Bemerkung, daß das Portefeuille selbstverständlich hochwichtige Schriftstücke enthalten haben werde, und zwar schon deshalb, weil es die Ehre hatte, einer so vornehmen, wichtigen Persönlichkeit, wie dem Schloßherrn, zu gehören.

»Es liegt auf der Hand, versicherte dieser, daß hier eine Fundunterschlagung stattgefunden hat....

– Sagen wir gleich: ein Diebstahl, wenn Eure Herrlichkeit gestatten.

– Jawohl, ein Diebstahl, Herr Scarlett, und zwar einer, bei dem es sich nicht allein um eine nicht unbeträchtliche Geldsumme, sondern auch um Schriftstücke handelt, die alte Rechte unsrer Familie gegenüber dem Kirchspiele nachweisen.«

Wer die Physiognomie des Verwalters nicht gesehen hat, bei dem Gedanken, daß das Kirchspiel sich unterfange, überhaupt ein Recht gegen das vornehme Haus der Piborne's geltend zu machen – eine Unverschämtheit, die zur Zeit, wo Familienprivilegien noch geachtet wurden, ganz unmöglich gewesen wäre – nein, wer die Indignation des Herrn Scarlett nicht beobachtet hat, das Zittern seiner halb zum Himmel erhobnen Hände und seine auf die Erde gesenkten Blicke, der vermag sich gar keine Vorstellung zu machen, bis zu welchem Grade so ein Mucker seine heuchlerischen Grimassen zu vervollkommnen vermag.

»Doch wenn ein Diebstahl ausgeführt worden ist... sagte er endlich.

– Wie... nur wenner ausgeführt worden wäre? fiel die Marquise näselnden Tones ein.

– Verzeihen Ihre Herrlichkeit, beeilte sich der Verwalter hinzuzusetzen, ich wollte sagen, da ein solcher vorliegt, so kann er ja nur...

– Durch einen unsrer Leute begangen worden sein! fiel ihm Graf Ashton ins Wort und fuchtelte dazu, ganz nach Feudalherrenart, mit der in der Hand gehaltenen Reitgerte.[218]

– Herr Scarlett, nahm Lord Piborne wieder das Wort, wird untersuchen, den oder die Schuldigen zu entdecken und mittelst Affidavits1 die Intervention des Gerichtes herbeizuführen, da es einem nicht einmal mehr auf eignem Grund und Boden gestattet ist, selbst Gerechtigkeit zu üben.

– Und wenn meine Ermittelungen zu keinem Ziele führen, fragte der Verwalter, was gedenken Eure Herrlichkeit dann zu thun?

– Dann wird die gesammte Dienerschaft verabschiedet, Herr Scarlett; hören Sie? Alle Leute!«

Nach dieser Entscheidung zog sich der Verwalter zurück, worauf auch die Marquise wieder ihre Gemächer aufsuchte und der Graf Ashton sich zu seinen Hunden im Park zurückbegab.

Scarlett mußte sich sofort mit der ihm übertragnen Aufgabe befassen, obgleich er nicht zweifelte, daß das Portefeuille während der Fahrt von Newmarket nach dem Schlosse aus dem Wagen gefallen sein werde. Da seine Herrschaft aber einmal die Constatierung eines Diebstahls verlangte, so wollte er das thun... daß er einen Dieb entdeckte, so wollte er einen solchen ermitteln, und hätte er auch einen beliebigen Diener durch Auslosung bestimmen sollen.

Nun mußten Lakeien, Kammerdiener und Kammerfrauen, der Küchenchef, die Kutscher und die Stallburschen vor dem gestrengen Schloßverwalter erscheinen. Natürlich betheuerten alle ihre Unschuld, und obwohl Scarlett sich über die Angelegenheit schon seine Ansicht gebildet hatte, ersparte er den Leuten doch nicht die verletzendsten Vorwürfe und drohte, sie der Polizei auszuliefern, wenn das Portefeuille nicht wieder zum Vorschein käme. Es war ja nicht allein eine Summe von hundert Pfund Sterling entwendet worden, sondern der oder die Diebe hatten auch Documente unterschlagen, die die Rechte des Lord Piborne in einem schwebenden Processe nachwiesen. Wie leicht konnte es ja einem der Leute einfallen, seinen Herrn zu Gunsten des Kirchspiels benachtheiligen zu wollen! Vielleicht wurde dieser gar bezahlt. Nun, wenn es gelang, die Hand auf den Uebelthäter zu legen, so durfte dieser auf eine Spazierfahrt nach den Strafanstalten der Insel Norfolk rechnen, denn Lord Piborne war mächtig genug, und einen so großen Herrn zu bestehlen galt etwa ebenso viel, als sich am Besitzthum eines Mitglieds des Königshauses zu vergreifen.[219]

Scarlett stellte das allen, die er wegen der Sache ausfragte, eindringlich vor. Leider wollte sich keiner zu dem Geständniß, der Urheber des Verbrechens zu sein, herbeilassen, und nach Beendigung der hochnothpeinlichen Befragung beeilte sich der Schloßverwalter, dem Lord von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen Kenntniß zu geben.

»Die Leute stecken unter einer Decke, erklärte der Marquis, und wer weiß, ob sie den Raub nicht unter sich getheilt haben.

– Ich glaube, daß Eure Herrlichkeit damit Recht haben, erwiderte Scarlett. Auf alle an die Dienerschaft gerichteten Fragen erhielt ich auch ganz gleichlautende Antworten, ein hinlänglicher Beweis, daß die Leute sich untereinander verstehen.

– Haben Sie auch ihre Stuben, ihre Schränke und Koffer durchsucht, Scarlett?

– Noch nicht. Eure Herrlichkeit werden einsehen, daß ich das mit Erfolg nur in Gegenwart eines Polizeibeamten vornehmen kann.

– Das ist richtig, bestätigte Lord Piborne. Schicken Sie jemand nach Kanturk... oder besser, verfügen Sie sich selbst dahin. Natürlich darf keiner vor Beendigung der Untersuchung das Schloß verlassen.

– Die Befehle Eurer Herrlichkeit werden ausgeführt werden.

– Der Polizeibeamte soll nicht versäumen, einige Leute mitzubringen, Scarlett...

– Ich werde ihm den Wunsch Eurer Herrlichkeit kund thun und er wird nicht verfehlen, diesem nachzukommen.

– Sie werden auch meinen Sachwalter, Herrn Laird in Newmarket, benachrichtigen, daß ich mit ihm über diesen Vorfall sprechen muß und ihn schleunigst hier zu sehen wünsche.

– Noch heute soll er die Mittheilung erhalten....

– Wann brechen Sie auf?

– Sofort, ich denke, noch vor dem Abend zurück zu sein.

– Gut.«

Das Erzählte spielte sich am Morgen des 29. April ab.

Ohne jemand zu sagen, was er in Kanturk vorhabe, ließ sich Scarlett eines der besten Pferde aus dem Stalle satteln und wollte schon aufsitzen, als am Wirthschaftsthore, nahe dem Wächterhause, eine Glocke ertönte.[220]

Ein Flügel des Thores öffnete sich, und davor stand ein Kind von etwa zehn Jahren.

Es war Findling.

Fußnoten

1 Eine unter dem Eide gleichwerthiger Bekräftigung bei Gericht niederzulegende Urkunde meist über die Thatsachen eines Vorfalles, der gerichtlich verfolgt werden soll.


Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 221.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon