Siebentes Kapitel.
Der Chilkoot.

[96] Bill Stell hatte recht, dem Chilkoot vor dem White-Paß den Vorzug zu geben. Dem zweiten kann man freilich gleich von Skagway aus nachgehen, während der erste erst bei Dyea anfängt. Nach Überschreitung des White-Paß hatman aber noch ungefähr acht Lieues (reichlich 351/2 km) bis zum Bennettsee auf sehr schlechtem Wege zu überwinden, wogegen nur sechzehn Kilometer den Lindemansee vom Chilkoot-Paß trennen, und dieser See führt wieder bequem zum Bennettsee, dessen südliches Ende nach drei Kilometern Weges erreicht wird.

Daß der eigentlich mehr Schwierigkeiten als der White-Paß bietende Chilkoot-Paß eine sehr steile, etwa tausend Fuß aufwärts führende Strecke enthielt, konnte Leute, die kein schweres Gepäck bei sich hatten, ja nicht weiter erschrecken. Jenseits des Chilkoot fanden sie dafür eine ziemlich gut erhaltene Straße, die erst am Lindemansee endigte.

Der erste Teil der Reise durch den Bergwall des Gebietes bot also, wenn er auch nicht allzu große Anstrengung kostete, doch mindestens große Schwierigkeiten.


Es herrschte ohnehin schon ein wirkliches Gedränge. (S. 100)
Es herrschte ohnehin schon ein wirkliches Gedränge. (S. 100)

Am 27. April um sechs Uhr des Morgens gab Bill Stell das Signal zum Aufbruch. Edith und Jane Edgerton, Summy Skim und Ben Raddle verließen mit dem Scout und sechs seiner Leute Skagway und schlugen die Richtung nach dem Chilkoot zu ein. Zwei mit Maultieren bespannte Schlitten genügten für diesen Teil der Fahrt, der am Lindemansee sein Ende fand, wo Bill Stell eine Art Hauptniederlage errichtet hatte. Die ganze Strecke sollte unter den günstigsten Verhältnissen in kaum drei Tagen zurückgelegt werden.

Einer der Schlitten trug das gesamte Gepäck, der andre war den beiden jungen Mädchen überlassen, die ein ganzer Hause von Decken und Pelzfellen gegen den recht scharfen Wind beschützte. Sie hatten – wer konnte daran zweifeln? – niemals geahnt, daß ihre Fahrt in dieser Weise vor sich gehen würde, und Edith, deren rosa Nasenspitzchen aus dem Pelzwerk hervorlugte, richtete an Summy Skim wiederholt Worte aufrichtigsten Dankes, die dieser jedoch hartnäckig zu überhören schien.

Ben Raddle und er fühlten sich viel zu sehr beglückt, den beiden Cousinen nützlich sein zu können. Welch angenehme Gesellschaft für solche abscheuliche Reise! Selbst Bill Stell war darüber ganz entzückt.

Übrigens hatte der Scout vor Edith nicht verschwiegen, wie ungeduldig sie in Dawson City erwartet würde. Das dortige Krankenhaus war buchstäblich überfüllt und mehrere Wärter waren nicht verschont geblieben von den verschiedenen Epidemien, die in der Stadt recht mörderisch wüteten. Vor allem entvölkerte damals der Typhus die Hauptstadt Klondikes. Hundertweise zählte man seine Opfer unter den unglücklichen Einwandrern, die blutarm, ausgehungert und[99] überangestrengt hier eintrafen, nachdem sie gar viele ihrer Gefährten schon unterwegs durch den Tod verloren hatten.

»Ein reizendes Land... wahrhaftig! sagte Summy Skim für sich. Wir, na, wir ziehen ja nur hin- und rückwärts hindurch. Die beiden Kleinen aber, die so vielen Gefahren zu trotzen haben werden und die vielleicht niemals zurückkehren!«

Für die Fahrt über den Chilkoot war es kaum nötig gewesen, größere Vorräte an Nahrungsmitteln mitzunehmen, deren Gewicht den Transport über die steilen Abhänge arg erschwert hätte. Der Scout kannte hier – Hotels zwar nicht, doch wenigstens – »Lodgers«, höchst einfache Herbergen, wo man etwas zu essen erhielt und im Notfall auch für die Nacht ein Unterkommen fand. Teuer war es freilich. Man bezahlte einen halben Dollar für ein »Bett«, das eigentlich nur aus einer groben Planke bestand, und einen Dollar für eine Mahlzeit, die sich unveränderlich aus Speck und kaum aufgegangnem Brot zusammensetzte. Eine so fragwürdige Bequemlichkeit sollte glücklicherweise nur für wenige Tage in Kauf genommen werden. Die Gesellschaft Bill Stells sah sich in jeder Hinsicht besser versorgt, sobald sie die Seengegend erreicht hatte.

Die Witterung war kalt und die Temperatur hielt sich bei einem eisigen Nordwinde auf zehn Grad unter Null. Als die Schlitten aber erst bis an die »Fährten« gekommen waren, glitten sie leicht über den harten Schnee dahin. Das war für die Gespanne ein recht günstiger Umstand. Der Weg stieg sehr steil an. Maultiere, Hunde, Pferde, Rinder und Renntiere gehen hier in großer Zahl zugrunde und der Chilkoot wie der White-Paß sind mit ihren Kadavern übersät.


Über den Abhang des Chilkoot.
Über den Abhang des Chilkoot.

Von Skagway aus hatte der Scout die Richtung nach Dyea eingeschlagen, wobei er sich an der rechten Seite des Kanals hielt. Seine Schlitten, die weniger belastet waren als andre, welche man den Bergstock hinaufsteigen sah, hätten diese bequem überholen können. Es herrschte aber ohnehin schon ein wirkliches Gedränge. Bei den heftigen Windstößen, die, wenn sie durch den engen Hohlweg hinfegen, augenblendende Schneewirbel aufjagen, sah man an vielen Stellen umgeworfene Gefährte aller Art, Tiere, die trotz aller Aufmunterung und trotz kräftiger Nachhilfe mit der Peitsche nicht weiter fort wollten. Da setzten die einen alles daran, sich einen Durchgang zu erzwingen, und die andern nicht weniger, jedes Vorfahren zu verhindern, da gab es Zank und Streit, flogen Beleidigungen hin und her und zuweilen artete der Tumult zu Schlägereien aus,bei denen es auch an ein paar Revolverschüssen nicht zu fehlen pflegte. Im allgemeinen sperrten aber unüberwindliche Hindernisse die Straße dermaßen, daß jeder seine Gangart wohl oder übel der des Langsamsten anpassen mußte. Manchmal gerieten auch die Zughunde hart aneinander und es kostete ihren Führern viele Zeit, den Knäuel der halbwilden, heulend bellenden Tiere zu entwirren.

Die Entfernung zwischen Skagway und dem Paß ist nur gering und man kann sie trotz der Schwierigkeiten des Weges in wenigen Stunden hinter sich bringen. Noch am Vormittage machte die Karawane des Scout denn auch schon in Dyea Halt.

Das bestand eigentlich nur aus einer regellosen Anhäufung um das Ende des Kanals aufragender Hütten. Doch welch unglaubliches Menschengewühl! Über dreitausend Auswandrer drängten sich in diesem Embryo einer Stadt nahe dem Eingange zum Chilkoot-Paß zusammen.

Um sich die kalte Witterung, die die Bewegung der Schlitten erleichterte, möglichst zunutze zu machen, beeilte Bill Stell mit Recht die Weiterfahrt von Dyea. Zu Mittag brach die Gesellschaft schon wieder auf, Ben Raddle und Summy Skim zu Fuß, die beiden jungen Mädchen wie vorher in ihrem Schlitten. Es wäre schwierig gewesen, die wilden und großartigen Landschaftsbilder, die jede Windung des Engpasses vor den Reisenden entrollte, nicht zu bewundern, das Waldesdickicht von Fichten und mit Rauhfrost geschmückten Weiden, das bis zum Gebirgskamm hinausreichte, oder die Sturzbäche, die der Frost nicht hatte in Fesseln schlagen können und die rauschend im Grunde unabsehbar tiefer Schluchten verschwanden.

Das Sheep-Camp war nur vier Lieues (fast 18 km) von hier entfernt. Einige Stunden mußten genügen, bis dahin vorzudringen, obgleich der Paß jetzt sehr steile Rampen bildete und die Zugtiere häufig, um Atem zu schöpfen, stehen blieben. Ihr Führer hatte allemal einige Mühe, sie wieder in Gang zu bringen.

Während sie so langsam dahintrotteten, plauderten Ben Raddle und Summy Skim wiederholt mit dem Scout. Auf eine an ihn gerichtete Frage antwortete dieser:

»Nun, meiner Rechnung nach müssen wir binnen fünf bis sechs Stunden beim Sheep-Camp sein und da ruhen wir bis zum Morgen aus.

– Werden wir dort ein Gasthaus finden, wo sich unsre beiden Begleiterinnen bequem erholen und schlafen können? fragte Summy Skim.[103]

– Jawohl, dort gibt es einige, antwortete Bill Stell, denn Sheep-Camp ist ein Halteplatz für alle Auswandrer.

– Ist man aber auch sicher, dort Platz zu finden? erkundigte sich Ben Raddle.

– Das ist freilich zweifelhaft, erklärte der Scout. Übrigens sind alle die Herbergen dort nicht gerade von einladender Art. Vielleicht empfähle es sich weit mehr, unsre Zelte aufzuschlagen.

– O, meine Herren, rief Edith, die das Gespräch von ihrem Schlitten aus mit angehört hatte, wir wollen Sie in keiner Weise genieren.

– Genieren! erwiderte Summy Skim, wie könnten Sie uns je genieren? Haben wir denn nicht zwei Zelte? Das eine steht Ihnen zur Verfügung, im andern richten wir uns ein.

– Und dazu werden wir zwei kleine Öfen haben, worin das Feuer die ganze Nacht nicht erlischt, setzte Bill Stell dazu. Es hat also niemand etwas vom Froste zu fürchten, so kalt es jetzt auch ist.

– Das ist ja herrlich, rief Jane, die jetzt einmal das Wort ergriff. Alles aber nur unter der Voraussetzung, daß Sie deshalb keine Unbequemlichkeiten haben. Wir sind hier keine Eingeladnen, sondern einfach Teilnehmer, die nur so viel und so wenig Ansprüche machen dürfen wie alle andern. Gilt es, in der Nacht weiterzufahren, wir sind dazu bereit. Wir erwarten, nicht anders als wie Männer behandelt zu werden, und würden alles, was einer Galanterie nur ähnelt, als persönliche Beleidigung empfinden.

– O, beruhigen Sie sich nur, tröstete Summy Skim sie lachend, und seien Sie überzeugt, daß wir Ihnen weder Anstrengungen noch Beschwerden ersparen werden. Wenn's sein müßte... na, dann erfinden wir solche!«

Die Karawane erreichte Sheep-Camp gegen sechs Uhr. Bei der Ankunft waren die Zugtiere sehr erschöpft; sie wurden deshalb sofort abgeschirrt und die Leute des Scout versorgten sie bald reichlich mit Futter.

Bill Stell hatte völlig recht, daß es den Herbergen des Dorfes an jeder Bequemlichkeit fehlte. Übrigens zeigte es sich, daß darin kein Platz frei war. Der Scout ließ also die zwei Zelte unter dem Schutze einer Baumgruppe und etwas außerhalb Sheep-Camps aufschlagen, um nicht so sehr von dem wüsten Lärmen der Menge gestört zu werden.


Lager am Fuße des Chilkoot.
Lager am Fuße des Chilkoot.

Edith und Jane konnten sich jetzt zum ersten Male nützlich machen. In wenigen Augenblicken wurden von ihnen die Decken und Pelzfelle zu molligenLagerstätten verwandelt und in den Ofen prasselte ein lustiges Feuer. Mußte sich die Gesellschaft auch mit kaltem Fleisch begnügen, so gab es wenigstens warme Getränke und an Kaffee und Tee war kein Mangel. Dann setzten die Männer ihre Pfeifen in Brand und obwohl das Thermometer draußen auf siebzehn Grad unter Null herabgesunken war, verlief der Abend doch recht angenehm.

Was mußten aber alle die Auswandrer ertragen, die – und ihrer waren Hunderte – in Sheep-Camp kein Unterkommen gefunden hatten. Wieviele schon beim Beginn der Reise erschöpfte Frauen, wieviele schwächliche Kinder würden das ferne Ziel überhaupt nicht erreichen!

Am nächsten Morgen ließ Bill Stell die Zelte schon beim Tagesgrauen wieder verpacken, um vor der lärmenden Menge im Chilkoot-Paß einen Vorsprung zu gewinnen. Das Wetter blieb kalt und trocken, doch selbst wenn das Thermometer noch weiter fiel, war das noch hundertmal den stürmischen Winden, dem tollen Schneetreiben und den heftigen Blizzards vorzuziehen, die im hohen Norden Amerikas mit Recht so gefürchtet sind.

Jane und Ediths Zelt wurde schon abgebrochen, als die beiden Vettern das ihrige erst verließen. Sofort wurde Kaffee bereitet und heiß aufgetragen, dann verschwand auch das andre Zelt vom Erdboden. Nach ganz kurzer Zeit war das gesamte Material, ohne daß der männliche Teil der Reisegesellschaft hätte eine Hand zu rühren brauchen, auf den Schlitten in schönster Ordnung verladen und dazu auch so, daß jedes Gepäckstück nicht allein den geringsten Raum in Anspruch nahm, sondern daß es auch, ohne die allgemeine Ordnung zu beeinträchtigen, leicht einzeln herausgenommen werden konnte. Ben Raddle, Summy Skim und alle bis auf Bill Stell waren über eine solche Geschicklichkeit im höchsten Maße erstaunt. Der erste fing, als er die überlegene Methode der »Teilhaberinnen« beobachtet hatte, schon an zu glauben, daß der von ihm eigentlich nur aus Gutmütigkeit eingegangene Kontrakt doch vielleicht einmal zu einem recht einträglichen Geschäfte führen könne.

Summy bewunderte rein verblüfft das Auftreten der zwei Reisegenossinnen, denen er immer auf dem Fuße, aber mit leeren Händen folgte, da sie sein hartnäckiges Anerbieten, ihnen zu helfen, lachend zurückwiesen.

Der Marsch ging heute nicht schneller vor sich als am Tage vorher. Der Weg wurde immer steiler, je mehr er sich dem Gipfel der Bergmasse näherte. Den kräftigen Maultieren gelang es jedoch, die Gefährte über den[107] holprigen, felsigen und vielfach rissigen Boden, der bei Tauwetter noch unwegsamer gewesen wäre, ohne Überanstrengung hinzuziehen.

Immer und überall die durcheinanderwimmelnde, lärmende Menschenmenge, immer wieder dieselben Hindernisse, die das Überschreiten des Chilkoot-Passes so beschwerlich machen. Immer die gezwungenen und manchmal langen Aufenthalte, wenn ein Gewirr von Schlitten und Gespannen die Straße verstopfte. Wiederholt mußten der Scout und seine Leute tüchtig mit zugreifen, um sich einen Durchgang zu öffnen.

n den Seiten des Weges lagen die Kadaver von Maultieren in immer größerer Zahl, je höher man hinauskam. Eins nach dem andern waren die Tiere gestürzt, getötet vom Froste, von der Anstrengung und vom Hunger, und die Hunde, die trotz der Bemühung ihrer Führer die Schlitten hinter sich herschleppten, stürzten sich wiederum auf dieses unerwartete Futter und stritten sich heulend um die letzten Reste davon.

Ein noch traurigeres Bild, den Leichnam eines vor Kälte und Erschöpfung eingegangnen Auswandrers zu sehen, den man irgendwo unter Bäumen oder auf dem Grunde von Vertiefungen hatte liegen lassen. Eine kleine Erhöhung der Schneeschicht, aus der eine Hand, ein Fuß oder ein Stückchen von der Kleidung herausguckte, verriet allein die Stelle des ephemeren Grabes, das der erste Frühlingswind wegwehen mußte. Anfangs wurde das Auge wohl unwiderstehlich von den unheimlichen Erhöhungen auf diese hingezogen, dann aber machte sich die Gewohnheit geltend und man zog mit zunehmender Teilnahmslosigkeit daran vorüber.

Manchmal waren es ganze Familien, Männer, Frauen und Kinder, die alle, unfähig sich weiterzuschleppen, auf dem eisigen Boden zusammengebrochen waren, ohne daß ihnen jemand zuhilfe kam. Unermüdlich befleißigten sich Edith und Jane, unterstützt von ihren Gefährten, solchen Unglücklichen Hilfe zu bringen, sie durch ein wenig Aquavit wieder zu beleben. Was vermochten sie aber gegenüber der großen Menge von Bedürftigen auszurichten? Bald mußten sie diese Unglücklichen ihrem Schicksal überlassen und den erschöpfenden Aufstieg dieses »Kirchhofsweges« wieder aufnehmen.

Alle fünf Minuten mußte Halt gemacht werden, entweder um die Maultiere verschnaufen zu lassen oder um das Freiwerden des verstopften Weges abzuwarten. An manchen Stellen, vorzüglich an scharfen Windungen, wurde dieser so schmal, daß das von vielen Auswandrern mitgeführte Material nicht ohne[108] weiteres hindurchgelangen konnte. Verschiedene Stücke von zerlegbaren Booten übertrafen an Größe die Breite des Pfades und mußten deshalb abgeladen und einzeln von Zugtieren weitergeschafft werden, was natürlich auch für die hinterherkommenden Gespanne einen beträchtlichen Zeitverlust verursachte.

An andern Stellen war der Weg wieder so steil, daß der Neigungswinkel zuweilen sogar fünfundvierzig Grad erreichte. Obgleich die Tiere mit scharfgezähnten Hufeisen versehen waren, weigerten sie sich hier doch, weiterzugehen, oder wichen wenigstens aus der Richtung ab, und nur durch anfeuernde Zurufe und den fleißigen Gebrauch der Peitsche konnte man sie dazu zwingen, eine solche Steigung der Straße zu nehmen, auf der die Zähne ihrer Hufeisen tiefe Eindrücke in dem festgefrornen Schnee und dazwischen manche Blutstropfen zurückließen.

Am Nachmittage gegen fünf Uhr ließ der Scout die Karawane halten. Die erschöpften Maultiere hätten keinen Schritt weiter machen können, obgleich ihre Last im Verhältnis zu der andrer Gefährte nur eine leichte war. Rechts vom Engpasse öffnete sich hier eine mit harzigen Bäumen reichlich bestandene Art Schlucht. Unter dem Gezweige dieser Bäume standen die Zelte dann geschützt gegen die heftigen Windstöße, die jetzt als Folge der aufsteigenden Luftwärme zu befürchten waren.

Bill Stell kannte diesen Platz, wo er schon mehr als einmal die Nacht zugebracht hatte; hier wurde also das Lager nach seinen Anweisungen aufgeschlagen.

»Sie fürchten einen baldigen Sturm? fragte ihn Ben Raddle.

– Ja, die heutige Nacht dürfte unangenehm werden, antwortete der Scout, wir werden uns kaum genug gegen das tolle Schneetreiben schützen können, das sich hier wie in einem Kessel zu fangen pflegt.

– Wir sind aber doch in Sicherheit, bemerkte dazu Summy Skim, in Sicherheit schon wegen der Gestalt und der Lage dieser Schlucht.

– Eben deshalb habe ich sie auch als Halteplatz gewählt,« erklärte Bill Stell.

Die Erfahrung des Scout hatte ihn nicht getäuscht. Gegen sieben Uhr abends setzte ein tüchtiger Sturmwind ein, der mit ungeschwächter Kraft bis zum Morgen gegen fünf Uhr anhielt. Ihn begleitete ein Schneegestöber, bei dem es kaum möglich war, zwei Meter weit noch etwas zu sehen. Man hatte die größte Mühe, die Ofen in Brand zu erhalten, denn der Sturm trieb den Rauch[109] nach innen und ebenso war es höchst beschwerlich, bei dem Unwetter den nötigen Holzbedarf herbeizuschaffen. Die Zelte hielten dem Winde zwar stand, Summy Skim und Ben Raddle mußten aber doch einen Teil der Nacht wach bleiben, weil sie immer befürchteten, daß das Zelt, das die jungen Mädchen beherbergte, weggerissen werden könnte.

Das geschah auch wirklich mit den meisten, die außerhalb der Schlucht aufgeschlagen worden waren, und als es wieder Tag wurde, ließ sich der vom Sturm angerichtete Schaden erst übersehen. Da hatten manche Gespanne ihre Fesseln zerrissen und sich überall hin zerstreut, da gab es umgeworfene Schlitten, einige davon in Vertiefungen neben der Fahrstraße, wo Bergbäche rauschten, hinuntergestürzt, und dort sah man wieder ganze Familien in Tränen gebadet, die vergeblich um Hilfe flehten, welche ihnen niemand bringen konnte... mit einem Worte: es war ein richtiges Unglück.

»Die armen, armen Menschen! murmelten die jungen Mädchen. Was soll nun aus ihnen werden?

– Ja, das ficht uns nicht an, erklärte mürrischen Tones der Scout, der sein doch ohnmächtiges Mitleid unter scheinbarer Hartherzigkeit verbarg... und da wir einmal nichts helfen können, ist es für uns am besten, baldigst aufzubrechen.«

Er veranlaßte sofort die Weiterfahrt und die Karawane setzte sich aufs neue bergauf in Bewegung.

Der Sturm hatte sich mit Tagesanbruch gelegt. Bei der schroffen Veränderung, die das Thermometer in so bedeutender Höhenlage nicht selten zeigt, war der Wind nach Nordosten umgeschlagen und die Lufttemperatur bis auf zwölf Grad unter Null gesunken. Die dicke Schneeschicht des Erdbodens war sofort wieder außerordentlich hart geworden.

Das Bild der Gegend hatte sich stark verändert. Jenseits der Abdachung des Bergpasses hatten die Waldmassen ausgedehnten weißen Ebenen Platz gemacht, deren Glitzern die Augen belästigte. Die Reisenden, die es außer acht gelassen haben, sich mit blauen, noch besser mit grauen Brillen zu versorgen, können hier nichts andres tun, als sich Wimpern und Augenlider mit pulverisierter Holzkohle zu bestreuen.

Auf die Empfehlung ihres Führers hin gebrauchten Ben Raddle und Summy Skim denn auch diese Vorsicht, sie konnten aber Edith und Jane nicht dazu bewegen, es ihnen gleichzutun.[110]

»Was werden Sie denn beginnen, Fräulein Jane, redete Ben dieser zu, die Goldkörnchen zu entdecken, wenn Sie nachher an einer schweren Augenentzündung leiden?

– Und Sie, Fräulein Edith, überbot Summy den Vetter noch, wie werden Sie dann imstande sein, Ihre Kranken zu pflegen?... Und wäre es nur um unsertwillen, liebes Fräulein, denn ich fühle es bestimmt, uns wird in diesem Teufelslande noch ein Unglück zustoßen und Sie werden einen Tag oder den andern im Krankenhause von Dawson unsre Barmherzige Schwester sein.«

Hier half aber kein Zureden. Die beiden jungen Mädchen zogen es vor, sich unter einem niederschlagbaren Teil ihrer Kapuzen zu verstecken, und wollten lieber vorläufig auf den Gebrauch der Augen verzichten als sich auf die erwähnte Weise beschmutzen, ein Beweis – wenn es eines solchen überhaupt noch bedürfte – daß die angeborene Koketterie auch bei der streitbarsten Frauenrechtlerin ihre Allmacht nicht verliert.

Am Abend des 29. April rastete die Karawane auf dem höchsten Punkte des Chilkoot-Passes, wo der Scout das Lager herrichten ließ. Am nächsten Morgen sollte dann der Abstieg über die nördliche Rampe des Bergrückens beginnen.

An dieser ganz kahlen und aller Unbill der Witterung ausgesetzten Stelle herrschte ein außerordentlicher Trubel. Mehr als dreitausend Auswandrer hatten sich hier schon angesammelt. Hier richten sie sich »Caches« (meist unterirdische Verstecke) ein, wo sie einen Teil ihrer Habseligkeiten einstweilen zurücklassen. Der Abstieg bietet nämlich auch noch außergewöhnliche Schwierigkeiten, so daß man ihn, um Unfälle zu vermeiden, nur mit kleinen Ladungen unternehmen kann. Alle diese Hitzköpfe, denen der verlockende Goldspiegel Klondikes eine übernatürliche Energie und zähe Ausdauer verleiht, schaffen dann also allemal nur eine Last Gepäckstücke bis zum Fuße des Berges und steigen dann wieder auf dessen Scheitelhöhe hinauf, einen weiteren Teil ihres Gepäcks zu holen. Dieses Auf- und Absteigen wiederholt sich, wenn es nötig wird, wohl fünfzehn- bis zwanzigmal und nimmt natürlich viele Tage in Anspruch. Hier können nun die Hunde unersetzliche Dienste leisten, ob sie dabei vor Schlitten angeschirrt werden oder nur einfach Ochsenhäute zu schleppen haben, deren man sich gern bedient, weil sie über den harten Schnee des Abhangs leicht hingleiten.

Dem Nordwinde trotzend, der in voller Wucht längs des Abhangs des Chilkoot hinauffegte und beim Abstieg ihre Beschwerden verzehnfachen sollte, hatten[111] die meisten Auswandrer am Nordrande des Engpasses Halt gemacht. Von diesem Punkte aus sahen die bedauernswerten Leute die Ebenen von Klondike endlich vor sich liegen. Da dehnten sie sich zu ihren Füßen aus, diese Wundergebiete, die ihre überhitzte Einbildung gleich zu unbegrenzten Goldfeldern verwandelte, wo für sie – ausgerechnet für sie – die Keime ungeheuern Reichtums und staunenerweckender Macht nur zum Aufheben bereit lägen. Ihre ganze Seele strebte hinaus nach diesem geheimnisvollen Norden, hinaus mit der ganzen Heftigkeit des Verlangens, mit der ganzen Kraft ihres Wundertraumes, dem bei so vielen nur ein schreckliches Erwachen folgen sollte.

Bill Stell und seine Karawane brauchten den Aufenthalt auf dem Berggipfel nicht wie andre zu verlängern; sie hatten ja kein Versteck aufzusuchen und hatten keine Veranlassung, den Abhang nochmals zu ersteigen, nachdem sie heruntergekommen waren. Einmal auf der Ebene angelangt, brauchten sie nur eine Strecke von wenigen Lieues zurückzulegen, um die Spitze des Lindemansees zu erreichen.

Das Lager wurde in gewohnter Weise aufgeschlagen. Die nächste Nacht war aber eine der schlimmsten. Die Temperatur hatte sich plötzlich gehoben und der Sturm begann mit erneuter Heftigkeit zu pfeifen. Die Zelte, die hier nicht im Schutze eines Hohlwegs lagen, wurden durch die Windstöße wiederholt von ihren Pflöcken losgerissen und mußten endlich ganz niedergelegt werden, weil sie sonst unfehlbar in dem tollen Schneetreiben mit fortgeflogen wären. Den Lagerinsassen blieb nichts andres übrig, als sich in ihre Decken zu wickeln und philosophisch den Anbruch des Tages abzuwarten.

»Na wahrlich, dachte Summy Skim, da reicht die ganze Philosophie aller Weltweisen des Altertums und der Gegenwart doch kaum aus, alle Greuel einer solchen Reise ruhig hinzunehmen, vorzüglich wenn man zu so einer Fahrt nicht unbedingt gezwungen ist!«

War es dann und wann in der Luft etwas ruhiger, so wurden dabei laute Schmerzens- und Schreckensschreie hörbar, in die sich auch lästerliche Flüche mischten. Und neben dem Jammern von Verwundeten, die der Wind über den Erdboden hinrollte, noch ein wütendes Gebell, ein lautes Wiehern und ohrenzerreißendes Gebrüll der erschreckten Tiere, die auf der Hochebene umherjagten.

Endlich graute der Morgen des 30. April. Bill Stell drängte zum Aufbruch. Die jetzt an die Stelle der Maultiere tretenden Hunde wurden an dieSchlitten gespannt, worauf aber niemand Platz nahm, und nun begann der ziemlich gefährliche Abstieg.


Auf der Höhe des Chilkoot.
Auf der Höhe des Chilkoot.

Dank der Vorsicht und der Erfahrung des Scout ging er ohne Unfall, wenn auch nicht ohne Beschwerden vonstatten und die beiden Schlitten erreichten glücklich die Ebene am Ende des Chilkoot-Passes. Das Wetter wurde jetzt besser. Der weniger scharfe Wind schlug nach Osten um und die Thermometersäule fing an zu steigen. Zum Glück hielt sie sich aber noch immer unter dem Nullpunkte, denn schnelles Tauwetter hätte die Wanderung sehr beschwerlich gemacht.

Am Fuße des Berges lagerte eine große Zahl von Auswandrern in Erwartung ihres nur allmählich unten eintreffenden Gepäcks. Platz war hier reichlich vorhanden, das Gedränge also nicht so lästig wie oben auf der Hochebene. Rings umher erhoben sich Waldungen, wo die Zelte unter gutem Schutze errichtet werden konnten.

Hier verbrachte unsre Karawane die nächste Nacht. Am folgenden Morgen zog sie auf recht bequemem Wege weiter und erreichte gegen Mittag ohne Zwischenfall die Südspitze des Lindemansees.

Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 96-97,99-101,103-105,107-113,115.
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