Siebentes Kapitel.
Jäger und Wild.

[85] Am Ufer der Donau, die im Nordosten das Ende des Praters begrenzt, befanden sich an diesem Augustnachmittage nur einige Spaziergänger. Ob diese wohl Ilia Brusch erwarteten? Wahrscheinlich, denn der hatte es sich ja angelegen sein lassen, den Tag und fast die genaue Stunde seines Eintreffens durch die Zeitungen anzukündigen. Wie sollten aber die auf sehr großem Raum verstreuten Neugierigen die Jolle, auf die sie nichts besondres hinwies, herausfinden?

Ilia Brusch hatte diese Schwierigkeit vorausgesehen. Sobald sein Fahrzeug festgelegt war, beeilte er sich, ein Paar Stangen aufzurichten und dazwischen ein langes Stück Leinen anzubringen, worauf man die Worte »Ilia Brusch, der erste Preisträger des Angelwettkampfs von[85] Sigmaringen« lesen konnte. Auf dem Dache seines Unterschlupfs – stolz »Koje« genannt – veranstaltete er mit den am Vormittag gefangenen Fischen eine Art Ladenauslage, in der der große Hecht den Ehrenplatz einnahm.

Diese echt amerikanische Reklame hatte einen ungeahnten Erfolg. Einige Lustwandelnde blieben vor der Jolle stehen und lockten dadurch andre an. Die Ansammlung nahm in kürzester Zeit einen solchen Umfang an, daß die wirklich Neugierigen nichts andres tun konnten, als sie zu betrachten. Als sie alle diese Leute in derselben Richtung hinlaufen sahen, schlossen sie sich ihnen an, ohne eigentlich zu wissen, warum. In weniger als einer Viertelstunde hatten sich gegen fünfhundert Menschen in der Nähe der Jolle zusammengedrängt. Ilia Brusch hatte einen solchen Erfolg niemals erwartet.

Bald kam es auch zu einem Gespräch zwischen dem Publikum und dem Fischer.

»Herr Brusch? fragte einer der Nächststehenden.

– Wie Sie sagen, antwortete dieser.

– Erlauben Sie mir, mich vorzustellen: Claudius Roth, einer Ihrer Kollegen vom Donaubunde.

– Sehr erfreut, Herr Roth.

– Es sind übrigens auch noch andre Kollegen zur Stelle. Hier die Herren Hanisch, Tietze und Hugo Zwiedinek, außer noch andern, die ich nicht kenne.

– Ich zum Beispiel, Matthias Kasselick aus Budapest, meldete sich ein Zuschauer.

– Und ich, fügte ein zweiter hinzu, Wilhelm Bickel aus Wien.

– Ich bin entzückt, meine Herren, hier unter Bekannten zu sein«, rief Ilia Brusch.

Fragen und Antworten kreuzten sich weiter, das Gespräch wurde allgemein.

»Haben Sie eine gute Fahrt gehabt, Herr Brusch?

– O, eine ganz vortreffliche.

– Jedenfalls eine schnelle Fahrt. Man hatte Sie hier nicht so bald erwartet.

– Nun, ich bin doch bereits vierzehn Tage unterwegs.[86]

– Von Donaueschingen bis Wien ist es aber sehr weit.

– Ungefähr neunhundert Kilometer; das macht für vierzehn Tage durchschnittlich wenig über sechzig Kilometer.

– Die Strömung legt so viel aber kaum in vierundzwanzig Stunden zurück.

– Das ist auf verschiedenen Strecken verschieden.

– Ja freilich. Nun aber Ihre Fische; haben Sie die gut verkaufen können?

– Sogar sehr gut.

– So sind Sie also mit Ihrer Reise zufrieden?

– Gewiß; in jeder Hinsicht

– Heute haben Sie offenbar einen recht glücklichen Fang getan, vorzüglich an dem prächtigen Hecht.

– Ja, der ist wirklich schön.

– Wieviel soll er kosten?

– Soviel Ihnen dafür zu zahlen beliebt. Ich denke, mit Ihrer Erlaubnis, meine Fische zu versteigern, und den großen Hecht zuletzt.

– Nun ja, das Beste zuletzt, meinte einer scherzend.

– Ein vortrefflicher Gedanke! sagte Herr Roth. Der Ersteher des Hechtes könnte ihn dann, statt sein Fleisch zu verspeisen, zum Andenken an Ilia Brusch ausstopfen lassen.«

Diese hingeworfenen Äußerungen hatten einen großen Erfolg, und die Versteigerung war bald lebhaft im Gange. Eine Viertelstunde später hatte der Fischer eine hübsche runde Summe eingeheimst, wozu der berühmte Hecht nicht weniger als fünfunddreißig Gulden beigetragen hatte.

Nach Beendigung des Verkaufs setzte sich das Gespräch zwischen dem Preisträger und der Gruppe seiner Bewunderer, die am Ufer standen, noch eine Zeitlang fort. Über das Vorhergegangene unterrichtet, wollten diese auch noch etwas über seine Zukunftspläne erfahren. Ilia Brusch antwortete da ganz zuvorkommend und erklärte, ohne daraus ein Geheimnis zu machen, daß er morgen noch in Wien bleiben und dann am Abend des nächsten Tages in Preßburg zu schlafen gedenke.

Mit der fortschreitenden Stunde verminderte sich allmählich die Zahl der Neugierigen, die sich zum Abendessen zurückzogen. Da nun Ilia Brusch meinte, daß er Ursache habe, auch an das seinige zu denken, zog er sich[87] zurück und überließ seinen Passagier der öffentlichen Bewunderung. So kam es, daß zwei Umherschlendernde, die durch die noch immer gegen hundert Köpfe zählende Ansammlung herangelockt worden waren, jetzt nur Karl Dragoch sahen, der allein unter dem leinenen Schilde saß, das urbi et orbi den Namen und die Eigenschaft des Preisträgers vom Donaubunde verkündete.

Der eine der neuen Ankömmlinge war ein großer Bursche etwa von dreißig Jahren mit breiten Schultern und blondem Haar und Bart, von dem slawischen Blond, das ein Erbteil dieser Rasse zu sein scheint, der andre, ebenfalls eine kraftvolle Erscheinung, der sich durch ungewöhnlich viereckige Schultern auszeichnete, war älter und seine leicht ergrauten Haare ließen darauf schließen, daß er schon die Vierzig überschritten habe.

Beim ersten Blick, den der Jüngere auf die Jolle warf, erzitterte er ein wenig und machte eine Bewegung zurückzuweichen, wobei er seinen Begleiter mit sich zog.

»Das ist er, sagte er mit verhaltener Stimme, als beide aus der Menge heraus waren.

– Glaubst du?...

– Ganz sicher! Hast du ihn denn nicht erkannt?

– Wie sollte ich ihn erkannt haben, ich habe ihn doch noch nie gesehen?«

Jetzt folgte ein kurzes Schweigen. Die beiden Sprecher dachten nach.

»Und er ist allein in der Jolle? fragte der Ältere.

– Ganz allein.

– Ist das auch wirklich die Jolle Ilia Bruschs?

– Da ist kein Zweifel möglich. Der Name stand ja auf dem Leinenstreifen.

– Das ist nicht zu begreifen.«

Ein erneutes Schweigen, worauf der Jüngere wieder das Wort nahm.

»Er wäre es also, der unter lautem Tamtam diese Reise unter dem Namen Ilia Brusch macht?

– Jedenfalls, doch zu welchem Zwecke?«

Der Mann mit dem blonden Barte zuckte die Achseln.

»Nun, in der Absicht, unerkannt die Donau hinunterzufahren. Das ist doch klar.


Wien, Eingang in den Prater.
Wien, Eingang in den Prater.

– Zum Teufel! stieß sein halbergrauter Genosse hervor.

– Das nimmt mich nicht besonders wunder, meinte[88] der andre. Er ist ein Schlaukopf, dieser Dragoch, und sein Streich würde gewiß gelungen sein, wenn wir nicht zufällig hier vorübergekommen wären.«

Der ältere der beiden schien noch nicht völlig überzeugt zu sein.

»Ach, das ist ein Roman, murmelte er zwischen den Zähnen.

– Gewiß, Titscha, ganz richtig, stimmte sein Begleiter ihm bei, doch Dragosch liebt einmal die romanhaften Mittel. Über die Sache müssen wir uns noch mehr klar werden. Man sagt um uns herum, daß die Jolle noch morgen den ganzen Tag in Wien bleiben werde. Wir brauchen also nur hierher zurückzukehren. Ist Dragoch dann noch immer da, so ist er es, der sich in die Haut Ilia Bruschs gesteckt hat.

– Und was werden wir in diesem Falle tun?«

Der andre gab nicht sogleich Antwort.

»Das werden wir zu überlegen haben«, meinte er dann.

Beide schritten nun der Stadt zu und ließen die Jolle umgeben von einer mehr und mehr dünn werdenden Gaffermenge.

Friedlich verlief die Nacht für Ilia Brusch und dessen Passagier. Als dieser aus der Koje trat, fand er den ersten dabei, seine Angelgeräte einer gründlichen Besichtigung zu unterziehen.[89]

»Schönes Wetter heute, Herr Brusch, sagte Karl Dragoch an Stelle eines ›Guten Morgen‹.

– Ja, sehr schönes, Herr Jäger, stimmte ihm Ilia Brusch bei.

– Wollen Sie, Herr Brusch, das nicht zu einem Besuche der Stadt benützen?

– O nein, Herr Jäger. Ich bin von Natur gar nicht neugierig, und habe auch hier den ganzen Tag vollauf zu tun. Nach einer Fahrt von zwei Wochen ist es kein Luxus, alles ein bißchen wieder in Ordnung zu bringen.

– Na, wie Sie denken, Herr Brusch. Ich werde Ihre Gleichgültigkeit aber nicht nachahmen und voraussichtlich bis zum Abend in der Stadt bleiben.

– Das begreife ich, Herr Jäger, erklärte Ilia Brusch, da Sie ja in Wien wohnhaft sind. Vielleicht haben Sie hier auch Familie, die sich freuen wird, Sie wiederzusehen.

– Da täuschen Sie sich, Herr Brusch; ich bin nicht verheiratet.

– Schlimm genug, Herr Jäger, schlimm genug! Auch zwei sind nicht zuviel, die Last des Lebens zu tragen.«

Karl Dragoch mußte ein wenig lachen.

»Was zum Henker, Herr Brusch, Sie sind heute nicht bei rosiger Laune!

– Ja, man hat so seine Tage, Herr Jäger, erwiderte der Fischer. Das soll Sie aber ja nicht verhindern, sich so gut wie möglich zu amüsieren.

– Ich will's wenigstens versuchen, Herr Brusch«, antwortete Karl Dragoch im Fortgehen.

Quer durch den Prater begab er sich nach der Hauptallee, die in der Saison den Treffpunkt der eleganten Wienerinnen bildet. Zur jetzigen Jahreszeit und zu dieser Stunde war die Hauptallee aber verhältnismäßig leer, und er konnte eilig dahinschreiten, ohne von einer Menschenmenge aufgehalten zu werden.

Immerhin waren noch genug Besucher hier, daß ihm zwei Spaziergänger, die er gleichzeitig mit andern kreuzte, nicht besonders auffielen, als er auf die Höhe des – künstlichen – Konstantinhügels gelangt war, mit dem man die Perspektive des Praters unterbrechen zu sollen geglaubt[90] hat. Ohne sich um die beiden Männer zu kümmern, setzte Karl Dragoch seinen Weg ruhig fort und betrat nach zehn Minuten ein kleines Café am sogenannten Praterstern. Hier wurde er erwartet. Ein schon an einem Tischchen sitzender Gast erhob sich, als er ihn erblickte, und ging ihm entgegen.

»Guten Tag, Uhlmann, grüßte Karl Dragoch.

– Guten Tag, Herr Dragoch, antwortete Friedrich Uhlmann.

– Nun, noch immer nichts neues?

– Noch immer nichts.

– Das ist gut. Diesmal haben wir einen ganzen Tag vor uns und können reiflich überlegen, was nun zu tun ist.«

Während Karl Dragoch die beiden Spaziergänger in der Hauptallee nicht bemerkt hatte, hatten ihn diese – dieselben Individuen, die durch Zufall gestern vor die Jolle Ilia Bruschs gekommen waren – im Gegenteil sehr genau gesehen. Mit einer gleichzeitigen Bewegung hatten sie sich, als der Chef der Donaupolizei vorbei war, umgesehen und waren ihm, um jedes Aufsehen zu vermeiden, in genügender Entfernung gefolgt. Nach Dragochs Verschwinden in dem kleinen Café hatten sie sich in ein ähnliches, diesem gegenüber an der andern Seite des Sterns gelegenes Etablissement begeben, entschlossen, hier, wenn nötig, den ganzen Tag im Hinterhalte auszuharren.

Ihre Geduld wurde hart auf die Probe gestellt. Nachdem sie mehrere Stunden der Besprechung über ihr nächstes Tun und Lassen gewidmet hatten, setzten sich Dragoch und Uhlmann gemütlich zu einer Mahlzeit nieder und ließen sich, um der erstickenden Luft des Raumes zu entgehen, im Freien noch eine Tasse Kaffee bringen, die ja einmal zur Vervollständigung eines Essens unentbehrlich geworden ist. Schon waren sie dabei, sich daran zu laben, als sich auf Dragochs Gesicht plötzlich ein lebhaftes Erstaunen malte. Als wäre es ihm wichtig, unerkannt zu bleiben, eilte er ins Innere des Restaurants zurück, wo er durch die Vorhänge eines Fensters einen Mann beobachtete, der eben über den Platz ging.

»Gott verzeihe mir... er ist es!« murmelte Dragoch, indem er Ilia Brusch mit den Augen folgte.

Wirklich war es Ilia Brusch, leicht erkennbar an seinem glattrasierten Gesicht, seiner Brille und an den schwarzen, denen eines Süditalieners[91] ähnlichen Haaren. Als dieser in die Kaiser Josefstraße eingetreten war, kam Dragoch wieder zu dem noch auf der Terrasse sitzenden Uhlmann heraus, befahl diesem, solange wie nötig hier zu warten, und machte sich dann zur Verfolgung des Fischers auf.

Ilia Brusch ging, ohne sich umzusehen, mit der Ruhe eines friedlichen Gewissens seines Weges dahin. Gemächlichen Schrittes wanderte er bis zum Ende der Kaiser Josefstraße, dann in gerader Linie durch die Anlagen des Augartens und gelangte von hier zur Brigittenau. Einige Augenblicke schien er zu zögern, trat aber schließlich in einen ziemlich unsauber aussehenden Trödlerladen, dessen magres Schaufenster nach einer der elendesten Straßen dieses Arbeiterviertels hinauslag.

Eine halbe Stunde später kam er, immer ohne es zu ahnen, von Dragoch verfolgt, der es im Vorübergehen aber nicht unterließ, die Firma des Ladens zu lesen, worin sein Reisegefährte verschwunden war, wieder heraus und schlug den Weg erst nach der Rembrandtgasse ein, ging hierauf an der linken Seite des Kanals hin und erreichte die Praterstraße, der er bis zum Praterstern folgte. Offenbar begab er sich nach der Jolle zurück, so daß es Karl Dragoch für nutzlos hielt, ihm noch länger an den Fersen zu bleiben.

Dieser kehrte nun nach dem kleinen Café zurück, wo Friedrich Uhlmann ihn getreulich erwartet hatte.

»Kennst du einen Juden namens Simon Klein? fragte er, an ihn herantretend.

– Gewiß, antwortete Uhlmann.

– Was ist's mit diesem Juden?

– An dem ist nicht viel Gutes. Ein Trödler, Wucherer und gelegentlich Hehler; ich glaube, mit diesen drei Worten ist er vom Kopf bis zu den Füßen charakterisiert.

– Das dachte ich mir doch gleich«, murmelte Dragoch, der in tiefes Nachdenken versunken zu sein schien.

Nach kurzer Zeit fuhr er fort mit den Worten:

»Wie viele Leute haben wir hier?

– Gegen vierzig, antwortete Uhlmann.

– Das genügt.... Nun passe wohl auf. Von dem, was wir diesen Morgen besprochen haben, ist abzusehen. Ich ändre meinen Plan, denn je[92] weiter ich gehe, desto mehr habe ich die Empfindung, daß sich die Geschichte an dem Orte – sei es wo es ist – entwickeln wird, wo ich selbst mich befinde.

– Und wo werden Sie da sein?... Ich verstehe das nicht.

– Das ist auch nicht nötig. Du wirst unsre Leute, je zwei und zwei Mann am rechten Donauufer staffelförmig von fünf zu fünf Kilometer aufstellen, und zwar von zwanzig Kilometer jenseits Preßburgs an. Ihre einzige Aufgabe wird darin bestehen, mich zu bewachen. Sobald der nächste Posten mich bemerkt hat, hat er sich bis fünf Kilometer vor den äußersten zu begeben, und in gleicher Weise weiter. Verstanden?... Daß sie mir jedenfalls nicht fehlen!

– Und ich? fragte Uhlmann.

– Du wirst es so einrichten, daß du mich nie aus dem Auge verlierst. Da ich mich mitten auf dem Flusse in einer Jolle befinde, wird das nicht schwierig sein. Deine Leute haben, wenn sie ihren Posten antreten, alle möglichen Nachrichten einzuziehen. Im Notfalle wird der Posten, bei dem sich ein ernster Vorgang ereignet, die andern davon benachrichtigen, die dann bei diesem zusammenzukommen haben.

– Verstanden und zu Befehl, Herr Dragoch.

– Sie sollen auch unverzüglich aufbrechen, und ich erwarte, sie morgen auf ihrem Posten zu finden.

– Sie werden an ihrer Stelle sein«, versicherte Uhlmann.

Noch zwei- oder dreimal erläuterte Karl Dragoch seinen Plan, ohne zu ermüden und bis zu dem Augenblick, wo er sich, überzeugt, von seinem Untergebenen völlig verstanden zu sein, anschickte, wegen der vorgeschrittenen Stunde zur Jolle zurückzukehren.

In dem kleinen Café an der andern Seite des Platzes hatten die beiden Spaziergänger aus dem Prater ihre Spionage nicht unterbrochen. Sie hatten, ohne den Grund zu vermuten, Dragoch fortgehen sehen, da Ilia Brusch ihre Aufmerksamkeit nicht mehr erregt hatte, als jeder andre, der hier vorüberkam. Ihr erster Gedanke war der gewesen, ihm nachzuschleichen; das Zurückbleiben Uhlmanns hielt sie aber davon ab. Durch dessen Anwesenheit beruhigt, hatten sie auch selbst gewartet, überzeugt, daß Karl Dragoch jedenfalls bald zurückkehren würde.

Das Wiedererscheinen des Detektivs hatte die Richtigkeit dieses Gedankenganges bestätigt, und als dieser mit Uhlmann im Innern des Cafés verschwunden[93] war, hielten sie sich weiter verborgen, bis sich der Chef der Polizei von seinem Untergebenen trennte.

Während sie den einen ruhig davongehen ließen, folgten die beiden Kumpane Karl Dragoch nach und gingen hinter ihm die Hauptallee, aber in entgegengesetzter Richtung als heute morgen, hinaus. Nach dreiviertelstündigem Marsche blieben sie stehen, da jetzt die Baumreihe am Donauufer sichtbar wurde und es nicht mehr zweifelhaft war, daß Dragoch nach seinem Fahrzeuge zurückkehrte.

»Es ist nutzlos, noch weiter zu gehen, sagte der Jüngere. Wir sind jetzt überzeugt, daß Ilia Brusch und Karl Dragoch einunddieselbe Person sind. Der Beweis dafür liegt vor, und wenn wir ihm noch weiter folgen, laufen wir Gefahr, von ihm bemerkt zu werden.

– Was werden wir nun tun? fragte sein Genosse mit dem Körperbau eines Preisringers.

– Das wollen wir besprechen, erwiderte der andre. Ich habe schon einen Gedanken.«

Und während die beiden Männer sich so lebhaft mit seiner Person beschäftigten und, indem sie sich nach dem Praterstern zu entfernten, Pläne schmiedeten, deren Durchführung nicht viel voneinander abwich, begab sich Karl Dragoch wieder in die Jolle, ohne etwas von der Spionage zu ahnen, deren Gegenstand er im Laufe des Tages gewesen war. Hier fand er Ilia Brusch, eifrig mit der Herrichtung des Abendessens beschäftigt, das beide eine Stunde später und gewohnheitsgemäß rittlings auf einer der Bänke sitzend, gemeinschaftlich verzehrten.

»Nun, Herr Jäger, sind Sie mit Ihrem Spaziergange zufrieden? erkundigte sich Ilia Brusch, als aus den Pfeifen wieder die duftenden Wolken aufwirbelten.

– Über alle Erwartung, antwortete Karl Dragoch. Und Sie, Herr Brusch, haben Sie Ihren Vorsatz nicht geändert und haben Sie sich nicht entschlossen, die Stadt Wien ein wenig zu durchstreifen? Vielleicht, um hier den oder jenen Besuch abzustatten?

– Ich bitte Sie, nein, Herr Jäger, versicherte Ilia Brusch. Ich kenne hier ja keine Seele. Seit Sie fortgegangen waren, hab' ich keinen Fuß auf den Erdboden gesetzt.

– Das ist stark![94]

– Es ist aber so. Ich habe meine Jolle nicht verlassen, wo ich ja bis zum Abend gerade Arbeit genug hatte.«

Karl Dragoch erwiderte nichts. Die Gedanken, die die offenbare Lüge seines Wirtes in ihm erweckten, behielt er für sich, und beide sprachen noch von dem und jenem, bis die Stunde zum Schlafen herankam.

Quelle:
Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 85-95.
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