Zwölftes Capitel.
Einige Bemerkungen Germain Paterne's.

[163] Die Abfahrt der drei Piroguen erfolgte am nächsten Tage mit den ersten Strahlen der Morgensonne. Am vorhergehenden Nachmittage war alles Gepäck bereits wieder verladen worden, und da die Ueberschiffung des Raudals ohne Havarien abgelaufen war, erlitt die Weiterreise keine Verzögerung.

Zwischen Atures und dem Städtchen San-Fernando sollten die Reisenden allerdings nicht mehr wie bisher durch alle Nebenumstände begünstigt werden. Der Wind, der Neigung zum Abflauen zeigte, reichte da jedenfalls nicht hin, die Falcas gegen die Strömung des Orinoco fortzutreiben, höchstens genügte[163] er, die Fahrzeuge davon nicht zurückführen zu lassen. Da die Brise aber immer noch der Hauptrichtung nach aus Norden stand und nach Westen zu nur unwesentlich abwich, wurden die Segel dennoch gehißt, wenn man auch erwartete, daß Estrilla oder Palancas zu Hilfe genommen werden müßten.

Wir brauchen wohl kaum zu erwähnen, daß jede Gruppe in ihrer eigenen Pirogue wieder Platz genommen hatte – der Sergeant Martial und Jean von Kermor auf der »Gallinetta«, die Herren Miguel, Felipe und Varinas an Bord der »Maripare«, und Jacques Helloch nebst Germain Paterne auf der »Moriche«.

Wo immer möglich, segelte man in einer Front, und meist – der Sergeant Martial bemerkte es mit heimlichem Grollen – glitt die »Moriche« dicht neben der »Gallinetta« hin, was den Passagieren erlaubte, miteinander zu plaudern, und woran diese es auch nicht fehlen ließen.

Im Laufe des Vormittags legten die Falcas nicht mehr als fünf Kilometer stromaufwärts zurück. Zuerst mußten sie sich nämlich durch die Unmasse von Eilanden und Rissen winden, die im Strombette oberhalb Atures aufragen. Auch die Segelstellung konnte dabei natürlich nicht gleichmäßig beibehalten werden. Durch die engen Wasserstraßen rauschten die Fluthen rasend schnell herab, und die Palancas mußten hier ebenso geschickt wie kraftvoll gehandhabt werden.

Als die Flottille sich gegenüber dem Cerro Pintado befand, wurde das Bett des Orinoco freier, und nachdem die Falcas mehr nach dem rechten Ufer gesteuert waren, konnten sie, da hier eine schwächere Strömung stand, die Brise mit einigem Vortheil benutzen.

Ein gutes Stück hinter dem gegenüberliegenden Ufer erhob sich der Cerro Pintado, den Herr Miguel und seine Collegen besucht hatten und dessen merkwürdig gestaltete Steinmasse, die weiten, von Guahibo-Indianern bewohnten Ebenen der Nachbarschaft beherrschend, noch recht deutlich erkennbar war.

Je mehr sich die Sonne dem Horizonte zuneigte, desto mehr räumte der schwächer werdende Wind nach Nordosten, und gegen fünf Uhr am Nachmittage legte er sich ganz.

Die Piroguen befanden sich jetzt in der Höhe des Raudals von Garcita. Auf den Rath des Schiffers Valdez hin richteten sich die Passagiere ein, an dieser Stelle, die ihnen für die Nacht passenden Schutz bot, Halt zu machen.

Die heute zurückgelegte Strecke maß nur fünfzehn Kilometer, und am nächsten Morgen brach man mit Tagesgrauen wieder auf.[164]

Die Ueberwindung des Raudals von Garcita bot keine besondern Schwierigkeiten. Dasselbe ist das ganze Jahr über befahrbar, ohne daß die Fahrzeuge entlastet werden müßten. Im laufenden Monat hatte der Orinoco übrigens so vollschiffiges Wasser, daß er, vorzüglich für flachbodige Stromschiffe, überall tief genug war.

Mit der jetzt herangekommenen Mitte des September begann freilich das Fallen des Wassers, und die bald eintretende trockne Jahreszeit mußte das stark beschleunigen.

Noch gab es indeß häufige und ergiebige Regengüsse. Solche hatten die Reisenden überhaupt seit der Abfahrt nicht verschont, und diese sollten bis zur Ankunft in San-Fernando noch so manches himmlische Sturzbad bekommen. Grade heute zwangen endlose Platzregen Alle, in den Deckhäusern Schutz zu suchen. Dabei frischte aber die Brise aufs neue etwas mehr auf, worüber sich gewiß niemand zu beklagen hatte.

Am Abend gingen die Piroguen an einer nach Osten verlaufenden Krümmung des Stromes vor Anker, und zwar an geschützter Stelle zwischen dem rechten Ufer und der nicht fern gelegenen Insel Rabo Pelado.

Zwischen sechs und sieben Uhr suchten die Jäger den von fast undurchdringlichem Unterholz bedeckten Rand der Insel ab und erlegten dabei ein halbes Dutzend Gabiotas, eine Art kleiner, etwa taubengroßer Schwimmvögel, die beim Abendessen verzehrt wurden.

Auf dem Rückwege gelang es Jacques Helloch noch, einen der jungen Kaimans zu schießen, die von den Indianern Babas genannt und für einen Leckerbissen erklärt werden.

Die daraus bereitete Speise, hier zu Lande Sancocho genannt, wurde von den Tischgenossen indeß verschmäht und gern den Mannschaften überlassen.

Nur Germain Paterne wollte davon kosten, weil es einem Naturforscher zusteht, nicht wählerisch zu sein und im Interesse der Wissenschaft auch Opfer zu bringen.

»Na... wie schmeckts? fragte ihn Jacques Helloch.

– Ei nun, antwortete Germain Paterne, der erste Bissen mundet ja nicht sonderlich, der zweite aber...

– Der... der...

– Der schmeckt ganz abscheulich!«

Der Sancocho war damit ohne Widerspruch abgeurtheilt.[165]

Am nächsten Tage Abfahrt von der Insel Rabo Pelado und Fortsetzung der Schifffahrt nach Südwesten – in der Richtung, die der Orinoco bis zum Raudal der Guahibos beibehält. Heute unausgesetzter Regen. Intermittierende Brise aus Nordosten. Die Segel der Piroguen hängen einmal schlaff am Maste herab und werden dann wieder wie die Hülle eines Luftballons aufgebläht.

Am Abend legte Valdez stromabwärts an der Insel Guayabo an, nachdem nur zwölf Kilometer zurückgelegt waren, da die Kraft des Windes die Macht der Strömung nicht überwinden konnte.

Am nächsten Tage erreichten die Piroguen nach anstrengender Fahrt das Raudal der Guahibos und ankerten an der Mündung des Stromarmes von Carestia, der mit dem rechten Ufer eine lange Insel da umschließt, wo diese den Lauf des Orinoco theilt.

Dem Abendessen, das mit einem Paare Huccos, einer Art von Wasservögeln, die am Inselufer erlegt wurden, gewürzt war, folgte eine friedlich stille Nacht.

Hier bildet der Strom viele Windungen, ist zwar recht breit, doch mit Inseln und Eilanden übersäet. Außerdem durchschneidet ihn eine Barre, über die die Fluthen in schäumendem Falle herabrauschen. Die romantische wilde Scenerie der Umgebung ist wohl eine der schönsten, die man längs des mittleren Orinoco antrifft.

Die Reisenden hatten Zeit genug, sie zu bewundern, denn sie brauchten einige Stunden, um über das Raudal der Guahibos hinauszukommen. Die Piroguen fuhren darüber hin, ohne daß eine Entlastung nöthig war, obgleich es in der Regel mehr Schwierigkeiten bietet, als das von Garcita.

Gegen drei Uhr des Nachmittags langte die Gesellschaft, die dem Stromarme des linken Ufers gefolgt war, bei dem Dorfe Carestia an, wo wieder Alles ausgeschifft werden sollte, um den Piroguen die Fahrt über das Raudal von Maipures zu erleichtern.

Hier war also dasselbe Verfahren wie in Puerto-Real zu befolgen. Indianer übernahmen es, das Gepäck auf dem Rücken weiterzuschaffen und begleiteten die Reisenden nach Maipures, wo diese noch vor fünf Uhr Halt machten.

Die Entfernung zwischen Carestia und Maipures beträgt übrigens nur zehn Kilometer, und der Pfad längs des Ufers erwies sich recht gut gangbar.

Hier sollten nun die »Gallinetta«, die »Maripare« und die »Moriche«, die zu derselben Strecke drei bis vier Tage brauchten, abgewartet werden.[166]

Wenn das Raudal von Maipures nämlich auch weniger lang ist als das von Atures, so setzt es der Fahrt darüberhin doch vielleicht noch ernstere Hindernisse entgegen. Der Niveauunterschied des Wassers beträgt hier nämlich mehr... zwölf Meter auf eine Strecke von sechs Kilometern. Auf den Eifer und die Geschicklichkeit der Führer und ihrer Leute konnte man sich indeß verlassen, sie würden gewiß alles Mögliche thun, um Zeit zu gewinnen.

Uebrigens hatte es ja kaum fünf voller Tage bedurft, um die sechzig Kilometer, die die beiden bedeutendsten Raudals dieses Theiles des Orinoco trennen, zurückzulegen.

Die Maipures-Indianer, die dem Dorfe den Namen gaben, bildeten einen alten Stamm, der jetzt freilich auf wenige Familien zusammengeschmolzen und in seinem Typus durch Blutkreuzung stark verändert war. Das am Fuße eines steil abfallenden, imposanten Granitufers gelegene Dorf zählt höchstens noch zehn Hütten.

Hier sollte sich also die kleine Truppe für einige Tage und unter Verhältnissen, die denen im Dorfe Atures auffallend glichen, einquartieren.

Das war übrigens das letztemal, wo die Reisenden, ehe sie in San-Fernando eintrafen, die Piroguen würden verlassen müssen. Bis zu der genannten Ortschaft hin ist der Orinoco nicht mehr durch Stromschnellen unterbrochen, die einerseits die Ausschiffung der Passagiere nebst allem Gepäck und andrerseits das Schleppen der Fahrzeuge über den felsigen, von schäumendem Wasser übertosten Grund nöthig gemacht hätten. Das Beste war es demnach, sich in Geduld zu fassen und nicht über diesen Zustand der Dinge unmuthig zu werden; so fügte man sich denn geduldig in diese neue Verzögerung, was der Sergeant Martial, der die Ankunft in San-Fernando mit brennendem Verlangen erwartete, auch sagen und brummen mochte.

Maipures war nicht der Ort, wo man sich hätte mit Ausflügen die Zeit vertreiben können, wie das auf den Ebenen um den Cerro Pintado der Fall gewesen war. Hier beschränkte man sich darauf, zu jagen und zu botanisieren. Der junge Mann, den der Sergeant Martial stets begleitete, bekundete ein lebhaftes Interesse an den wissenschaftlichen Spaziergängen Germain Paterne's, während die Jäger für die täglichen Lebensbedürfnisse sorgten.

Das letztere war nützlich, sogar nothwendig, denn die in la Urbana und bei den früheren Jagden gesammelten Vorräthe gingen jedenfalls zu Ende, ohne daß sie hätten erneuert werden können, wenn noch eine unerwartete Verzögerung eintrat.[167]

Von Maipures bis San-Fernando waren aber in Folge des unregelmäßigen Stromverlaufes wenigstens noch hundertdreißig bis hundertvierzig Kilometer zu rechnen.

Am Nachmittage des 18. Septembers kamen die drei Falcas endlich vor dem Dorfe an; sie hatten sich am linken Flußufer gehalten, wo auch dessen wenige Hütten standen. Seiner Lage nach gehört es nicht zu Venezuela, sondern zu Columbia. Nur der Leinpfad dieses Ufers bleibt vertragsmäßig bis 1911 neutraler Boden und wird erst von da ab columbisches Gebiet werden.

Man sieht, daß Valdez und seine Gefährten tüchtig bei der Arbeit gewesen waren, da sie das Raudal binnen fünf Tagen hatten überwinden können. Ohne den nächsten Tag abzuwarten, wurden die Piroguen wieder beladen und nahmen am frühen Morgen des 19. ihre Fahrt von neuem auf.

Den ganzen, sehr regnerischen Tag lang mußte sich die Flottille noch durch ein endloses Gewirr von Eilanden und Rissen, die die Wasserfläche überragten, hindurchwinden. Da jetzt der Wind von Westen wehte, unterstützte er auch nicht die Fortbewegung der Falcas, doch selbst ein Nordwind hätte diesen kaum genützt, da sie bei den gewundenen Fahrstraßen ihre Richtung so sehr häufig wechseln mußten.

Jenseits der Mündung des Sipopo befindet sich noch ein kleines Raudal, das von Sijuaumi, dessen Passage nur wenige Stunden erforderte, ohne daß eine Umladung nothwendig war.

In Folge der verschiedenen Hemmnisse der Fahrt konnten die Piroguen jedoch nicht bis über die Mündung des Rio Vichada hinauskommen, wo sie für die Nacht anlegten.

Die beiden Ufer des Stromes bieten hier einen auffallenden Contrast. Im Osten ist das Land mit schwachen Bodenwellen, regelmäßigen Bancos oder mäßigen Hügeln bedeckt, die sich an entfernter liegende Bergzüge anschließen, deren Kämme von der dem Untergange nahen Sonne die letzten Strahlen erhielten. Im Westen dagegen dehnen sich endlos scheinende Ebenen aus, bewässert von den dunkeln Fluthen des Vichada, der, aus den columbischen Ilanos hervorbrechend, dem Bette des Orinoco beträchtliche Wassermengen zuführt.

Vielleicht erwartete Jacques Helloch, daß die Herren Felipe und Varinas in einen Meinungsaustausch bezüglich des Vichada eintreten würden, denn dieser konnte mit demselben Rechte wie der Guaviare und der Atabapo alsein Hauptarm des Stromes betrachtet werden. Das geschah aber nicht. Die beiden Gegner waren nicht mehr weit entfernt von der Stelle, wo die von ihnen mit Vorliebe vertretenen Zuflüsse mündeten.


Jean hatte Alles mit angehört. (S. 173.)
Jean hatte Alles mit angehört. (S. 173.)

An Ort und Stelle und vom Augenschein unterstützt, konnten sie dann ja noch genug streiten.

Der nächste Tag brachte sie ihrem Ziele um zwanzig Kilometer näher. Auf dem jetzt von Rissen freien Strome gestaltete sich die Schifffahrt leichter. Die Schiffer konnten auch einige Stunden lang die Segel benutzen und sich bei geringerer Anstrengung dem auf dem linken Ufer gelegenen Dorfe Mataweni, neben dem gleichnamigen Rio, nähern.

Hier sah man nur ein Dutzend Hütten von Guahibos-Indianern, die in den Gebieten am Orinoco und vorzüglich auf dessen linkem Ufer hausen. Hätten die Reisenden Zeit gehabt, den Mataweni ein Stück hinauf zu fahren, so würden sie noch mehrere Dörfer angetroffen haben, die von jenen sanftmüthigen, fleißigen und intelligenten Indianern, welche mit den Kaufleuten in San-Fernando vorzüglich Maniochandel treiben, bewohnt sind.

Wären Jacques Helloch und Germain Paterne hier allein gewesen, so hätten sie an der Mündung dieses Nebenflusses für einige Zeit ebenso, wie vor einigen Wochen in la Urbana, Halt gemacht. Freilich war ihr Zug durch die Sierra Matapey nahe daran gewesen, schlecht abzulaufen. Als die »Moriche« aber, Bord an Bord mit der »Gallinetta«, am Ufer bei Mataweni verankert lag, glaubte Germain Paterne doch, den ihn beherrschenden Gedanken Ausdruck geben zu müssen.

»Mein lieber Jacques, begann er, wir sind vom Minister für öffentliche Aufklärung mit einer wissenschaftlichen Mission zur näheren Erforschung des Orinoco betraut worden, und wenn ich nicht irre...

– Worauf zielst Du hinaus? fragte Jacques Helloch, erstaunt über diese Einleitung.

– Sehr einfach, Jacques; bezieht sich diese Mission denn ausschließlich auf den Orinoco?

– Auf den Orinoco und seine Nebenflüsse.

– Nun, um es gerade heraus zu sagen, mir scheint, wir vernachlässigen, wenigstens von la Urbana aus, die Zuflüsse des stolzen Stromes etwas gar zu sehr.

– Meinst Du?[171]

– Gewiß, lieber Freund! Haben wir etwa den Suapure, den Pararuma und den Paraguaza am rechten Ufer näher erforscht?

– Ich denke nicht.

– Sind wir mit unsrer Pirogue zwischen den Ufern des Meta am linken Stromufer eingedrungen, jenes Meta, der einen der bedeutendsten Nebenflüsse der großen venezuolanischen Wasserader bildet?

– Nein, wir sind an der Mündung des Meta vorübergekommen, ohne ihr weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

– Und wie steht's mit dem Sipopo?

– Den Sipopo haben wir außer Acht gelassen.

– Und den Rio Vichada?

– Wir haben unsre Verpflichtungen bezüglich des Rio Vichada in greulichster Weise verletzt.

– Und Du bist noch zum Scherzen aufgelegt, Jacques?

– Natürlich, mein guter Germain, denn eigentlich müßtest Du Dir doch sagen, daß wir das, was wir auf der Hinreise nicht gethan haben, auf der Rückreise bequem nachholen können. Ich denke, jene Nebenflüsse werden noch nicht von der Bildfläche verschwinden, werden auch in der heißen Jahreszeit nicht austrocknen, und wir finden sie bestimmt an ihren gewohnten Plätzen, wenn wir auf dem stolzen Hauptstrome zurückschwimmen...

– Jacques, Jacques... wenn uns die Ehre zutheil wird, vom Minister für öffentliche Aufklärung empfangen zu werden...

– Nun, da werden wir dem hohen Herrn einfach sagen: Wären wir allein gewesen, Eure Excellenz, so hätten wir diese Untersuchung gewiß bei der Bergfahrt auf dem Orinoco ausgeführt; wir befanden uns aber in Gesellschaft – in guter Gesellschaft – und es erschien uns rathsamer, mit dieser vereint bis San-Fernando zu gehen...

– Wo wir uns, wie ich annehme, einige Zeit aufhalten werden, fiel Germain Paterne ein.

– Jedenfalls so lange, bis die Frage bezüglich des Guaviare und des Atabapo endgiltig entschieden ist, antwortete Jacques Helloch, obgleich mir die Entscheidung zu Gunsten des Herrn Miguel schon im voraus sicher zu sein scheint. Uebrigens wird das eine vortreffliche Gelegenheit bieten, die beiden Zuflüsse in Gesellschaft der Herren Felipe und Varinas eingehend zu besichtigen. Du kannst Dich darauf verlassen, daß unsre Mission dabei nur gewinnen und[172] daß der Minister der öffentlichen Aufklärung mit seinen officiellen Lobsprüchen dafür nicht zurückhalten wird!«

Wir flechten hier ein, daß Jean von Kermor, der sich an Bord der »Gallinetta« gerade allein befand, dieses Zwiegespräch mit angehört hatte. Das war ja keine Indiscretion seinerseits, denn das Thema, worüber die beiden Freunde sich aussprachen, verlangte gewiß keine Geheimhaltung.

Unleugbar und trotz aller Hindernisse, die der Sergeant Martial erfinden mochte, hatte Jacques Helloch seit dem Zusammentreffen mit ihm keine Gelegenheit versäumt, Jean von Kermor seine lebhafteste Antheilnahme zu beweisen Letzterer mußte das auf jeden Fall bemerkt haben, es fragte sich nur, wie er dieses Interesse erwiderte. Etwa mit gleichem Entgegenkommen, wie man es von einem jungen Manne seines Alters gegenüber einem so dienstwilligen Landsmanne erwartet hätte, der so viele Theilnahme für ihn an den Tag legte, für den Erfolg seines Unternehmens so aufrichtige Wünsche aussprach und sich, soweit es die Umstände zuließen, vollständig zu seiner Verfügung stellte?

Nein, das nicht, und zwar so sehr, daß es auffallend erscheinen konnte. So geschmeichelt sich Jean davon fühlen, so dankbar erkenntlich er sich gegen Jacques Helloch zeigen mochte – stets bewahrte er ihm gegenüber die strengste Zurückhaltung, nicht weil der Sergeant Martial über das Gegentheil gemurrt hätte, sondern in Folge seines etwas schüchternen Charakters, der immer eine gewisse Furchtsamkeit verrieth.

Wenn später der Augenblick der Trennung kam, wenn Jean San-Fernando verließ, weil er seine Nachsuchungen weiter fortsetzen mußte, und wenn Jacques Helloch den Rückweg antrat, da würde diese Trennung Jean gewiß nahe gehen. Vielleicht sagte er sich dann, daß er sein Ziel besser erreicht hätte, wenn Jacques Helloch sein Führer gewesen wäre.

Er empfand schon eine tiefe Erregung, als er am Ende jenes Gespräches, dem er ein gar zu williges Ohr lieh, Jacques Helloch zu seinem Kameraden sagen hörte:

»Ueberdies, Germain, ist auch der junge Mann da, den der Zufall uns in den Weg geführt hat und für den ich mich nun einmal interessiere. Flößt er Dir denn nicht auch eine tiefere Theilnahme ein?

– Gewiß, Jacques!

– Je mehr ich darüber nachdenke, Germain, ob er recht daran gethan hat, dem kindlichen Gefühle zu folgen, das ihn auf diese Reise trieb, desto[173] mehr beschleicht mich die Furcht, ihn bald so großen Schwierigkeiten und Gefahren begegnen zu sehen, daß er sie nicht wird besiegen können. Erhält er in San-Fernando weitere Auskunft, so wird er sich ohne Zweifel auch noch in die Gebiete des oberen Orinoco oder selbst in die des Rio Negro hinauswagen... gewiß, sobald er sich sagt: Dort weilt mein Vater!... wird er dahin gehen wollen. O, es wohnt eine mannhafte Seele in der Hülle dieses Kindes! Man braucht ihn nur zu beobachten, nur zu hören, so erkennt man, daß sein Pflichtgefühl sich bis zur Heldenmüthigkeit gesteigert hat. Meinst Du nicht auch, Germain?

– Ich theile ganz Deine Ansichten über den jungen Kermor, Jacques, und gewiß erschrickst Du mit Recht...

– Und wen hat er, ihn zu berathen, zu vertheidigen? fuhr Jacques Helloch fort. Einen alten Soldaten, der sicherlich für ihn in den Tod ginge. Doch ist das der Begleiter, dessen er bedarf?... Nein, Germain; und willst Du, daß ich rein von der Leber weg spreche?... Nun, es wäre wohl besser, daß das arme Kind in San-Fernando keinerlei Auskunft über seinen Vater erhielte.«

Hätte Jacques Helloch, als er so sprach, Jean beobachten können, so würde er gesehen haben, wie dieser emporschnellte, den Kopf in die Höhe warf, wie seine Augen erglühten und er darauf zusammenbrach, erdrückt von dem Gedanken, daß er seinen Zweck vielleicht doch verfehlte, daß er verurtheilt wäre, ohne den ersehnten Erfolg heimzukehren.

Nach dieser augenblicklichen Schwäche schöpfte er jedoch wieder Muth, als er Jacques Helloch hinzusetzen hörte:

»Doch nein... nein! Das wäre zu grausam für den armen Jean, und ich will immer noch lieber glauben, daß seine Nachforschungen von Erfolg gekrönt sein werden. Durch San-Fernando ist der Oberst von Kermor vor dreizehn Jahren zweifellos gekommen, dort wird Jean erfahren, was aus seinem Vater geworden ist. O, ich würde ihn herzlich gern begleiten!

– Ich begreife Dich, Jacques, ein Führer so wie Du wäre ihm vonnöthen gewesen, und nicht jener alte Brummbär, der ebensowenig sein Onkel ist, wie ich seine Tante bin. Bedenke jedoch, unsre Reiseroute kann nicht die seinige sein, und ohne von Nebenflüssen zu reden, die wir bei der Rückfahrt noch zu besuchen haben...

– Giebt es solche nicht auch oberhalb San-Fernandos? warf Jacques Helloch ein.[174]

– Das wohl, ich kann Dir sogar einige recht sehenswerthe nennen, wie den Cunucunuma, den Cassiquiare, den Mavaca... damit würde uns unsre Fahrt aber bis zu den Quellen des Orinoco führen.

– Was schadete das, Germain? Die Untersuchung würde nur vollständiger werden, das wäre Alles, und der Minister der öffentlichen Aufklärung hätte gewiß keine Ursache, sich darüber zu beklagen.

– Der Minister... der Minister, Jacques! Du springst mit dem Großherrn der Universität um, wie es Dir grade paßt! Wenn nun Jean von Kermor seine Nachsuchungen nicht nach der Seite des Orinoco hin fortzusetzen hätte, wenn er sich durch die Ilanos von Columbia wagte, oder wenn er gar nach dem Becken des Rio Negro oder des Amazonenstromes hinunterginge, was dann?«...

Jacques Helloch antwortete hierauf nicht, weil er nichts antworten konnte. Seine Reise bis zu den Quellen des Orinoco auszudehnen, das lag ja, streng genommen, noch innerhalb des Kreises seiner Mission, anders aber, wenn er das Becken des Stromes und Venezuela selbst verließ, um dem jungen Manne durch die Gebiete Columbias oder Brasiliens zu folgen.

Auf der Nachbarpirogue hatte Jean, im Deckhause auf den Knien liegend, Alles mit angehört. Er wußte, welch innige Theilnahme er den beiden Reisegenossen einflößte, wußte aber auch, daß weder Jacques Helloch noch Germain Paterne an seine angebliche Verwandtschaft mit dem Sergeanten Martial glaubten. Worauf gründete sich dieser Zweifel und was würde sein alter Freund denken, wenn er es erführe?

Und ohne sich zu fragen, was die Zukunft ihm in ihrem Schoße bewahrte und ob die Opferfreudigkeit Jacques Helloch's ihm je zur Stütze und Hilfe werden würde, dankte er inbrünstig dem Himmel, daß er ihn diesen wackern und edelmüthigen Landsmann hatte treffen lassen.[175]

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 163-169,171-176.
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