Elftes Capitel.
Die Mission von Santa-Juana.

[364] Dreizehn Jahre vor dem Anfange dieser Erzählung gab es in der Gegend, die der Rio Torrida durchströmt, weder ein Dorf, noch einen Rancho oder Sitio. Kaum zogen dann und wann Indianer durch sie hin, wenn diese gezwungen waren, für ihre Herden neue Weideplätze zu suchen. Die ganze Gegend bestand nur aus ausgedehnten, zwar fruchtbaren, doch unangebauten Ilanos, fast undurchdringlichen Wäldern und sumpfigen Esteros, die im Winter durch die aus ihren Betten tretenden Wasseradern der Nachbarschaft immer frisch gefüllt wurden. Nur Raubthiere, Schlangen, Affen und mancherlei Vögel – die Insecten, vorzüglich die Muskitos, nicht zu vergessen – vertraten das Thierleben in diesen fast noch unbekannten Gebieten. Sie bildeten trotz ihrer reichen Pflanzenwelt thatsächlich eine Wüstenei, wohin niemals Händler oder Unternehmer aus der Republik Venezuela vordrangen.

Ging man einige hundert Kilometer in nördlicher und nordöstlicher Richtung hinauf, so verlor man sich schließlich in einem höchst merkwürdigen Gebietstheile, dessen höhere Stellen vielleicht mit dem Gebirgszuge der Anden zusammengehangen hatten, ehe einst deren große Bergseen sich durch ein weitverzweigtes Netz von Wasseradern in die Tiefen des Atlantischen Oceans entleerten. Es ist ein vielfach zerrissenes Land, wo sich Bergkämme kreuzen, wo manche Höhen dem Naturgesetz der Schwere zu spotten scheinen – ebenso wie ihre hydrographischen und orographischen Wunderlichkeiten – ein ungeheurer Raum und die unerschöpfliche Nährmutter des Orinoco, den er nach Norden entsendet, und des Rio Blanco, der nach Süden hin strömt, beherrscht von der himmelanstrebenden Bergmasse des Roraima, dessen jungfräulichen Gipfel Im Thurn und Perkin einige Jahre später zuerst erklimmen sollten.

So unausgebeutet, so verlassen war dieser weit entfernte Theil von Venezuela, als es ein Fremder, ein Missionär, unternahm, ihn wenigstens streckenweise umzugestalten.

Die auf diesem Gebiete zerstreut vorkommenden Indianer gehörten der großen Mehrzahl nach zum Stamme der Guaharibos. Gewohnheitsgemäß[364] durchstreiften sie die Ilanos im Innern tiefer Wälder am rechten Ufer des obern Orinoco. Es waren elende Wilde, noch von keinem Hauche der Civilisation berührt. Kaum hatten sie Strohhütten, um Unterkommen zu finden, kaum Lumpen aus Baumrinde, sich zu bedecken. Sie nährten sich von Wurzeln, Palmensprossen, von Ameisen und von Holzläusen (den sogenannten Todtenuhren) und verstanden sich nicht einmal auf die Gewinnung des Maniocmehls, das in Mittelamerika sonst die Hauptnahrung bildet. Sie schienen auf der Stufenleiter der Menschheit die unterste Sprosse einzunehmen, waren klein von Wuchs, schwächlich von Constitution, hager von Gestalt und hatten den aufgetriebenen Leib der Geophagen, und in der That waren sie, vorzüglich im Winter bei mangelnder andrer Nahrung, oft genöthigt, ihren Hunger mit thoniger Erde zu stillen. Die röthlichen langen Haare fallen ihnen auf die Schultern hinab, ihr Gesicht, auf dem ein scharfer Beobachter wohl noch ein Restchen unentwickelter Intelligenz entdecken könnte, und die etwas weniger tiefbraune Färbung ihrer Haut, worin sie sich von den andern Indianern, den Quivas, Piaroas, Barés, Mariquitarern und Banivas unterscheiden – Alles wies darauf hin, sie in die letzte Reihe der an sich niedrigst stehenden Rassen zu stellen.

Und diese Eingebornen galten für so gefährlich, daß selbst ihre nahen Stammverwandten kaum deren Gebiete zu betreten wagten, ja man hielt sie allgemein für so eingefleischte Räuber und Mörder, daß die Händler aus San-Fernando niemals über den Ocamo und höchstens den Mavaca hinausgingen. So hatte sich der üble Ruf gebildet, in dem die Guaharibos noch vor fünf Jahren standen, als Chaffanjon, ohne sich von den Befürchtungen seiner Bootsleute abschrecken zu lassen, seine Fahrt bis zu den Quellen des Stromes fortsetzte. Als er endlich auf der Höhe des Pic Maunoir mit ihnen zusammengetroffen war, erkannte er bald, wie arg die harmlosen Indianer verleumdet worden waren, und bemühte sich, ein gerechteres Urtheil über sie zu verbreiten.

Zu jener Zeit bildete übrigens, in Folge seiner Aufforderung um den spanischen Missionär versammelt, schon eine Anzahl von ihnen den Kern der Mission von Santa-Juana. Sie waren bereits für die Lehren der christlichen Religion empfänglich geworden und hatten das dem eifrigen Apostel zu verdanken, der ihnen alle Freuden des Erdenlebens opferte.

Der Pater Esperante ging von Anfang an darauf aus, mit den unglücklichen Guaharibos innigste Fühlung zu halten. Deshalb siedelte er sich tief drin[365] in den Savannen der Sierra Parima an. Hier beschloß er, ein Dorf zu gründen, das sich mit der Zeit zu einem Flecken entwickeln sollte. Von dem ihm verbliebenen Vermögen glaubte er keinen edleren Gebrauch machen zu können, als daß er es für dieses Werk der Barmherzigkeit verwendete, das gleich fest genug begründet werden sollte, um seinen Bestand auch für alle Zukunft zu sichern.

Bei seinem Eintreffen in dieser Wüstenei hatte der Pater Esperante als einzige Hilfskraft nur einen jungen Begleiter namens Angelos bei sich. Dieser damals fünfundzwanzigjährige Novize der ausländischen Missionen war gleich ihm selbst von dem apostolischen Eifer entflammt, der Zeichen und Wunder zu thun vermag. Beide hatten also – doch um den Preis welcher Schwierigkeiten und welcher Gefahren! – ohne zu erschlaffen und ohne zu wanken, die Mission von Santa-Juana gegründet und organisiert, ihnen war die leibliche und geistige Wiedergeburt eines ganzen Indianerstammes gelungen, und jetzt hatten sie eine Bevölkerung um sich versammelt, die, unter Einrechnung der auf den benachbarten Ilanos siedelnden Eingebornen, gegen tausend Köpfe zählte.

Fünfzig Kilometer im Nordosten von den Stromquellen und von der Mündung des Rio Torrida war es, wo der Missionär die Stelle für die zukünftige Ortschaft gewählt hatte: Eine höchst glückliche Wahl – mit einem Boden von erstaunlicher Fruchtbarkeit, wo die nützlichsten Baum- und Straucharten gediehen, unter andern Marimas, deren Rinde eine Art natürlichen Filz liefert; ferner Bananen, Platanen, Kaffeebäume und -stauden, die sich im Schatten größerer Bäume mit scharlachrothen Blüthen bedeckten, Bucares, Kautschuk- und Cacaobäume, und daneben sproßten und grünten Felder mit Zuckerrohr und Sassaparille oder mit Tabak, von dem man die »Cura nigra« für den einheimischen Verbrauch, und die mit Salpeter vermengte »Cura seca« für die Ausfuhr gewinnt, endlich Tonkabäume (Dypterix), deren Bohnen so gesucht sind, und Sarrapias, deren Schoten als Gewürz dienen. Nur einiger Arbeit bedurfte es, und die frisch umbrochenen, geeggten und besäeten Felder gaben reiche Ernten an Maniocwurzeln, Zuckerrohr und an dem unerschöpflichen Mais, der jährlich viermal zur Reise kommt und von dem aus einem einzigen Samenkorn fast vierhundert Stengel aufkeimen.

Wenn der Erdboden dieser Gegend eine so überraschende Fruchtbarkeit aufwies, die durch verständige Culturmethoden noch gesteigert werden sollte, so kam das daher, daß er noch in ganz jungfräulichem Zustande war. Nichts hatte bisher seine vegetative Kraft erschöpft. Zahlreiche kleine Bäche plätscherten,[366] sogar im Sommer, über ihn hin und ergossen sich schließlich in den Rio Torrida, der dem Bett des Orinoco im Winter eine beträchtliche Wassermenge zuführte.

Am linken Ufer dieses aus den Abhängen des Roraima entspringenden Rios erheben sich die ersten Baulichkeiten der Mission, nicht einfache Strohhütten, sondern kleine Wohnstätten, die sich mit den besten bei den Banivas und den Mariquitarern mindestens messen konnten. La Urbana, Caïcara und San-Fernando de Atabapo hätten auf die festen und bequemen Häuschen mit Recht neidisch sein können.

Das Dörfchen entstand am Fuße eines von der Sierra Parima getrennt aufragenden Cerro, dessen letzte Ausläufer gesunde und schöne Bauplätze darboten.

Am Fuße einer Böschung und im kühlen Schatten einer großen Palme erhob sich das in einfachstem Style erbaute Kirchlein von Santa-Juana, zu dem die Steine aus der Sierra geholt worden waren. Heute genügte das kleine Gotteshaus kaum noch für die Menge der Gläubigen, die die Predigten des Pater Esperante und die sinneberückenden Ceremonien des katholischen Gottesdienstes herbeilockten, während die spanische Sprache allmählich auch an Stelle des Idioms der Guaharibos trat. Daneben hatten sich übrigens noch, vom Leiter der Mission hochwillkommen geheißen, etwa fünfzig Weiße von venezuolanischer Abkunft in dem aufblühenden Dorfe angesiedelt.

Von Jahr zu Jahr war auf dem Orinoco Alles herbeigeschafft worden, was zur Gründung und Weiterentwicklung der kleinen Ortschaft gebraucht wurde, und so erklärt es sich, daß sie nach und nach bis nach San-Fernando, später auch bis Ciudad-Bolivar und Caracas vielfach genannt wurde. Dem Congreß des Staates lag es auch nahe, ein so hohe civilisatorische Zwecke verfolgendes Unternehmen zu unterstützen, das berufen schien, bisher werthlose, große Gebiete aufzuschließen und Volksstämme, deren Entartung und Elend ihre vollständige Vernichtung herbeizuführen drohten, auf eine höhere geistige Stufe zu heben.

Wenn von dem die Bäume etwas überragenden kleinen Thurme die feierlichen Glockentöne erklangen, hätte gewiß jedermann den kirchlichen Eifer der blühenden und in anständiger Bekleidung herzuströmenden Eingebornen bewundert. Männer und Frauen, Kinder und Greise – Alles drängte sich um den Pater Esperante.


Die Mission von Santa-Juana.
Die Mission von Santa-Juana.

Ja, bei dem von Natur lebhaften Ausdruck ihrer Dankbarkeit wären sie, wie vor der Kirche, am liebsten auch noch vor dem unter einer Palmengruppe errichteten Pfarrhause in die Knie gesunken. Sie fühlten sich glücklich,[367] ihre Familien blühten auf, sie lebten ohne Noth und Sorge und vertauschten mit Vortheil ihre Bodenerzeugnisse gegen die Industrieproducte, die vom untern Orinoco heraufkamen – kurz, ihre Lage verbesserte sich ohne Unterbrechung und ihr Wohlbefinden nahm sichtlich weiter zu. Da strömten auch noch andre Ilaneros nach der Mission herbei, um sich hier niederzulassen. So vergrößerte sich der Ort bis in den Wald hinein, der ihn mit ewigem Grün umrahmte. Auch die bebauten Felder dehnten sich immer mehr aus, und das konnte leicht geschehen, da die Savannen des Orinoco sozusagen ohne Grenzen sind.[368]

Es wäre irrig, zu glauben, daß die Mission Santa-Juana nicht auch widerwärtigere Perioden zu überwinden gehabt hätte. Um den Preis einer bewundernswerthen Hingebung für die Sache und dauernder Anstrengung hatte sie sich wohl recht schön entwickelt; zu Anfang war sie aber doch zuweilen von recht ernsten Gefahren bedroht gewesen. Vor Allem mußte das Dorf gegen neidische, wilde Horden vertheidigt werden, die einmal überall zu morden und zu plündern gewöhnt waren. Die Einwohner desselben hatten da manchen Angriff zurückzuschlagen, der das schöne Werk im Entstehen zu vernichten drohte.


Der Missionär hatte dem jungen Indianer... (S. 375.)
Der Missionär hatte dem jungen Indianer... (S. 375.)

Zur Abwehr der Banden, die vom Orinoco oder von den Cordilleren der Küste her ihre Raubzüge ausführten, wurden deshalb die nöthigsten und geeignetsten Sicherheitsmaßregeln getroffen. Der Missionär erwies sich dabei als ein Mann der That und sein persönlicher Muth als ebenso groß wie sein Talent als Organisator.

Alle Guaharibos im kräftigen Alter wurden aufgeboten, discipliniert und im Gebrauch der Waffen unterrichtet. Jetzt stand eine Compagnie von etwa hundert Mann mit modernen Gewehren und reichlichem Schießbedarf, die alle gewandte Schützen waren – denn dazu brachten sie das scharfe Auge des Indianers mit – für die Sicherheit der Mission ein und vereitelte damit jede Aussicht auf Erfolg, wenn doch ein Angriff auf diese gewagt werden sollte.

Dafür hatte man auch schon den Beweis, als Alfaniz mit seinen Spießgesellen aus dem Bagno und der ihm folgenden Bande von Quivas die Ortschaft überfallen hatten. Obwohl sie an Zahl der der »Soldaten« des Pater Esperante mindestens gleich waren, erlitten sie doch die empfindlichsten Verluste, während auf der Seite der Guaharibos nur wenig Blut floß.

Vorzüglich in Folge dieser Niederlage hatten die Quivas auch geplant, das Land zu verlassen und die im Westen des Orinoco gelegenen Gebiete wieder aufzusuchen.

Obendrein war die Mission von Santa-Juana zum Angriff ebenso gut eingerichtet, wie zur Vertheidigung. Es lag zwar gewiß nicht in der Absicht des Pater Esperante, auf Eroberung auszuziehen, denn das Land, worüber er verfügte, reichte für alle seine Bedürfnisse aus. Er wollte sich aber auch keine Belästigungen von andrer Seite gefallen lassen, noch der Möglichkeit ausgesetzt sein, daß Banden von Verbrechern der schlimmsten Art sein Dorf überfielen. Um jeder Gefahr vorzubeugen, mußte er als Soldat auftreten. Was ist ein Missionär im Grunde auch anders als ein Soldat, und wenn er die Pflicht auf sich nimmt, nöthigenfalls sein Leben zu opfern, so hat er andrerseits doch auch[371] die Pflicht, die um ihn und um die Fahne des Christenthums geschaarten Gläubigen zu vertheidigen.

Im Vorhergehenden war von den Culturen die Rede, die in so hohem Maße zum Gedeihen der Mission von Santa-Juana beitrugen. Hierin lag aber nicht die einzige Quelle ihres Reichthums. An die bebauten Felder stießen weite Ebenen, wo große Rinderherden weideten, deren Ernährung durch den Graswuchs der Savannen ebenso wie durch die Ilanerapalme der Wälder gesichert war. Diese Viehzucht bildete einen wichtigen Handelszweig, wie das übrigens in allen andern Provinzen Venezuelas der Fall ist. Die Guaharibos besaßen auch eine Anzahl jener Pferde, die sich früher zu Tausenden in der Umgebung der Ranchos umhertummelten, und von diesen dienten die einen als Zugthiere und die andern zu den Ausflügen der Guaharibos, die in kurzer Zeit vortreffliche Reiter wurden und dann auch die weitern Umgebungen der Ortschaft nicht selten durchstreiften.

Der Pater Esperante entsprach ganz dem Bilde, das Herr Mirabal der junge Gomo und auch der falsche Jorres von ihm entworfen hatten. Seine Züge, seine Haltung und seine Bewegungen verriethen den thatkräftigen Mann, der seinem Willen bei jeder Gelegenheit Ausdruck zu geben wußte – kurz, den Führer, der das Befehlen gewöhnt war. Er besaß eine von hoher Einsicht unterstützte Energie. Sein festes und ruhiges Auge verrieth schon die Güte seines Gemüthes, die sich auch durch das häufige Lächeln der Lippen zeigte, welche dann und wann zwischen dem von den Jahren gebleichten Barte zu sehen waren. Er war muthig und hochherzig in gleichem Grade – zwei Eigenschaften, die ja so häufig zu einer einzigen verschmelzen. Obwohl er die Sechzig überschritten hatte, zeugten seine stramme Haltung, seine breiten Schultern, seine hochgewölbte Brust und seine kräftigen Gliedmaßen für die große Widerstands- und Leistungsfähigkeit des Mannes, der noch geistig und körperlich auf der Höhe des Lebens stand.

Was der Missionär vorher gewesen wäre, ehe er sich seiner schweren Aufgabe als Verbreiter christlicher Lehren widmete, hätte niemand sagen können. Er bewahrte darüber unverbrüchliches Schweigen. Nur dann und wann konnte man aus düstern Schatten, die über sein männliches Antlitz zogen, vielleicht schließen, daß ihn schmerzliche Erinnerungen an eine unvergeßliche Vergangenheit erfüllten. Der Pater Esperante war bei seinem Unternehmen übrigens von seinem jüngeren Gehilfen sehr wesentlich unterstützt worden. Der Bruder Angelos[372] war ihm mit Leib und Seele ergeben und konnte mit Recht einen nicht geringen Theil des Erfolges des frommen Werkes beanspruchen.

Neben diesen Beiden bildeten einige aus den dazu geeignetsten Indianern erwählte Personen die Beamtenschaft des Dorfes, wenn man auch sagen konnte, daß der Pater Esperante, der gleichzeitig Gemeindevorstand und Priester war, der die Kinder taufte, die Ehen schloß und einsegnete, wie er den Sterbenden in ihrem letzten Stündlein beistand, in seiner Person alle Aemter der Mission vereinigte.

Er mußte sich für seine Bemühungen auch reichlich entschädigt fühlen, wenn er sah, wie herrlich sein Werk gediehen und gewachsen war. Dieser Schöpfung war gewiß die Lebensdauer gesichert, wenn die einstigen Nachfolger des Missionärs dieselben Wege wandelten, die er stets innegehalten hatte.

Seit dem letzten Angriffe der Quivas hatte nichts die Ruhe der Bewohner von Santa-Juana gestört, und allem Anscheine nach sollten sie auch in Zukunft von der Wiederholung eines solchen verschont bleiben.

Gegen fünf Uhr am Nachmittag des 1. November, dem Tage, nachdem Jacques Helloch und seine Gefährten in Alfaniz' Hände gefallen waren, entstand im Dorf jedoch, wenn nicht eine Panik, so doch eine gewisse Beunruhigung.

Es war nämlich ein junger Indianer aufgetaucht, der in aller Eile, als ob er verfolgt würde, von der Savanne her herangestürmt kam.

Einige Guaharibos traten aus ihren Häusern, und sobald der junge Indianer sie gewahr wurde, rief er fast ängstlichen Tones:

»Pater Esperante! Pater Esperante!«

Sofort führte ihn Bruder Angelos dem Missionär zu.

Dieser erkannte auf den ersten Blick den Knaben, der, als er mit seinem Vater in Santa-Juana wohnte, die Schule der Mission fleißig besucht hatte.

»Du... Gomo?« fragte er.

Dieser konnte zunächst kaum ein Wort hervorbringen.

»Woher kommst Du denn?

– Ich bin entflohen... heute früh... und bin gelaufen, was ich konnte, um hierher zu kommen.«

Dem jungen Indianer versagte fast der Athem.

»Ruh' Dich erst aus, mein Kind, ermahnte ihn der Missionär, Du stirbst wohl beinahe vor Hunger. Willst Du etwas essen?[373]

– Nicht ehe ich Ihnen gesagt habe, warum ich gekommen bin. Es bedarf schleunigster Hilfe.

– Hilfe?...

– Dort unten sind Quivas... drei Stunden von hier... in der Sierra... nahe beim Flusse.

– Was? Quivas? rief Bruder Angelos.

– Und ihr Häuptling ebenfalls, setzte Gomo hinzu.

– Ihr Anführer, wiederholte Pater Esperante, der entwichene Sträfling... der schreckliche Alfaniz...

– Er ist vor wenigen Tagen wieder zu ihnen gestoßen, und vorgestern kurz nach Mittag haben sie eine Gesellschaft von Reisenden überfallen, die ich nach Santa-Juana führte.

– Reisende, die nach der Mission wollten?

– Ja, ehrwürdiger Vater, französische Reisende.

– Franzosen!«

Das Gesicht des Missionärs überflog eine plötzliche Blässe, und dann schloß er einen Augenblick die Lider.

Hierauf ergriff er den jungen Indianer bei der Hand, zog ihn nahe zu sich heran und sagte zu ihm mit einer Stimme, die vor unwillkürlicher Erregung zitterte:

»Sage mir Alles, was Du weißt!«

Gomo fuhr nun fort:

»Vor vier Tagen betrat ein Mann die Hütte, die mein Vater und ich in der Nähe des Orinoco bewohnten. Er fragte uns, wo sich die Quivas befänden und ob wir ihn zu ihnen führen wollten. Das waren dieselben, die unser Dorf San-Salvador zerstört und meine Mutter getödtet hatten. Mein Vater schlug sein Verlangen ab, und da schoß er auch ihn mit einem Revolver nieder...

– Er ist getödtet worden! murmelte Bruder Angelos.

– Ja, durch den Mann... Alfaniz...

– Alfaniz!... Und woher kam denn der elende Schurke? fragte der Pater Esperante.

– Von San-Fernando.

– Wie war er aber den Orinoco herausgekommen?

– Als Bootsmann, als Ruderknecht, unter dem Namen Jorres, an Bord einer der beiden Piroguen, die die Reisenden brachten.[374]

– Und Du sagst, das wären Franzosen?

– Ja, gewiß, Franzosen, die nicht weiter als bis zum Rio Torrida hinausfahren konnten. Sie haben ihre Piroguen an der Flußmündung zurückgelassen, und einer von ihnen, ihr Führer, der von dem Schiffer einer der Falcas begleitet war, hat mich im Walde neben der Leiche meines Vaters aufgefunden. Sie fühlten Mitleid mit mir... begruben meinen Vater und nahmen mich dann mit sich. Darauf ersuchten sie mich, sie nach Santa-Juana zu führen. Wir sind also aufgebrochen... und waren vorgestern an der Furt von Frascaes angelangt, als die Quivas uns überfielen und Alle gefangen nahmen...

– Und dann? forschte der Pater Esperante weiter.

– Dann?... Dann zogen die Quivas nach der Sierra zu, und erst heute Morgen habe ich ihnen entfliehen können.«

Der Missionär hatte dem jungen Indianer mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. Das Blitzen seiner Augen bewies, wie der Zorn gegen die Verbrecherrotte in ihm aufloderte.

»Du sagst also, mein Kind, fragte er noch ein drittes Mal, daß jene Reisenden Franzosen waren?

– Ja, ehrwürdiger Vater.

– Und wie viele?

– Vier.

– Wer war sonst noch mit ihnen?

– Der Schiffer von einer der Piroguen, ein Baniva, namens Valdez, und zwei Bootsleute, die das Gepäck trugen.

– Woher kamen sie denn?

– Von Bolivar, von wo sie vor zwei Monaten abgereist waren, um sich nach San-Fernando zu begeben und dann den Strom bis zur Sierra Parima hinauszufahren.«

In tiefes Sinnen verloren, schwieg der Pater Esperante einige Augenblicke still.

»Du hast von einem Führer gesprochen, Gomo? fragte er. Die kleine Truppe hat also einen Führer?

– Ja, einen der Reisenden.

– Und der heißt?

– Jacques Helloch.

– Er hat noch einen Genossen?


Begünstigt durch die die ganze Nacht andauernde Helligkeit... (S. 382.)
Begünstigt durch die die ganze Nacht andauernde Helligkeit... (S. 382.)

– Der Germain Paterne heißt und in der Savanne überall Pflanzen sammelt.

– Wer sind denn die beiden andern Reisenden?

– Erstens ein junger Mann, der sehr freundlich[375] gegen mich gewesen ist, und den ich aufrichtig liebe.«

In Gomos Zügen verrieth sich die lebhafteste Dankbarkeit.

»Der junge Mann, fuhr er fort, nennt sich Jean von Kermor.«

Bei diesem Namen schnellte der Missionär empor, und aus seiner ganzen Erscheinung sprach die allergrößte Ueberraschung.


 »Er ist es... er! rief der Knabe schluchzend. (S. 384.)
»Er ist es... er! rief der Knabe schluchzend. (S. 384.)


[376] »Jean von Kermor? wiederholte er. War das wirklich sein Name?

– Ja, Jean von Kermor.

– Der junge Mann, sagst Du, ist mit den Herren Helloch und Paterne aus Frankreich gekommen?

– Nein, ehrwürdiger Vater; nach dem, was mir mein Freund Jean erzählt hat, haben sie sich unterwegs... auf dem Orinoco... beim Dorfe la Urbana erst zufällig getroffen.

– Dann sind sie in San-Fernando gewesen?[377]

– Ja, und von da aus zusammen nach der Mission weiter gereist.

– Und was bezweckt jener junge Mann?

– Er ist im Begriff, seinen Vater zu suchen.

– Seinen Vater?... Du sagst, seinen Vater?

– Jawohl, den Oberst von Kermor.

– Den Oberst von Kermor!« rief der Missionär in unbeschreiblicher Erregung.

Wer ihn in diesem Augenblick beobachtet hätte, würde auch gesehen haben, daß die Ueberraschung, die er vorher verrieth, sich jetzt zu einer ganz ungewöhnlichen Aufregung entwickelte. So energisch der Pater Esperante auch war, so sehr er sich sonst zu beherrschhen wußte, jetzt ließ er die Hand des jungen Indianers los und schritt, eine Beute ihn überwältigender Empfindungen, im Zimmer auf und ab. Nur mit äußerster Willensanstrengung wurde er wieder einigermaßen ruhig und setzte seine Fragen fort.

»Warum, sagte er, warum will sich Jean von Kermor gerade nach Santa-Juana begeben?

– Er hofft hier weitere Auskunft zu erhalten, die es ihm vielleicht ermöglicht, seinen Vater aufzufinden.

– Er weiß also nicht, wo dieser ist?

– Nein, seit vierzehn Jahren hat der Oberst von Kermor Frankreich verlassen und sich nach Venezuela begeben; sein Sohn weiß aber nicht, wo er sich jetzt befindet.

– Sein Sohn! Sein Sohn!« murmelte der Missionär, der sich mit der Hand über die Stirn strich, wie um alte Erinnerungen wach zu rufen. Schließlich wendete er sich wieder an Gomo.

»Ist er denn allein abgereist... jener junge Mann... hat er das allein unternommen?

– Nein.

– Wer begleitet ihn denn?

– Ein alter Soldat.

– Ein alter Soldat?

– Ja, der Sergeant Martial!

– Der Sergeant Martial!« wiederholte der Pater Esperante.

Hätte ihn der Bruder Angelos jetzt nicht aufgefangen, er wäre, wie vom Blitz getroffen, auf dem Boden des Zimmers zusammengebrochen.[378]

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 364-369,371-379.
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