Zwölftes Capitel.
Auf dem Wege zur Rettung.

[379] Den Franzosen, den Gefangenen der Quivas, Hilfe zu bringen, das duldete nach den so bestimmten Aussagen des jungen Indianers keinen Aufschub,

Der Missionär würde noch denselben Abend aufgebrochen und nach der Savanne hinausgezogen sein, wenn er nur gewußt hätte, welche Richtung dabei einzuschlagen gewesen wäre.

Zunächst drängte sich ja die Frage auf, wo Alfaniz augenblicklich sein möge. In der Nähe der Furt von Frascaes?... Nein; nach Gomos Mittheilungen hatte er diese am Morgen nach dem Ueberfalle verlassen. Sein eigenes Interesse gebot ihm ja, Santa-Juana fern zu bleiben, sich in den Wäldern der benachbarten Sierra zu verlieren, vielleicht auch nach dem Orinoco und der Mündung des Rio Torrida hinunterzuziehen, um sich da noch der Piroguen und der Mannschaft zu bemächtigen.

Der Pater Esperante sah ein, daß noch eine Auskundschaftung des Feindes nöthig war, ehe er dessen Verfolgung aufnehmen konnte.

Um sechs Uhr bestiegen zwei Indianer ihre Pferde und ritten nach der Furt von Frascaes hin davon.

Drei Stunden darauf waren die Reiter zurück, ohne eine Spur von den Quivas entdeckt zu haben.

Ob Alfaniz und seine Bande den Fluß überschritten hätten, um sich in die Wälder im Westen zu schlagen, oder ob sie nach der Sierra Parima hin gezogen wären, um längs des linken Ufers des Rios nach dem Lager am Pic Maunoir zu gelangen – das wußte vorläufig niemand.

Es mußte aber ermittelt werden, selbst wenn vor dem Aufbruche noch die ganze Nacht verstrich.

Zwei andre Indianer verließen die Mission mit dem Auftrage, die Savanne nach der Seite der Orinocoquellen hin abzusuchen, denn es erschien ja möglich, daß Alfaniz nicht geraden Weges nach dem Strome hinabgezogen wäre.

Mit Tagesanbruch kehrten die beiden Indianer nach Santa-Juana zurück, nachdem sie etwa fünfundzwanzig Kilometer weit vorgedrungen waren. Hatten[379] sie die Quivas auch nicht selbst zu Gesicht bekommen, so hatten sie wenigstens von einigen Bravos-Indianern, die sie in der Savanne trafen, gehört, daß die Räuberbande sich nach der Sierra Parima zu begebe.

In der Sierra Parima also galt es, sie zu überraschen und die Umgebung mit Gottes Hilfe endlich von diesem Auswurf von Indianern und Bagnosträflingen zu befreien.

Die Sonne stieg eben empor, als der Pater Esperante von der Mission auszog.

Seine Begleitmannschaft bestand aus hundert Guaharibos, die für der Gebrauch moderner Feuerwaffen besonders eingeübt waren. Die wackern Leute wußten, daß sie gegen die Quivas, ihre langjährigen Feinde, in den Kampf gingen, doch nicht allein, um diese zu zersprengen, sondern sie bis auf den letzten Mann auszurotten.

Zwanzig von den Indianern waren beritten und dienten als Deckung für einige Karrenwagen, die Proviant für mehrere Tage enthielten.

Das Dorf blieb einstweilen unter der Leitung Bruder Angelos', der durch Läufer mit der Expedition so viel wie möglich in Verbindung bleiben sollte.

Der Pater Esperante, zu Pferde an der Spitze seiner Truppe, hatte jetzt bequemere Kleidung angelegt, als die gewöhnliche Tracht des Missionärs. Ein Leinwandhelm bedeckte seinen Kopf, mit hohen Stiefeln saß er fest in den Steigbügeln; ein doppelläufiges Gewehr hing am Sattel und ein Revolver stak in seinem Gürtel.

Schweigend und nachdenkend trabte er dahin, eine Beute unbeschreiblicher geistiger Erschütterung, von der er nichts merken lassen wollte. Die Mittheilungen des ihn begleitenden jungen Indianers wirbelten ihm gleichsam im Kopfe umher. Er glich einem Blinden, dem man das Augenlicht wiedergegeben und der doch das Sehen verlernt hatte.

Von Santa-Juana aus wendete sich die Truppe in südöstlicher Richtung nach der Savanne – einer Ebene mit baumartiger Vegetation, mit stachligen Mimosen, dürftigen Chapparos und Zwergpalmen, deren Wedel im Winde schwankten. Die an solche Wege gewöhnten Indianer gingen so raschen Schrittes dahin, daß sie hinter den Reitern kaum zurückblieben.

Der Erdboden senkte sich allmählich; er stieg erst in der Nähe der Sierra Parima wieder an. Seine sumpfigen Strecken – die Esteros, die nur in der Regenzeit mit Wasser durchtränkt werden – boten jetzt, wo sie von der[380] Wärme ganz ausgetrocknet waren, eine hinreichend feste Oberfläche, so daß man quer darüber hingehen konnte, also nicht um sie herum ziehen mußte.

Der Weg bildete nahezu einen rechten Winkel gegen den, dem Gomo gefolgt war, als er Jacques Helloch und dessen Gefährten führte. Es war das der kürzeste zwischen der Mission und der Bergmasse der Parima. Einige noch frische Eindrücke ließen erkennen, daß hier wenige Tage vorher eine zahlreiche Truppe dahinmarschiert war.

Die Guaharibos entfernten sich also vom Rio Torrida, der nach Südwesten verlief. Dabei trafen sie auf mehrere kleine Zuflüsse seines rechten Ufers, die jetzt ausgetrocknet waren und kein Hinderniß bildeten. Nur einzelne, wenig ausgedehnte Bayous, die noch mit stagnierendem Wasser gefüllt waren, mußten vermieden werden.

Nach halbstündiger Mittagsrast brach der Pater Esperante wieder auf, und Alle strengten sich so nach Kräften an, daß die Guaharibos schon gegen fünf Uhr am Fuße des Bergstockes der Parima und in der Nähe der Stelle anlangten, wo sich einer jener Cerros erhebt, den Chaffanjon nach dem Namen Ferdinand von Lesseps' getauft hat.

Hier fand man noch Spuren eines Lagers, das erst vor kurzer Zeit aufgehoben sein konnte. Erkaltete Asche, Reste von Speisen, niedergedrückte Graslagerstätten und dergleichen wiesen darauf hin, daß jemand noch die letzte Nacht hier zugebracht habe. Damit schwand aber jeder Zweifel, daß Alfaniz mit den Quivas und jedenfalls auch mit seinen Gefangenen die Richtung nach dem Strom eingeschlagen hatte.

Während der Rast, die eine Stunde dauerte und den Pferden gestattete, sich durch frisches Futter zu stärken, ging der Pater Esperante abseits von den Andern auf und ab.

Seine Gedanken weilten bei den zwei Namen, die der junge Indianer genannt hatte.

»Der Sergeant Martial, sagte er wiederholt für sich hin, der Sergeant... hier... auf dem Wege nach Santa-Juana...«

Dann sann er wieder über Jean von Kermor nach... über das Kind, das seinen Vater sachte!... Wer war dieser junge Mann? Der Oberst hatte ja keinen Sohn gehabt!... Nein, Gomo mußte sich täuschen!... Doch gleichviel: jedenfalls schmachteten hier Franzosen in grausamer Gefangenschaft... Landsleute, die zu befreien, den Händen der Quivas zu entreißen, er sich verpflichtet[381] fühlte. Wieder ging es also vorwärts, und gegen sechs Uhr wurde das rechte Ufer des Orinoco erreicht.

Hier ergossen sich die ersten Wasserfäden von der Sierra Parima in den Strom durch die Bergschlucht, in deren Innern ein tollkühner Forscher am 18. December 1886 die französische Fahne aufgepflanzt hatte.

Dieser Theil der Sierra war von uralten Bäumen bedeckt, die einmal von allein zusammenzubrechen bestimmt schienen, denn keine Axt des Holzfällers würde sie in dieser weltfernen Gegend je niederlegen.

Die nächste Umgebung zeigte sich völlig verlassen. Keine Pirogue, nicht einmal ein Curiare, hätte in der heißen Jahreszeit bis hier hinauf gelangen können, und auch die beiden Falcas hatten schon fünfzig Kilometer weiter unten liegen bleiben müssen.

Diese fünfzig Kilometer konnten, wenn die Guaharibos derselbe Eifer beseelte wie ihren Anführer, noch in der Nacht zurückgelegt werden, so daß die Truppe dann mit Tagesanbruch bei dem Lagerplatze am Pic Maunoir eintraf. An ein Verfehlen des richtigen Weges war nicht zu denken, denn es genügte ja, am rechten Ufer des Stromes, dessen ausgetrocknete Rios keine Schwierigkeiten bereiten konnten, hinzuziehen.

Der Pater Esperante brauchte seine Indianer gar nicht erst zu fragen, ob sie sich diese Anstrengung zumuthen wollten. Er erhob sich und trabte voraus. Die Reiter und die Fußgänger folgten ihm einfach nach.

Der an seinem Ursprung sehr eingeengte Orinoco hatte nur eine Breite von wenigen Metern und zwängte sich zwischen steilen, abwechselnd aus Thon und Gesteinen bestehenden Uferwänden hin. Auf diesem ersten Theile seines Laufes hätte in der Regenzeit eine Pirogue mehrere Raudals überwinden müssen, wäre also auch dann nur mit starker Verzögerung vorwärts gekommen.

Es wurde schon langsam dunkel, als die Guaharibos die Furt le Crespo überschritten, die auf der Karte von dem französischen Reisenden zu Ehren des Präsidenten der venezuolanischen Republik mit diesem Namen bezeichnet worden ist.

Am völlig klaren Himmelsgewölbe herabsinkend, war die Sonne hinter dem wolkenlosen Horizonte verschwunden. Die funkelnden Sternbilder sollten bald vor dem Glanze des aufgehenden Vollmonds erbleichen.

Begünstigt durch die die ganze Nacht andauernde Helligkeit, konnten die Guaharibos eine weite Wegstrecke leicht überwinden. Sie wurden nicht einmal durch die schilfbedeckten Sumpfniederungen aufgehalten, durch die sie sich, ohne[382] die Gefahr, bis zum halben Leibe einzusinken, im Dunkeln gar nicht hätten wagen können.

Vom Uferrande aus gesehen, ließ das Flußbett eine Menge darin liegender Felsblöcke erkennen, die jede Schifffahrt darin, selbst zur Zeit des anhaltendsten Regens, so gut wie unmöglich machen mußten. Auch drei Monate früher wären die »Gallinetta« und die »Moriche« nur mit größter Beschwerde durch diese »Engen« hinausgekommen, die man auf der Karte als die Raudals Guereri, Yuvilla und Salvajuo eingetragen findet. Hier hätte man dazu greifen müssen, die Fahrzeuge streckenweise zu tragen und es ist kaum zu erwarten, daß dieser Theil des obern Orinoco jemals zu einem brauchbaren Verkehrswege umgewandelt werden könne. Hier oben besteht der Strom – in der trocknen Jahreszeit – aus wenigen dürftigen Wasserfäden die sich um die Felsstücke schlängeln und kaum den weißlichen Thon des Ufers befeuchten. Erst vom Cerro Ferdinand von Lesseps an nimmt er allmählich an Tiefe zu, weil sich von da an vom rechten und linken Ufer her mehrere Nebenflüsse in ihn ergießen.

Als es gegen fünf Uhr morgens Tag wurde, hatte der Pater Esperante, kaum zwölf Kilometer von der Mündung des Rio Torrida, eine Biegung des Flusses erreicht.

Binnen drei Stunden sollte er nun mit dem Schiffer Parchal und den zur Bewachung der Falcas zurückgebliebenen Mannschaften Fühlung bekommen.

Im Südwesten und an der andern Seite des Orinoco ragte der Pic Maunoir empor, dessen Gipfel in den ersten Strahlen des Morgenroths erglühte. Auf jener Seite erhob sich auch ein sechs- bis siebenhundert Meter hoher Cerro, der mit dem Pic demselben orographischen System angehörte.

Keinen Augenblick entstand jetzt etwa die Frage, eine Zeit lang, und wäre es nur eine Stunde, auszuruhen. Hatten sich die Quivas längs des Flusses hinabbegeben, um das Lager anzugreifen, so befanden sie sich entweder noch dort, oder hatten sich nach Ausplünderung der Piroguen schon wieder in der Richtung nach der Savanne zurückgezogen. Wer konnte wissen, ob sich Alfaniz dann nicht entschlossen hatte, doch wieder, statt nach Columbia, nach den westlichen Theilen Venezuelas zu gehen und seine Gefangnen dahin mitzuschleppen?

Eine Stunde lang zog der Trupp so dahin, und der Pater Esperante hätte vor Erreichung des Rio Torrida gewiß nicht Halt gemacht, wenn sich nicht gegen sechs Uhr ein unerwarteter Zwischenfall ereignete.[383]

Der junge Indianer lief den Uebrigen etwa fünfzig Schritte voraus – er war ja bekannt mit dem Uferlande, das er mit seinem Vater oft genug besucht hatte. Während er nun bemüht war, immer die Spuren von den vorübergezogenen Quivas im Auge zu behalten, bemerkte man, wie er plötzlich stehen blieb, sich zur Erde niederbeugte und einen lauten Schrei ausstieß...

Da, wo er sich befand, lag am Fuße eines Baumes regungslos ein Mann, der entweder schlief oder todt war.

Auf den Aufschrei Gomos hin wandte der Pater Esperante sein Pferd nach jener Seite, und mit einem kurzen Galopp erreichte er schnell den jungen Indianer.

»Er ist es... er! rief der Knabe schluchzend.

– Er?« wiederholte fragend der Pater Esperante.

Dabei war er schon aus dem Sattel gesprungen und näherte sich dem bewegungslosen Manne.

»Der Sergeant... der Sergeant Martial!« rief er.

Der alte Soldat lag ausgestreckt auf der Erde, die von seinem Blute geröthet war. Er hatte eine Kugel in die Brust bekommen... vielleicht war er schon todt...

»Martial!... Martial!« rief der Pater Esperante ihn an, während schwere Thränen seinen Augen entquollen.

Er richtete den Unglücklichen auf, näherte dessen Kopf dem seinigen und lauschte auf einen Athemzug aus den Lippen des Mannes; dann rief er fast freudig erregt:

»Er lebt... Gott sei Dank, er lebt!«

In der That begann der Sergeant Martial wieder schwach zu athmen; gleichzeitig erhob er auch einen Arm, ließ ihn aber kraftlos wieder sinken. Dann schlug er für eine Secunde die Augen auf und richtete den Blick auf den Missionär.

»Sie... Sie, mein Oberst!... Da unten... Alfaniz!«

Kaum hatte er, von krampfhaften Zuckungen unterbrochen, diese wenigen Worte geflüstert, so schwand ihm auch schon wieder das Bewußtsein.

Der Pater Esperante erhob sich; in seinem Kopfe jagten sich verwirrte, unverständliche Gedanken, die ihn in unaussprechlicher Weise erregten. Der Sergeant Martial hier... der junge Mann, den er zur Aufsuchung seines Vaters begleitete und der doch jetzt nicht bei ihm war... Beide in diesementlegensten Theile von Venezuela, wer sollte ihm die Erklärung so vieler unerklärlicher Dinge bringen, wenn der Unglückliche starb, ohne vorher noch einmal haben sprechen zu können? Doch nein... er durfte nicht sterben!... Der Missionär würde ihn noch einmal retten, wie er ihn schon früher auf dem Schlachtfelde gerettet hatte. Er wollte ihn dem Tode abringen...

Auf seinen Wink kam einer der zweirädrigen Wagen heran, auf dem der Sergeant Martial auf eine Streu aus trocknem Grase gebettet wurde.


Er hatte den Revolver erhoben, um Feuer zu geben. (S. 389.)
Er hatte den Revolver erhoben, um Feuer zu geben. (S. 389.)

Weder Augen noch Lippen des Verwundeten thaten sich dabei auf. So schwach dieser aber auch war, seine leise Athmung erlitt keine weitere Unterbrechung.

Der Marsch wurde nun fortgesetzt. Der Pater Esperante hielt sich nahe bei dem Wagen, worauf sein alter Waffenkamerad ruhte, den er nach so langer Trennung doch sofort wiedererkannt hatte... sein Sergeant, den er vor vierzehn Jahren dort in der Bretagne zurückgelassen hatte, aus der der Oberst ohne den Gedanken an eine spätere Rückkehr fortgegangen war... ihn fand er hier wieder... in weltverlorenem Lande... getroffen von einer Kugel... vielleicht aus der Hand des schurkischen Alfaniz...

»Gomo hat sich, dachte er, also doch nicht geirrt, als er vom Sergeanten Martial sprach... Doch was sagte er denn weiter?... Ein Kind... jener Sohn, der seinen Vater suchte... Ein Sohn?... Ein Sohn?«

Er wendete sich nochmals an den jungen Indianer, der an seiner Seite ging.

»Der Soldat wäre nicht allein hierher gekommen, hast Du mir gesagt. Er hatte einen jungen Mann bei sich?...

– Ja... meinen Freund Jean.

– Und Beide wollten sich nach der Mission begeben?

– Ja wohl... wegen des Oberst von Kermor.

– Und der junge Mann wäre der Sohn dieses Oberst?

– Gewiß, sein Sohn.«

Bei diesen so unzweideutigen Antworten fühlte der Pater Esperante sein Herz hämmern, als ob es davon zerspringen sollte. Was konnte er aber anders thun, als abwarten? Vielleicht lichtete sich das Geheimniß noch vor dem Ende des heutigen Tages.

Jetzt lag vor ihm nur das eine Ziel, die Quivas anzugreifen, wenn sie noch im Lager am Pic Maunoir angetroffen wurden – und die wenigen, vom Sergeanten Martial mühsam hervorgebrachten Worte gaben ja die Gewißheit, daß Alfaniz sich dort befand – nur die Aufgabe, dem Elenden seine Gefangenen[387] zu entreißen. Die Guaharibos gingen in Sturmschritt über, während die Wagen mit hinreichender Bedeckung zurückblieben.

Der ehemalige Oberst, der sich zum Missionär von Santa-Juana verwandelt hatte, durfte wohl auf den durchschlagendsten Erfolg rechnen, wenn er jetzt als Führer seiner muthigen Indianer diese die Verbrecherbande angreifen ließ.

Kurz vor acht Uhr hielt der Pater Esperante an, und die Guaharibos unterbrachen ihren Vormarsch, als sie hinter einer Biegung des Flusses eine geräumige Lichtung im Walde erreicht hatten.

Gegenüber, auf dem andern Ufer, erhob sich der Pic Maunoir. In der nächsten Nachbarschaft des Flusses war niemand zu sehen, auf dem Orinoco lag kein Fahrzeug.

Auf der andern Seite der Biegung aber stieg – es herrschte jetzt völlige Windstille – lothrecht eine Rauchsäule in die Höhe.

An jener Stelle, vielleicht kaum fünfzig Meter weiter hin und auf dem linken Ufer des Rio Torrida, befand sich also jedenfalls ein Lager.

Das konnte nur das der Quivas sein, doch wollte man sich davon erst überzeugen.

Einige Guaharibos krochen vorsichtig durch die nächsten Büsche, kamen aber schon nach drei Minuten zurück mit der Meldung, daß Alfaniz mit seiner Bande so nahe vor ihnen lagerte.

Die Truppe des Pater Esperante schloß sich nun auf der Lichtung enger zusammen. Die Wagen waren nachgekommen, und der, der den Sergeanten Martial trug, erhielt seinen Platz in der Mitte der übrigen.

Nachdem er sich noch überzeugt hatte, daß im Zustande des Verwundeten keine Verschlimmerung eingetreten war, traf der Oberst von Kermor seine Anordnungen, Alfaniz und dessen Spießgesellen zu umgehen. Die Berittenen ließ er dazu schräg über die Lichtung vorgehen, um die Quivas einzuschließen und sie bis zum letzten Mann vernichten zu können.

Wenige Augenblicke später erhob sich ein furchtbares Geschrei, dem sofort das Krachen von Feuerwaffen folgte.

Die Guaharibos hatten sich auf Alfaniz gestürzt, ehe dieser noch zu wirksamer Vertheidigung Zeit fand. Waren sich beide Parteien an Zahl auch gleich, so waren die Guaharibos doch besser bewaffnet und wurden besser befehligt. Die Waffen, über die der Spanier verfügte, rührten nur von der Plünderung der[388] Piroguen her und bestanden außer einigen Revolvern, die Jacques Helloch dort zurückgelassen hatte, nur aus denen, die den Gefangenen abgenommen worden waren.

Der Kampf konnte nicht lange dauern, und er währte auch wirklich nur kurze Zeit. Von dem Augenblicke, wo die Bande sich hatte überraschen lassen, war sie auch geschlagen. So flüchteten denn auch die meisten Quivas nach schwachem Widerstande von der Stelle, indem die einen in den Wald hinein stürmten, die andern durch das fast trockne Flußbett liefen, um die gegenüberliegende Savanne zu erreichen – die meisten aber waren schon tödlich von Kugeln getroffen.

Gleichzeitig hatten sich übrigens Jacques Helloch, Germain Paterne, Valdez, Marchal und die Leute von den Falcas auf die sie bewachenden Quivas gestürzt.

Gomo war der erste, der mit dem Rufe »Santa-Juana! Santa-Juana!« auf sie zueilte.

So tobte denn der Kampf bald nur noch in der Mitte des Lagerplatzes.

Hier vertheidigten sich Alfaniz, die aus Cayenne entsprungenen Sträflinge und einige von den Quivas mit Revolverschüssen, mit dem Erfolge, daß einzelne Guaharibos Verwundungen davontrugen, die sich glücklicherweise nicht als besonders schwer erwiesen.

Da sah man den Pater Esperante mitten auf eine den Spanier umgebende Gruppe zusprengen.

Jeanne von Kermor fühlte sich unwiderstehlich zu dem Missionär hingezogen, doch hielt sie Jacques Helloch zurück.

Von den Quivas verlassen, von denen man nur noch Geschrei aus einiger Entfernung hörte, wehrte sich Alfaniz zwar noch wie ein Wüthender, zwei seiner Bagnogenossen wurden aber bald an seiner Seite niedergestreckt.

Der Pater Esperante befand sich jetzt dem Spanier Auge in Auge gegenüber, und mit einer Handbewegung gebot er den Guaharibos Einhalt, die diesen schon umringt hatten.

Da wurde es ringsum still, man hörte nur die mächtige Stimme des Pater Esperante.

»Alfaniz, sagte er, seht, ich bin es!

– Der Missionär von Santa-Juana!« rief der Spanier.

Schon hatte er den Revolver erhoben, um Feuer zu geben, als Jacques Helloch ihn am Arme packte, so daß die Kugel ihr Ziel verfehlte.[389]

»Ja, Alfaniz, der Pater von der Mission Santa-Juana... doch auch der Oberst von Kermor!«

Da Alfaniz eben Jean, den er für den Sohn des Oberst hielt, nur wenige Schritt von sich entfernt sah, zielte er auf diesen. Doch bevor er abdrücken konnte, krachte ein Schuß, und der Schurke stürzte, vom Pater Esperante getroffen, lautlos zusammen.

Jeanne hatte sich in die Arme des Oberst von Kermor geworfen – sie nannte ihn ihren Vater.

Der Missionär, der in dem jungen Manne doch nicht seine leibliche Tochter erkennen konnte, welche er längst für todt hielt und auch niemals gesehen hatte, antwortete wiederholt:

»Ich habe gar keinen Sohn!«

Da hatte sich jedoch der Sergeant Martial aufgerichtet, und, die Arme gegen Jeanne hin ausgestreckt, sagte er:

»Nein, Herr Oberst, Sie hatten nur eine Tochter... und... da ist sie!«

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 379-385,387-390.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon