Siebentes Capitel.
Das Lager beim Pic Maunoir.

[309] Der Pic Maunoir überragt die Savanne um volle fünfzehnhundert Meter. Die Bergkette, die sich an die gewaltige Masse anschließt und deren unerschütterliches Bollwerk er zu bilden scheint, verzweigt sich über Sehweite hinaus nach Südosten.

Etwa vierundzwanzig Kilometer davon erhebt sich der Ferdinand von Lesseps-Pic – so hat ihn wenigstens Chaffanjon auf seiner Karte bezeichnet.

Hier beginnt die bergige Gegend, wo das orographische System Venezuelas die größten Erhebungen zeigt. Hier wölben sich breite, gewaltige Rücken und kreuzen sich diese verbindende Kämme in allen Richtungen. Der Anblick, den die Gebirge bieten, wirkt überraschend großartig. Hier steigt die Sierra Parima, die Nährmutter des Orinoco, auf, dort von Wolken umhüllt, der »Rothe Berg«, von dem zahllose, bei den Indianern in besonderem Rufe stehende Bäche herabrieseln – jener Roraima, ein riesiger Meilenstein im Mittelpunkt der Grenzen der drei Staaten.

Wenn es möglich gewesen wäre, wären Jacques Helloch und seine Gefährten auf dem Strom bis zur Sierra Parima, aus der dessen erste Quellen hervorsprudeln, hinausgefahren. Darauf mußten sie jetzt leider verzichten, wenn es auch zur Noth möglich gewesen wäre, die Reise mittelst der Curiares ihrer Piroguen noch fortzusetzen. Diese Boote hätten aber nur ein bis zwei Personen aufnehmen können. Wie wäre es aber möglich gewesen, ohne Mithilfe der Mannschaften weiter zu kommen, und was wäre aus dem gesammten Gepäck dabei geworden? Am Morgen dieses Tages traten Jacques Helloch, Germain Paterne, Jean, dessen Kräfte zusehends zunahmen, und der Sergeant Martial,[309] denen sich die Schiffer Valdez und Parchal angeschlossen hatten, zu einer Berathung – einem von den Indianern Nordamerikas sogenannten Palaver – zusammen.

Ob Palaver oder Berathung – jedenfalls sollten dabei wichtige Beschlüsse gefaßt werden, von denen die Fortsetzung und vielleicht auch der ganze Erfolg der Reise abhingen.

Die genannten sechs Personen hatten am Saume des Waldes an einer Stelle Platz genommen, die den Namen des »Lagers am Pic Maunoir« erhielt, obgleich der Pic auf dem jenseitigen Ufer lag. Darunter dehnte sich das mit Sand und Steinen bedeckte Flußbett aus, in dem die Falcas an der Mündung eines Rio, des Rio Torrida, auf dem Trocknen saßen.

Das Wetter war schön, der Wind frisch und regelmäßig. Zur Linken, auf dem entgegengesetzten Ufer, erglänzte der von den Sonnenstrahlen gebadete Gipfel des Pics und auf seiner bewaldeten östlichen Seite leuchtete eine breite, helle Fläche.

Die Mannschaften waren beschäftigt, auf dem Vordertheil der Pirogue, das von leichtem, nach Süden wegziehendem Rauche halb verhüllt war, die erste Mahlzeit herzurichten.

Uebrigens zeigte sich jetzt kein Indianer, ebenso wenig auf dem Flusse oder an dessen Ufer, noch unter den ersten Bäumen des Waldes. Von bewohnten oder verlassenen Strohhütten war keine Spur zu sehen, obwohl sonst zu dieser Zeit die Ufer hier mehrfach von den Eingebornen aufgesucht wurden. Die in diesen Landestheilen zerstreuten Indianer nehmen aber nirgends feste Wohnsitze ein. Selbstverständlich dringen Händler von San-Fernando niemals soweit den Fluß hinauf, da sie zu leicht von Wassermangel überrascht würden. Mit welchem Flecken, welchem Rancho sollten sie auch hier in Geschäftsverbindung treten? Jenseits von dem jetzt auch verödeten la Esmeralda trifft man Wohnstätten nicht einmal in genügender Anzahl beisammen, um ein Dorf zu bilden, und im Ganzen ist es selten, daß Piroguen über die Mündung des Cassiquiare hinausgehen.

Unter den Versammelten nahm Jacques Helloch sofort das Wort.

»Sie sind noch niemals auf dem obern Orinoco weiter hinauf gekommen, Valdez? fragte er.

– Niemals, antwortete der Schiffer der »Gallinetta«.

– Sie auch nicht, Parchal?[310]

– Auch ich nicht, erklärte der Schiffer der »Moriche«.

– Keiner Ihrer Leute kennt den Flußlauf oberhalb des Pic Maunoir?

– Keiner, versicherten Parchal und Valdez.

– Keiner... außer vielleicht Jorres, ließ sich Germain Paterne vernehmen, doch der hat sich von uns getrennt. Ich habe ihn in Verdacht, daß er nicht zum erstenmale diese Gebiete durchstreift, obgleich er das Gegentheil hartnäckig behauptete.

– Wohin mag er denn gegangen sein? fragte der Sergeant Martial.

– Dahin, wo er ohne Zweifel erwartet worden ist, antwortete Jacques Helloch.

– Erwartet?..

– Jawohl, Sergeant; seit einiger Zeit ist mir das Verhalten des Mannes überhaupt verdächtig vorgekommen.

– Und mir nicht weniger, setzte Valdez hinzu. Als ich ihn nach seiner nächtlichen Abwesenheit am Rio Mavaca fragte, warum er eigentlich weggeblieben wäre, gab er mir eine recht nichtssagende Antwort.

– Doch als er in San-Fernando an Bord kam, fiel Jean jetzt ein, war es doch seine Absicht, sich nach der Mission Santa-Juana zu begeben.

– Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß er den Pater Esperante gekannt hat, setzte Germain Paterne hinzu.

– Das ist wahr, sagte der Sergeant Martial, es giebt aber keine Erklärung dafür, warum er gerade jetzt verschwunden ist, wo wir nur noch einige Tagreisen von der Mission entfernt sind.«

Schon in den letzten Tagen hatte sich der Gedanke, daß Jorres den schlimmsten Verdacht rechtfertigen könne, bei Jacques Helloch mehr und mehr befestigt. Wenn er davon gegen niemand gesprochen hatte, kam das daher, daß er seine Gefährten nicht beunruhigen wollte. Von Allen war er jetzt auch der, den das Verschwinden des Spaniers am wenigsten überraschte, wenn er sich auch kein Hehl daraus machte, daß das recht ernste Folgen haben könnte.

Wenn er darüber nachdachte, fragte er sich wohl auch schon, ob Jorres nicht einer der aus Cayenne entwichenen Sträflinge sei, die jetzt an der Spitze der von Alfaniz angeführten Quivas standen. Alfaniz war ja ebenso Spanier wie er. Wenn das der Fall war, was machte er dann zur Zeit, als man ihn traf, in San-Fernando?... Warum verweilte er überhaupt in jenem Orte? Gewiß war nur, daß er sich daselbst befand und daß er, nachdem ihm bekannt[311] geworden war, daß die Passagiere der Piroguen nach Santa-Juana gehen wollten, dem Schiffer der »Gallinetta« seine Dienste anbot.

Jetzt, wo Jacques Helloch's Verdacht in Folge der Flucht des Spaniers festere Gestalt angenommen hatte, erfüllten ihn folgende Gedanken:

Wenn Jorres nicht der Alfaniz'schen Bande angehört und er keine schlechten Absichten hat, wenn es wirklich seine Absicht war, nach der Mission zu gelangen, warum verläßt er uns so nahe am Ziel der Reise?

Er ist aber verschwunden, wo man erst recht hätte voraussetzen sollen, daß er bei der übrigen Gesellschaft bliebe. Und wer weiß, ob er nicht, auf eine geheim erhaltene Nachricht hin, daß die Quivas und ihr Führer in den benachbarten Savannen umherschwärmten, die Nacht benutzt hat, um das Raubgesindel aufzusuchen...

Wenn das der Fall war, jetzt, wo die Piroguen festsaßen und die kleine Gesellschaft gezwungen war, ziemlich weit durch den dichten Urwald zu marschieren, um nach Santa-Juana zu gelangen, dann drohte dieser auch die Gefahr eines Ueberfalles, den sie bei ihrer Minderzahl gewiß kaum abzuschlagen vermochte.

Von solchen recht ernsten Befürchtungen wurde Jacques Helloch jetzt beschlichen.

Davon hatte er aber gegen niemand gesprochen... kaum mit wenigen Worten gegen Valdez, der seinen Verdacht bezüglich des Spaniers theilte.

Nach der vom Sergeant Martial so bestimmt aufgeworfenen Frage nach dem unerklärlichen Verschwinden jenes Jorres, bemühte er sich denn auch, dem Gespräch eine andre und bei der Lage der Dinge mehr Nutzen versprechende Wendung zu geben.

»Lassen wir Jorres, wo er ist, sagte er. Vielleicht kommt er doch noch wieder zurück, vielleicht nicht. Wir haben uns mehr mit unsrer gegenwärtigen Lage zu beschäftigen und die Mittel zur Erreichung des letzten Zieles zu erwägen. Auf dem Orinoco können wir die Reise nicht weiter fortsetzen, das ist, ich erkenne es an, ein unglücklicher Umstand...

– Der aber doch, fiel Jean ein, nach wenigen Tagen so wie so eingetreten wäre. Selbst angenommen, wir hätten die Quellen mit unsern Piroguen erreichen können, so hätten wir sie doch am Fuße der Sierra Parima verlassen müssen. Wir haben es ja nicht anders gewußt, als daß wir die Strecke von da bis zur Mission Santa-Juana, die ja mit dem Orinoco nicht in unmittelbarer Verbindung steht, zu Fuß zurücklegen müßten.[312]

– Sie haben Recht, lieber Jean, antwortete Jacques Helloch, früher oder später, morgen, wenn es nicht schon heute nöthig geworden wäre, hätten wir die Falcas verlassen müssen. Wäre es möglich gewesen, noch etwa vierzig Kilometer weiter nach Osten vorzudringen – und eine solche Fahrt wäre in der Regenzeit leicht auszuführen gewesen – so hätte uns das manche Anstrengungen erspart, die ich vor Allem für Sie fürchte.


 »Keiner Ihrer Leute kennt den Flußlauf...« (S. 311.)
»Keiner Ihrer Leute kennt den Flußlauf...« (S. 311.)

– O, ich habe meine Kräfte wieder, Herr Helloch, versicherte Jean; ich wäre bereit, schon heute aufzubrechen, und würde gewiß nicht zurückbleiben.[313]

– Ah, vortrefflich! rief Germain Paterne. Man braucht Sie nur zu hören, um ganz frisch und munter zu werden! Doch wir wollen Alles recht nüchtern überlegen, ehe ein Entschluß gefaßt wird. Kannst Du, Jacques, wohl sagen, wie weit wir jetzt sowohl von den Quellen, als auch von der Mission noch entfernt sind?

– Das hab' ich mir nach der Karte berechnet, antwortete Jacques Helloch. Von der Sierra Parima dürften wir demnach höchstens fünfzig Kilometer entfernt sein. Ich glaube aber nicht, daß es der richtige Weg wäre, bis nach den Quellen hinauf zu gehen.

– Und warum nicht? fragte der Sergeant Martial.

– Weil die Mission, wie wir bereits in San-Fernando gehört und von Herrn Manuel bestätigt bekommen haben, am Rio Torrido, im Nordwesten von unserm Lager am Pic Maunoir, liegt. Da erscheint es doch gerathener, den geraden Weg dahin einzuschlagen und nicht über die Sierra Parima einen Umweg zu wählen.

– Ganz recht, stimmte Jean ihm zu. Ich halte es für nutzlos, uns unnöthige Anstrengungen zuzumuthen, und es ist gewiß besser, in gerader Linie nach der Mission von Santa-Juana zu ziehen.

– Ja, wie denn? fragte der Sergeant Martial.

– Wie wir es gethan hätten... hätten thun müssen, wenn wir bis nach der Sierra Parima gekommen wären.

– Zu Fuß?

– Natürlich zu Fuß, erklärte Jacques Helloch. In diesem menschenverlornen Landstriche giebt es keinen Sitio, keinen Rancho, wo wir uns Pferde verschaffen könnten.

– Und unser Gepäck, fragte Germain Paterne... das müßten wir also an Bord der Piroguen zurücklassen?

– Ja freilich, antwortete Jacques Helloch, das kann ja ohne Bedenken geschehen. Warum sollten wir uns mit umfänglichen Gepäckstücken belasten?

– Hm! machte Germain Paterne, der mehr an seine Naturaliensammlungen als an seine Hemden und Strümpfe dachte.

– Wer weiß übrigens, warf Jean ein, ob unsre Nachsuchungen uns nicht noch über Santa-Juana hinausführen.

– In diesem Falle, erwiderte Jacques Helloch, und wenn wir in der Mission nicht Alles, was wir brauchen, finden, würden wir unser Gepäck nachkommen[314] lassen müssen. Hier an dieser Stelle werden die Piroguen unsre Rückkehr abzuwarten haben. Parchal und Valdez, oder wenigstens einer von Beiden, werden sie mit der Schiffsmannschaft bewachen. Die Mission liegt nicht so weit von hier, daß ein Mann zu Pferde die Strecke nicht in vierundzwanzig Stunden zurücklegen könnte, und jedenfalls wird der Verkehr mit Santa-Juana nicht allzu schwierig sein.

– Ihre Ansicht, Herr Helloch, fuhr Jean fort, geht also dahin, nur das Unentbehrlichste für eine drei- bis viertägige Wanderung mitzunehmen.

– Ganz recht, lieber Jean, das ist das Einzige, was wir thun können, und ich würde sogar vorschlagen, sofort aufzubrechen, wenn wir nicht erst noch das Lager an der Mündung des Rio Torrida einzurichten hätten. Vergessen wir nicht, daß wir hier unsre Piroguen wiederfinden müssen, wenn wir nach San-Fernando zurückkehren wollen.

– Mit meinem Oberst! rief der Sergeant Martial.

– Mit meinem Vater!« flüsterte Jean.

Ueber Jacques Helloch's Stirn war eine leichte Wolke des Zweifels gezogen. Er ahnte manche Schwierigkeiten und fürchtete manche Hindernisse, ehe das Ziel wirklich erreicht werden würde. Und würde man dann in Santa-Juana wohl zuverlässige Mittheilungen erhalten, die es erlaubten, die Spuren des Oberst von Kermor weiter zu verfolgen?

Jedenfalls hütete er sich, seine Gefährten irgendwie zu entmuthigen. Die Umstände hatten es ihm auferlegt, zuzustimmen, daß er die Reise bis zum Ende mit ausführte, und er gedachte vor keiner Gefahr zurückzuweichen. Gleichsam zum Führer des kleinen Zuges geworden, dessen Erfolg noch in so unbestimmter Ferne lag, fühlte er sich auch verpflichtet, dessen Leitung zu übernehmen, und er wollte nichts versäumen, diese Pflicht zu erfüllen.

Die Abfahrt wurde bis zum nächsten Tage verschoben und man ging daran, die Gegenstände auszuwählen, die bei einer drei bis vier Tagemärsche langen Wanderung durch die Urwälder der Sierra unentbehrlich erschienen.

Auf seinen eignen Vorschlag hin wurden Valdez und zwei seiner Leute bestimmt, die Reisenden bis zur Mission zu begleiten. Parchal und die übrige, sechzehn Köpfe zählende Mannschaft sollten am Lagerplatze bleiben und die Piroguen überwachen. Wer konnte aber wissen, ob es nicht mehrere Monate dauern würde, ehe deren Passagiere zurückkehren konnten! Dann neigte sich die trockne Jahreszeit ihrem Ende zu und die Schifffahrt wurde wieder möglich.[315] Doch das kam ja erst in Betracht, wenn es sich wirklich um die Rückreise handelte.

Gewiß konnte man schmerzlich bedauern, daß diese Gegend am obern Orinoco so völlig menschenleer war. Wie vortheilhaft wäre es gewesen, bei Indianerfamilien etwa nöthige Erkundigungen einziehen zu können. Sie hätten jedenfalls über den einzuhaltenden Weg, über die Mission von Santa-Juana und deren genaue Lage im Nordosten des Flusses werthvolle Auskunft gegeben.

Jacques Helloch hätte dabei wohl auch erfahren, ob Alfaniz mit seiner Quivasbande in der Umgebung des rechten Ufers aufgetaucht wäre, denn wenn Jorres sich ihr hatte anschließen können, hauste sie unzweifelhaft in dem benachbarten Gebiete.

Ueberdies hätte man gewiß einen jener Indianer als Führer durch den dichten Wald anwerben können, der nur unbestimmte Pfade, die von vorübertrabenden Raubthieren oder von Indianern herrühren mochten, erkennen ließ.

Als Helloch gegen Valdez den Wunsch aussprach, daß er hier gern auf Indianer stieße, unterbrach ihn dieser mit den Worten:

»Möglicherweise treffen wir ein bis zwei Büchsenschuß weit vom Lager auf einzelne Hütten von Guaharibos.

– Haben Sie Gründe, das zu glauben?

– Wenigstens einen, Herr Helloch, denn als ich am Waldessaume, etwa zweihundert Schritt vom Ufer, entlang ging, hab' ich Asche von einer Feuerstätte gefunden.

– Erloschen gefunden?...

– Ja, doch die Asche war noch warm.

– Möchten Sie sich nicht getäuscht haben, Valdez! Doch wenn es Guaharibos hier in der Nähe giebt, warum sollten sie nicht neugierig auf die Piroguen zugelaufen sein?

– Zugelaufen, Herr Helloch!... Nehmen Sie lieber an, sie wären spornstreichs entflohen.

– Ja, warum denn? Wär' es für sie nicht ein glücklicher Zufall gewesen, mit Reisenden in Verkehr zu treten, wo sie mit ihnen hätten nützliche Tauschgeschäfte machen können?

– Es sind Memmen, die armen Kerle! Ihre erste Sorge wäre es nur gewesen, sich im Walde zu verstecken und erst wieder hervorzukommen, wenn sie glaubten, das ohne jede Gefahr wagen zu können.[316]

– Nun gut, Valdez, wenn sie selbst auch entflohen sind, haben doch ihre Strohhütten nicht die Flucht ergriffen, und vielleicht entdecken wir eine solche tiefer im Walde.

– Darüber ist leicht Gewißheit zu erhalten, meinte Valdez, wenn wir nur bis zwei- oder dreihundert Schritt vom Waldessaume aus eindringen. Die Indianer pflegen sich nie sehr fern vom Flusse zu halten. Giebt es in der Umgebung überhaupt einen Sitio oder eine Einzelhütte, so werden wir keine halbe Stunde zu gehen haben, um darüber aufgeklärt zu werden.

– Dann, Valdez, ziehen wir also auf Entdeckung aus. Da der Ausflug aber doch längere Zeit in Anspruch nehmen könnte, wollen wir erst frühstücken; nachher geht's fort.«

Unter Leitung der beiden Schiffer wurde das Lager schnell eingerichtet. Obgleich größere Vorräthe an Salzfleisch, Conserven, Maniocmehl u. dgl. vorhanden waren, beschloß man doch, diesen Proviant für die spätere Rückreise aufzubewahren, um dann nicht vielleicht völlig entblößt zu sein. Valdez und seine beiden Leute beluden sich mit einigen Säcken. Traf man Indianer in der Nachbarschaft, so sollten diese mit zu Hilfe genommen werden, und die Lockspeise einiger Piaster würde sie leicht zu Trägern und zu Führern machen.

Uebrigens mußte auch die Jagd Jacques Helloch und seinen Reisegefährten, ebenso wie den im Lager am Pic Maunoir zurückbleibenden Mannschaften, mehr als das Nothwendige liefern. Wir wissen, daß die Ernährungsfrage nie von besondrer Bedeutung war, wenn man so wildreiche Landstriche bereiste. Schon der Saum des Waldes lieferte dafür einen Beweis.

Hier flatterten Wildenten, Hoccos und Pavas umher, hier sprangen Affen von einem Baum zum andern und trabten Bisam- und Wasserschweine hinter dem Gebüsch dahin, während das Wasser des Rio Torrida von Fischen geradezu wimmelte.

Während des Essens gab Jacques Helloch den Entschluß kund, den er in Uebereinstimmung mit Valdez gefaßt hatte. Beide wollten im Umkreis eines Kilometers zur Aufsuchung von Guaharibo-Indianern ausziehen, die hier in den Ilanos des obern Orinoco wohnen mochten.

»Ich möchte Sie so gern begleiten, rief Jean.

– Wenn ich Dir's erlaube, mein Herr Neffe! erklärte der Sergeant Martial. Ich bin aber der Ansicht, Du schonst Deine Beine für die Wanderung. Ruhe getrost diesen Tag noch aus... auf ärztliche Verordnung!«[317]

Ein so großes Vergnügen auch Jacques Helloch bei dem kurzen Ausfluge die Begleitung des jungen Mädchens gewährt hätte, mußte er sich doch sagen, daß der Sergeant Martial diesmal im Rechte war. Auf der Fußtour nach Santa-Juana standen der kleinen Gesellschaft noch genug Anstrengungen bevor, daß Jeanne von Kermor sich recht wohl eine vierundzwanzigstündige Ruhe gönnen konnte.

»Mein lieber Jean, sagte er, Ihr Onkel räth Ihnen gut. Der heutige Tag wird Ihnen alle Kräfte wiedergeben... Valdez und ich, wir sind genug...

– Eines Naturforschers benöthigt man nicht? fragte Germain Paterne.

– Man braucht doch keinen Naturforscher, um Eingeborne zu entdecken, erwiderte Jacques Helloch. Bleib nur hier, Germain, und botanisiere nach Herzenslust am Rande des Waldes oder längs des Ufers.

– Ich werde Ihnen dabei helfen, Herr Paterne, erbot sich Jean, und wenn's hier seltne Pflanzen giebt, werden wir eine gute Ernte einheimsen.«

Vor dem Aufbruch empfahl Jacques Helloch dem Schiffer Parchal dringend, die Reisevorbereitungen möglichst zu beschleunigen. Was Valdez und ihn anging, hofften sie, vor Ablauf von zwei Stunden zurück zu sein, und jedenfalls würden sie ihre Nachsuchung nicht über eine gewisse Entfernung hin ausdehnen.

Damit verließen sie, der eine das Gewehr auf der Schulter, der andre die Axt im Gürtel, ihre Gefährten und verschwanden, eine schräge Richtung einschlagend, hinter den ersten Bäumen.

Es war jetzt neun Uhr morgens. Die Sonne erfüllte den Wald mit feurigen Strahlen. Zum Glück überwölbte üppiges Laubwerk den Erdboden, was die Temperatur etwas erträglicher machte.

Sind im Gebiete des obern Orinoco die Berge nicht bis zum obersten Gipfel mit Bäumen bestanden wie die Cerros am Mittellaufe, so zeigen die Wälder sich dafür reich an üppig gedeihenden Arten, die dem jungfräulichen Boden entsprießen.

Der Wald der Sierra Parima schien ganz verlassen zu sein. Dennoch konnte Valdez an einigen von ihm beobachteten Zeichen, an niedergetretenem Grase, abgebrochenen Zweigen und noch ziemlich frischen Fußstapfen erkennen, daß sich Indianer auf der rechten Uferseite des Flusses befinden müßten.

Die Waldmasse – was wir hervorheben möchten – bestand zum größten Theile aus Baumarten, die selbst für die Eingebornen leicht verwerthbar waren. Da und dort standen Palmen abweichender, wenn nicht für die Augen[318] von Reisenden, die den Strom von Ciudad-Bolivar bis zum Pic Maunoir herausgefahren waren, ganz neuer Art, ferner Bananen, Chapparos, Cobigas, Flaschenkürbisbäume und Marinas, deren Rinde zur Herstellung indianischer Säcke dient.

An einzelnen Stellen bemerkte man auch jene Kuh- oder Milchbäume, die in der Nähe des Ufers nicht so häufig vorkommen, und Gruppen von Morichis oder Lebensbäumen, die im Delta des Orinoco so häufig sind – eine höchst werthvolle Pflanze, deren Fasern zu Fäden und Stricken verarbeitet werden, deren Mark eine stoffreiche Nahrung liefert und deren Saft nach vollendeter Gährung ein sehr heilsames Getränk darstellt.

Je weiter Jacques Helloch hier in den Wald eindrang, desto mehr erwachten in ihm die Begierden des Jägers. Wie leicht hätte er jetzt Wasserschweine, Faulthiere, Bisamschweine, eine Anzahl weißer, Venditas genannter Affen und mehrere Tapire erlegen können, die ihm in bequeme Schußweite kamen. Doch weder er noch Valdez hätte sich mit so viel Wild beladen können, und außerdem erschien es angezeigt, sich hier nicht durch den Knall einer Feuerwaffe zu verrathen. Man wußte ja nicht, von wem er gehört werden könnte und ob nicht gar Quivas hinter dem Dickicht umherschweiften. Jedenfalls wären die Guaharibos, wenn solche entflohen waren, dadurch nicht zum Wiederkommen verlockt worden.

Jacques Helloch und Valdez gingen also schweigsam nebeneinander weiter. Sie folgten dabei einer Art gewundenem, durch niedergetretenes Gras erkennbarem Flußpfade, ohne zu wissen, wohin er führte und ob er vielleicht nach der Sierra zu in einer Lichtung mündete.

Es war aber im Ganzen leicht zu sehen, daß die Wanderung durch den Wald nur langsam und mühevoll vor sich gehen würde und daß man auf Verzögerungen, Anstrengungen und öfteres Rasten rechnen müßte. Wären die Piroguen bis zu den Orinocoquellen hinauf gekommen, so hätte sich ihnen vielleicht im Gebiete der Parima ein weniger schwieriger Weg nach der Mission von Santa-Juana geboten.

Derlei Gedanken beschäftigten Jacques Helloch, während sich sein Begleiter nicht von dem Zwecke des Ausfluges, d. h. der Auffindung eines Sitio oder doch einer von Indianern bewohnten Hütte, wo er Unterstützung zu finden hoffte ablenken ließ. So rief denn auch, nach einstündiger Wanderung, der Schiffer der »Gallinetta« zuerst:[319]

»Eine Strohhütte!«

Jacques Helloch und er blieben stehen.

Hundert Schritte von ihnen erhob sich eine rundliche, einem großen Champignon ähnelnde Hütte von recht dürftigem Aussehen. Tief unter einer Palmengruppe verloren, reichte ihr konisches Dach fast bis zur Erde herab. Am untern Theile des Daches befand sich eine unregelmäßige Oeffnung, die durch keine Thür abgeschlossen war.

Jacques Helloch und Valdez begaben sich nach der Hütte und traten in deren Innenraum ein.

Er war leer.

In diesem Augenblicke hörten die Beiden aus ziemlicher Nähe und in nördlicher Richtung das Krachen eines Schusses.

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 309-320.
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