Zehntes Capitel.
Der Pachthof zu Chipogan.

[154] Der Pachthof von Chipogan, gegen sieben Lieues von dem Flecken Laprairie in der gleichnamigen Grafschaft gelegen, bedeckte eine mäßige Bodenerhebung am rechten Ufer eines kleinen Wasserlaufes, der nach dem St. Lorenzo abfloß. Hier besaß Herr de Vaudreuil ein recht einträgliches, zwischen vier- und fünfhundert Acker großes Landgut, welches der Farmer Thomas Harcher bewirthschaftete.

Vor dem Pachthofe, auf der Seite nach dem Flüßchen zu, dehnten sich weite Ländereien und ein Damenbrett von grünenden Wiesen von helldurchsichtigen Hecken umgeben aus, wie solche im Vereinigten Königreiche unter dem Namen »Fences« bekannt sind. Es war der wirkliche Teppich regelmäßiger sächsischer oder amerikanischer Zeichnung in aller geometrischen Strenge. Große Vierecke und darin wieder kleinere Vierecke mit Umzäunungen umrahmten schöne[154] Culturen, welche Dank dem nährkräftigen, schwärzlichen Humus des Bodens vorzüglich gediehen. Dieser Humus, dessen Dicke drei bis vier Fuß beträgt, ruht gewöhnlich auf einer Thonschicht, und fast in derselben Weise ist in Canada der ganze Erdboden bis zu den Abhängen der Laurentiden zusammengesetzt.

Zwischen den mit peinlichster Sorgfalt cultivirten Vierecken wuchsen verschiedene Sorten Getreide, wie sie der Landmann auch meist in Mitteleuropa anbaut, nämlich Roggen, Mais, Reis, Hanf, Hopfen, Tabak u.s.w. Hier wucherte auch wilder Reis, der fälschlicher Weise »wilder Hafer« genannt wird. Dieser kam vorzüglich längs der immer nassen Ränder des kleinen Wasserlaufes vor und lieferte übrigens gekocht eine ganz ausgezeichnete Suppe.

Mit saftigem Grase bestandene Weideplätze dehnten sich hinter dem Pachthofe aus bis zum Saume der hohen Gehölze, welche eine leichte Bodenwelle bedeckten und sich über Gesichtsweite hinaus verloren. Diese Weiden reichten so bequem aus zur Ernährung der Hausthiere, welche die Farm zu Chipogan aufzog, daß Thomas Harcher noch eine weit größere Menge Rinder hätte gegen geringes Entgelt aufnehmen können. Hier tummelten sich Ochsen, Kühe, Stiere, Schafe und Schweine, ohne die kräftigen Pferde canadischer Race zu zählen, welche von den amerikanischen Züchtern so gesucht sind.

In der Nähe der Farm waren die Wälder von nicht geringer Bedeutung. Sie bedeckten früher das ganze Grenzgebiet bis zum St. Lorenzo von seiner Mündung an bis zu der Gegend der Seen. Seit langen Jahren schon hatte die Hand des Menschen hier aber so manche Lichtung geschaffen. Und wie viele stolze Bäume, deren Gipfel sich zuweilen bis zu hundertfünfzig Fuß in die Lüfte erhebt, fallen noch immer unter den Schlägen der Tausende von Aexten und stören die Ruhe jener endlosen Wälder, in denen es von Meisen, Spechten, Amseln, Nachtigallen, Lerchen, Paradiesvögeln mit glänzendem Gefieder wimmelt und wo auch liebliche Canarienvögel, welche leider in den canadischen Provinzen stumm sind, in hellen Schaaren umherflattern. Die »Lumbermen«, die Holzfäller, betreiben hier ein einträgliches, aber bedauerliches Geschäft, indem sie Eichen, Ahornbäume, Eschen, Nußbäume, Erlen, Birken, Ulmen, Kastanienbäume, Weißbuchen, Fichten und Weiden umlegen, welche zersägt oder viereckig behauen die Reihen von Käfigen bilden, die den Lauf des Stromes hinabgleiten. Wenn gegen Ende des 18. Jahrhunderts einer der bekanntesten Helden Cooper's, Nathaniel Bumpoo, Falkenauge, Lange Flinte oder Lederstrumpf genannt, schon über diese Niedermetzelung von Bäumen klagte, würde er nicht heutzutage über[155] diese unerbittlichen Waldverwüster dasselbe sagen, was man über die Landwirthe sagt, welche die Fruchtbarkeit des Bodens durch einen wirklichen Raubbau zu Grunde richten: sie haben das Land gemordet?

Dabei verdient jedoch bemerkt zu werden, daß dieser Vorwurf gegenüber dem Verwalter des Pachthofes zu Chipogan unangebracht gewesen wäre. Thomas Harcher besaß dafür zu tiefe Kenntnisse und wurde von gleichfalls einsichtigen Personen unterstützt, so daß er neben dem seinigen auch den Vortheil seines Gutsherrn im Auge hatte und die Beschuldigung, ein Mörder zu sein, gewiß nicht verdiente. Seine Farm galt allgemein als ein Muster agronomischen Betriebs, und das zu einer Zeit, wo man fast überall noch der von den Großvätern seit zweihundert Jahren vererbten Bewirthschaftungsweise huldigte. Der Pachthof von Chipogan war also einer der bestverwalteten in Montreal. Die hier eingeführte Methode der Koppelwirthschaft ließ den Erdboden nicht zur Verarmung kommen. Man begnügte sich auch nicht allein, ihn im Zustande der Brache liegen zu lassen, sondern wechselte mit den Früchten, was vorzügliche Ergebnisse lieferte. Was die Fruchtbäume, von denen ein großer Garten die verschiedensten auch in Europa gedeihenden Arten enthielt, anging, so wurden diese sorgsam beschnitten, ausgeputzt und überhaupt verständig gepflegt. Alle lieferten hohe Erträgnisse, vielleicht mit Ausnahme der Aprikosen und Pfirsiche, welche besser im Süden der Provinz Ontario als im Osten der Provinz Quebec gedeihen. Die anderen aber erwiesen sich höchst ergiebig, vor Allem jene Apfelbäume, deren Früchte mit röthlichem durchscheinenden Fleische unter dem Namen »die Berühmten« bekannt sind. Was die Gemüse, wie Rothkohl, Kürbisse, Melonen, Pataten und die Blaubeeren – der Name der Waldheidelbeeren, deren schwärzliche Früchte mit Vorliebe als Compot verzehrt werden – anging, so erntete man von diesen soviel, um wöchentlich zweimal den Markt von Laprairie damit versehen zu können. Kurz, mit den Hunderten von Minots (ein altes französisches Maß) von Getreide und anderen Feld- und Gartenerzeugnissen, welche in Chipogan erzeugt wurden, mit dem Ertrage an Früchten und Gemüse, sowie der vorsichtigen Verwerthung einiger Acker Wald, lieferte der Pachthof zu Chipogan Herrn de Vaudreuil einen recht ansehnlichen Theil seiner Einkünfte und Dank der verständigen Sorgfalt Thomas Harcher's und seiner Familie war nicht zu befürchten, daß diese Ländereien in Folge unsinniger Ausnützung sich erschöpfen und in dürre Savannen verwandeln könnten, welche dann höchstens ein stachliches Buschwerk überwucherte.[156]

Uebrigens ist das canadische Klima für den Landbau sehr geeignet. An Stelle des Regens fällt hier von Ende November bis Ende März nur Schnee, der die Grasnarbe der Wiesen schützt, und die lebhafte und trockene Winterkälte dieser Gegend ist einem unaufhörlichen Platzregen entschieden vorzuziehen, abgesehen davon, daß sie auch die Wege gangbar erhält, so daß die Bodenarbeiten nicht ganz unterbrochen zu werden brauchen. In der gemäßigten Zone begegnet man nirgends einer so schnell sich entwickelnden Vegetation, da hier das im März gesäete Getreide im August völlig ausgereift ist, und die Heuernte bereits im Juni und Juli eingeheimst wird. Jener Zeit wie noch heute, beruht die Zukunft Canadas wesentlich auf dem Gedeihen seiner Landwirthschaft.

Die Baulichkeiten der Farm erhoben sich alle innerhalb einer etwa zwölf Fuß hohen Palissade. Eine einzige in steinernen Pfeilern fest angebrachte Thür gestattete den Zugang zu dem Raum. Das war eine recht löbliche Vorsicht in jener noch nicht weit zurückliegenden Zeit, wo hier Ueberfälle seitens der Indianer nicht zu den Seltenheiten gehörten. Jetzt freilich leben die Eingebornen in gutem Einvernehmen mit den Landleuten. Kaum zwei Lieues im Osten siedelte übrigens im Dorfe Walhatta der Huronenstamm der Mahogannis, von dem sich öfter eine Anzahl Männer bei Thomas Harcher einfanden, um die Producte ihrer Jagden gegen die Erzeugnisse der Farm auszutauschen.

Das Hauptgebäude bestand aus einem langen Wohnhause mit zwei Stockwerken, einem regelmäßigen Viereck, welches die zur Unterbringung der Familie Harcher nöthigen Zimmer enthielt. Den größten Theil des Erdgeschosses nahm ein großer Saal ein zwischen der Küche und der Vorrathskammer auf der einen Seite und der speciell für den Pächter, seine Gattin und die jüngsten Sprößlinge auf der anderen bestimmten Wohnung.

Auf dem vor dem Hause befindlichen Hofraume sowohl wie auf der Rückseite nach dem Garten zu bildeten die eigentlichen Wirthschaftsgebäude gleich die Ecken der Palissade. Hier erhoben sich die Pferde- und Viehställe, die Schuppen und Scheunen der Farm. Außerdem lagen hier die eingeschlossenen Tummelplätze für das Kleinvieh, z.B. für amerikanische Kaninchen, deren in Streifen geschnittenes und verflochtenes Fell zur Herstellung eines sehr warmen Stoffes für Oberkleider diente, und für Fasanen, welche sich, im Hause gehalten, weit stärker vermehren als in der Freiheit.

Der große Saal im Erdgeschoß war zwar einfach, doch comfortabel mit Möbeln amerikanischer Herkunft ausgestattet. Hier frühstückte die Familie, aß[157] hier zu Mittag und verbrachte hier ihre Abende. Es war ein gemüthlicher Vereinigungspunkt für die Familie Harcher jeden Alters, welche sich daselbst nach Beendigung der täglichen Arbeiten gern zusammenfand. Man wird sich auch nicht darüber wundern, daß in diesem Saale eine Bibliothek den ersten und den zweiten Platz ein Piano einnahm, auf dem mindestens einer der Söhne oder eine der Töchter französische Walzer und Quadrillen spielte, während die Anderen danach abwechselnd in heiterer Jugendlust tanzten.

Die Bearbeitung jener Ländereien verlangte natürlich ein ziemlich zahlreiches Personal. Thomas Harcher hatte dieses aber in seiner eigenen Familie gefunden. In der That beherbergte der Pachthof von Chipogan keinen einzigen bezahlten Helfer.

Thomas Harcher zählte jener Zeit fünfzig Jahre. Ein Acadier französischer Abstammung, gehörten seine Vorfahren zu jenen kühnen Fischern, welche ein Jahrhundert früher Neu-Schottland colonisirten. Er vertrat den vollständigen Typus des canadischen Landmanns, und zwar jenes, der sich in den Gefilden Nordamerikas nicht Bauer, sondern »Einwohner« nennt. Von hohem Wuchs, breiten Schultern, mächtiger Brust, kräftigem Gliederbau, großem Kopf, kaum ergrauenden Haaren, lebhaftem Blick, tadellosen Zähnen und ziemlich großem Munde, wie ihn der arbeitsame Landmann, der reichlichere Nahrung bedarf, immer hat, endlich von liebenswürdiger offener Physiognomie, welche ihm die warme Freundschaft seiner Kirchspielnachbarn sicherte – so erschien der Farmer von Chipogan. Gleichzeitig war er ein guter Patriot, ein unversöhnlicher Feind der Angel-Sachsen und jede Stunde bereit, seine Pflicht zu thun und nöthigenfalls mit seiner Person einzutreten.

Im ganzen Thale des St. Lorenzo hätte Thomas Harcher vergeblich eine bessere Gefährtin seines Lebens gesucht, als seine Frau Catherine. Sie war jetzt fünfundvierzig Jahre alt, kräftig wie ihr Gatte, so wie dieser jung geblieben an Geist und Leib, vielleicht von etwas derben Zügen und weniger seinem Benehmen, dafür aber gutmüthig in ihrer Derbheit und willig zur Arbeit, mit einem Worte ebenso »die Mutter« wie Thomas Harcher »der Vater« in der umfassendsten Bedeutung des Wortes.

Beide bildeten ein schönes Paar mit so unerschütterlicher Gesundheit, daß sie die beste Hoffnung haben konnten, dereinst zu den vielen Hundertjährigen zu gehören, deren Langlebigkeit dem canadischen Klima alle Ehre macht.[158]

Einen einzigen Vorwurf hätte man Catherine Harcher vielleicht machen können; denselben Vorwurf hätten aber alle Frauen des Landes verdient, wenn man den allgemeinen Aussagen Glauben schenken darf. Wenn die Canadierinnen gute Hausfrauen sind, so kommt das doch nur daher, daß ihre Ehemänner die Wirthschaft besorgen, die Betten zurecht machen, den Tisch decken, die Hühner rupfen, die Kühe melken, die Butter schlagen, die Pataten schälen, das Feuer anzünden, die Möbel abreiben, das Eßgeschirr waschen u.s.w.

Uebrigens trieb Catherine diese Frauenherrschaft nicht bis aufs Aeußerste, eine Herrschaft, welche in den meisten Haushaltungen der Colonie die Männer einfach zu Sclaven ihrer Frauen macht. Nein! Um gerecht zu sein, müssen wir anerkennen, daß auch sie an des Tages Mühe und Last redlich theilnahm. Immerhin unterwarf sich Thomas Harcher gern ihren Wünschen und Launen. Doch welch' schöne Familie hatte ihm Catherine auch geschenkt, von Pierre dem Führer des »Champlain«, seinem Erstgebornen an, bis zum letzten Baby von nur einigen Wochen, das am heutigen Tage getauft werden sollte!

In Canada ist die Fruchtbarkeit der Ehen bekanntlich eine erstaunliche. Familien von zwölf bis fünfzehn Kindern sind ganz allgemein; solche, wo man deren zwanzig zählt, sind nicht selten, und daneben gibt es auch noch Familien von über fünfundzwanzig Abkömmlingen. Es sind das fast gar nicht mehr Familien, sondern Stämme, welche sich unter dem Einflusse patriarchalischer Sitten entwickeln.

Wenn Ismaël Busch, der alte Pionnier Fenimore Cooper's, einer der Helden des Romans »Die Prairie«, mit Stolz auf die sieben Söhne – die Töchter gar nicht gerechnet – hinweisen konnte, die seiner Ehe mit der gesundheitstrotzenden Esther entsprungen waren, welches Gefühl von Ueberlegenheit mußte dann Thomas Harcher erfüllen, den Vater von sechsundzwanzig lebenden Kindern, welche in der Farm zu Chipogan alle lustig emporwuchsen!

Fünfzehn Söhne und elf Töchter jeden Alters – von dreißig Jahren bis zu drei Wochen; von den fünfzehn Söhnen vier verheiratet, von den elf Töchtern zwei unter der Haube. Und aus diesen Ehen gab es wieder siebzehn Enkel, was – wenn man Vater und Mutter hinzuzählt – eine Anzahl von zweiundfünfzig Abkömmlingen der Familie Harcher ergibt.

Die fünf Aeltesten kennt der Leser bereits. Es waren diejenigen, welche die Besatzung des »Champlain« bildeten, die ergebenen Gefährten Johanns. Es wäre ein unnöthiger Zeitverlust, die Namen der übrigen Kinder anzuführen oder[159] besonders unterscheidende Züge ihres Charakters hier auszumalen. Söhne, Töchter, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter verließen niemals den Pachthof. Sie arbeiteten hier unter der Leitung des Hausherrn. Die Einen waren auf den Feldern beschäftigt, wo es ihnen nie an Arbeit fehlte; die Anderen hatten im Walde zu thun, wo sie das Geschäft der »Lumbermen« betrieben, und auch sie hatten keine Zeit müßig zu gehen. Zwei oder drei der Aeltesten jagten gewöhnlich in den benachbarten Wäldern von Chipogan und hatten keine Mühe, das für den ungeheuren Familientisch nöthige Wild zu liefern. Auf diesen Gebieten gibt es in der That viele Arten Wild, wie Caribus – eine Art große Renthiere – Bisons, Damhirsche, Ziegen, Elenthiere, ohne des kleinen Feder- und Haarwildes zu erwähnen, wie Tauchervögel, Wildgänse, Enten, Schnepfen und Wasserschnepfen, Rebhühner, Wachteln, Regenpfeifer u. a. m.

Zur Zeit, wo die Kälte sie zwang, die Gewässer des St. Lorenzo zu verlassen, kehrten Pierre Harcher und seine Brüder, Remy, Michel, Tony und Jacques, zum Winteraufenthalte nach dem Pachthofe zurück und betrieben dann die Jagd auf Pelzthiere. Man zählte sie zu den unerschrockensten Squatters, den unermüdlichsten Waldläufern, und sie lieferten auch mehr oder weniger kostbare Felle nach den Märkten von Montreal und Quebec.

Jener Zeit waren die schwarzen Bären, die Luchse, die Wildkatzen, die Marder, die canadischen Vielfraße, die Bisons, eine Abart der Marder (auch Minks genannt) die Füchse, Biber, Hermeline, die Otter und die Moschusratte noch nicht nach den nördlichen Gegenden ausgewandert, und damals blühte der Handel mit Fellen ganz besonders, da die Jäger noch nicht gezwungen waren, ihr Glück an den entfernten Küsten der Hudsons-Bai zu versuchen.

Um eine solche Familie von Eltern, Kindern und Kindeskindern zu beherbergen, bedurfte es natürlich einer Art Kaserne; und es war auch eine wirkliche Kaserne, jenes Gebäude, das mit seinen zwei Stockwerken die Wirthschaftsgebäude der Farm von Chipogan überragte. Daneben mußten doch auch noch einige Zimmer für Gäste freibleiben, welche Thomas Harcher vorübergehend bei sich aufnahm, entweder Freunde aus der Grafschaft, Farmer aus der Nähe oder »Reisende«, das heißt Schiffsleute, welche die Holzzüge auf den kleineren Flüssen bis nach dem großen Strome führen.


Willkommen, meine Jungen; Ihr kommt gerade zur rechten Zeit. (S. 163.)
Willkommen, meine Jungen; Ihr kommt gerade zur rechten Zeit. (S. 163.)

Endlich gab es auch eine besonders vorbehaltene Wohnung für Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter, wenn sie der Farmerfamilie gelegentlich einen Besuch abstatteten.[160]

Gerade an diesem Tage – am 5. October – waren Herr und Fräulein de Vaudreuil hierher gekommen. Es waren nicht allein die Beziehungen des Gutsherrn zu seinem Pächter, welche Herrn de Vaudreuil mit Thomas Harcher und den Seinigen verbanden, sondern vielmehr eine gegenseitige Neigung, eine Freundschaft von der einen, eine Ergebung von der anderen Seite, welche seit so vielen Jahren schon ungetrübt bestanden hatte. Außerdem aber fesselte sie auch noch die gleichmäßige Vaterlandsliebe aneinander. Der Farmer wie sein Herr waren mit Leib und Leben der nationalen Sache ergeben.

Jetzt war die Familie einmal vollzählig zusammen. Seit drei Tagen hatten Pierre und seine Brüder, nachdem sie den »Champlain« am Quai von Laprairie abgetakelt verlassen, ihr Winterquartier im Pachthofe bezogen. Nur der Adoptivsohn fehlte noch, er, den man in der Farm von Chipogan mit wärmster Liebe umfaßte.

Man erwartete Johann indeß noch im Laufe des Tages. Wenn Johann von diesem Familienfeste fern blieb, so mußte er mindestens in die Hände der Rip'schen Agenten gefallen sein, und die Nachricht von seiner Verhaftung hätte sich schon im Lande verbreitet.

Johann hatte sich ja gewissermaßen einer Pflicht zu entledigen, die er ebenso ernst nahm, wie Thomas Harcher selbst.

Die Zeit lag noch nicht fern, wo der Lehnsherr des Kirchspieles es auf sich genommen hatte, bei allen Kindern seiner Parochianen Pathenstelle zu vertreten – wobei er es freilich schon auf mehrere Hundert Mündel gebracht hatte. Herr de Vaudreuil zählte übrigens unter der Nachkommenschaft seines Pächters deren erst zwei; und dieses Mal sollte Clary bei dem sechsundzwanzigsten Kinde als Taufzeugin und Johann als Taufzeuge eintreten. Das junge Mädchen schätzte sich glücklich über diese Gelegenheit, welche sie Beide, wenigstens für einige Minuten, näher als sonst verband.

Uebrigens betraf es nicht eine Taufe allein, daß der Pachthof von Chipogan das Festgewand angelegt hatte.

Als Thomas Harcher seine fünf Söhne empfing, hatte er gerufen:

»Willkommen, meine Jungen; Ihr kommt gerade zur rechten Zeit!

– Wie immer, Vater! antwortete Jacques.

– Nein, noch mehr als sonst. Wenn Ihr uns heute bereit seht, das letzte Baby des Hauses zu taufen, so werden Clemens und Cäcilie morgen zum ersten Male das Abendmahl empfangen und übermorgen wird die Hochzeit Eurer Schwester Rose mit Bernard Miquelon stattfinden.[163]

– Zu Haus geht Alles gut, wie es scheint, hatte Tony erwidert.

– O, nicht schlecht, mein Junge, rief der Farmer; es ist auch gar nicht ausgeschlossen, daß ich Euch nächstes Jahr zu einer weiteren Feierlichkeit dieser Art zusammenrufe.«

Thomas Harcher begleitete dieses Versprechen mit herzlichem Lachen, dem Ausdrucke echter gallischer Heiterkeit, während Catherine die fünf kraftvollen Sprossen, ihre Erstgeborenen, zärtlich umarmte.

Der Taufact sollte um drei Uhr Nachmittags stattfinden. Johann hatte also noch Zeit genug, in der Farm einzutreffen. Sobald er erschien, wollte man sich nach dem eine halbe Lieue entfernten Gotteshause des Kirchspiels begeben.

Thomas, seine Gattin, seine Söhne und Töchter, ebenso wie die Schwiegersöhne und die Kindeskinder, hatten für diese Gelegenheit die Feiertagskleider angelegt, welche sie höchst wahrscheinlich während der zwei nächsten Tage weiter trugen.

Die Töchter erschienen in weißen Leibchen und lebhaft gefärbten Röcken, während ihre Haare offen auf die Schultern herabhingen. Die Söhne hatten die Arbeitsweste und die normannische Mütze, welche sie gewöhnlich trugen, abgelegt und sich mit der sonntägigen Tracht, einer Art Mantel aus schwarzem Stoffe mit buntem Gürtel und gefalteten, aus Ochsenhaut hergestellten Schuhen geschmückt.

Am Tage vorher und nachdem sie das Boot eines Fährmannes zum Ueberschreiten des St. Lorenzo benützt, hatten Herr und Fräulein de Vaudreuil Thomas Harcher getroffen, der sie mit seinem, von vorzüglichen Trabern gezogenen Buggin (eine Art offener Planwagen) erwartete.

Während der drei Lieues betragenden Fahrt bis zum Pachthofe von Chipogan hatte Herr de Vaudreuil sich beeilt, seinem Pächter mitzutheilen, daß er etwas auf der Hut sein möge. Die Polizei mußte wissen, daß er, Herr de Vaudreuil, die Villa Montcalm verlassen habe, und es war sehr möglich, daß gerade er der Gegenstand besonderer Ueberwachung wäre.

»Wir werden schon die Augen offen halten, gnädiger Herr! hatte Thomas Harcher, bei dem der Gebrauch dieser Anrede nichts Serviles an sich trug, geantwortet.

– Bisher hat sich noch keine verdächtige Gestalt in der Umgebung von Chipogan erblicken lassen?[164]

– Nein, noch keine jener Canouaches,1 mit Respect zu vermelden!

– Und ist Euer Adoptivsohn in der Farm eingetroffen? hatte Clary de Vaudreuil gefragt.

– Noch nicht, gnädiges Fräulein, und das macht mir einige Sorge.

– Seit er sich von seinen Begleitern in Laprairie getrennt, sind noch keine Nachrichten von ihm hierher gelangt?

– Noch keine einzige!«

Auch seit Herr und Fräulein de Vaudreuil sich in den – wie es sich von selbst versteht – besten Zimmern der Wohnung eingerichtet, war Johann noch nicht gekommen. Inzwischen war Alles zu der Taufe vorbereitet, und wenn der Pathe nicht diesen Nachmittag eintraf, wußte man nicht recht, was dann geschehen sollte.

Pierre und zwei oder drei seiner Brüder waren auch eine gute Lieue auf die Landstraße hinausgegangen. Von Johann fand sich aber keine Spur, und schon schlug die Hausglocke von Chipogan die Mittagsstunde.

Thomas und Catherine besprachen sich da über diese unerklärliche Verzögerung.

»Was machen wir denn, wenn er auch bis drei Uhr nicht kommt? fragte der Farmer.

– Nun, dann warten wir eben noch, antwortete Catherine gelassen.

– Was wollen wir erwarten?

– Ei, die Ankunft eines siebenundzwanzigsten Kindes natürlich nicht erwiderte die Farmersfrau.

– Freilich, desto mehr, versetzte Thomas, als ein solches, ohne uns einen Vorwurf einzubringen, wahrscheinlich niemals kommen dürfte.

– Du scherzest wohl, mein Herr Harcher, nicht wahr?

– Ich scherze gar nicht! Doch im Ernste, wenn Johann nun allzulange ausbleibt, werden wir wohl auf ihn verzichten müssen...

– Auf ihn verzichten! rief Catherine, das auf keinen Fall; da ich mir einmal in den Kopf gesetzt habe, daß er bei einem unserer Kinder Gevatter stehen müsse, so warten wir, bis er sich einstellt.

– Und wenn das nun gar nicht der Fall ist, antwortete Thomas, dem nichts daran zu liegen schien, daß die Taufe auf ganz unbestimmte Zeit verschoben[165] würde. Wenn es ihm Verhältnisse überhaupt unmöglich gemacht haben zu kommen?

– Keine Schwarzsehereien, Thomas, erwiderte Catherine, und ein wenig Geduld. Was ist denn dabei – taufen wir heute nicht, so taufen wir eben morgen.

– Schön! Morgen gehen aber Clemens und Cäcilie, der Sechzehnte und die Siebzehnte, zum ersten Male zum Abendmahle.

– Nun gut, dann übermorgen.

– Uebermorgen ist die Hochzeit unserer Tochter Rose mit dem wackeren Bernard Miquelon.

– Meinetwegen auch noch nach dieser, Thomas! Uebrigens kann nöthigenfalls Alles auf einmal abgemacht werden. Wenn ein kleines Kind aber einen Pathen wie Johann und eine Taufzeugin wie Fräulein Clary bekommen soll, da darf man sich gar nicht beeilen, dafür Andere zu suchen.

– Und der Pfarrer ist auch schon benachrichtigt!... bemerkte Thomas seiner halsstarrigen Ehehälfte.

– Das lass' nur meine Sorge sein, entgegnete Catherine. O, es ist ein vortrefflicher Mann, unser Herr Pfarrer. Uebrigens wird ihm sein Zehent deshalb nicht entgehen und er wird sich hüten, Kunden wie uns vor den Kopf zu stoßen.«

Im ganzen Kirchspiele mochte es in der That wenige Pfarrkinder geben, welche ihrem Geistlichen soviel Beschäftigung gegeben hatten, wie Thomas und Catherine.

Als nun aber Stunde auf Stunde verrann, wurde die Unruhe der Leute doch etwas lebhaft. Wußte die Familie Harcher auch nicht, daß ihr angenommener Sohn der junge Patriot Johann ohne Namen sei, so war das doch Herrn und Fräulein de Vaudreuil nicht unbekannt, und diese hatten also alle Ursache, für ihn zu fürchten.

Sie wollten auch gern erfahren, unter welchen Umständen sich Johann von Pierre Harcher und dessen Brüdern getrennt habe, als er den »Champlain« verließ.

»Ja, das geschah, als wir beim Dorfe Caughnawaga kaum vor Anker gegangen waren, erklärte Pierre.

– An welchem Tage?

– Am 25. September gegen fünf Uhr Abends.[166]

– Er ist also schon neun Tage von Euch fort? bemerkte Herr de Vaudreuil.

– Ja, volle neun Tage.

– Und er hat nicht gesagt, was er vorhatte?

– Seine Absicht, antwortete Pierre, ging dahin, sich nach der Grafschaft Chambly zu begeben, wo er während unserer großen Sommerfahrt noch nicht gewesen war.

– Ja, ja,... das wäre ja Grund genug, sagte Herr de Vaudreuil, und doch beklage ich, daß er sich allein in eine Gegend gewagt hat, wo die Polizei ihm jeden Augenblick auf dem Fuße ist.

– Ich hatte ihm vorgeschlagen, die Begleitung Jacques' und Tonys anzunehmen, erwiderte Pierre; er schlug das aber ab.

– Und was denkt Ihr nun über die Sache, Pierre? fragte Herr de Vaudreuil.

– Ich bin der Meinung, Johann hatte schon lange die Absicht, nach Chambly zu gehen, hütete sich aber, etwas davon zu sagen. Als es nun bestimmt war, daß wir in Laprairie landen wollten, um Alle zusammen gleich nach der Abtakelung des »Champlain« nach der Farm heimzukehren, hat er uns erst in dem Augenblicke, wo wir vor Caughnawaga lagen, seinen Entschluß mitgetheilt.

– Und als er wegging, versprach er zur Taufe hier zu sein?

– Ja, gnädiges Fräulein, bestätigte Pierre, er weiß ja, daß er mit Ihnen das Baby über die Taufe halten sollte, und übrigens wäre ohne ihn die Familie Harcher auch nicht vollzählig!«

Gegenüber einem so bestimmten Versprechen mußte man sich wohl darein ergeben, geduldig zu warten.

Wenn nun der ganze Tag verstrich, ohne daß Johann sichtbar wurde, so schienen die Befürchtungen um ihn leider gerechtfertigt zu sein. Traf ein Mann von so entschiedenem Willen wie er nicht an dem verabredeten Tage ein, so mußte sich die Polizei seiner Person bemächtigt haben... Dann wußten aber Herr und Fräulein de Vaudreuil nur zu gut, daß er verloren war.

In diesem Augenblicke öffnete sich die nach dem großen Hofe führende Thür und ein Wilder erschien auf der Schwelle.

Ein Wilder – so nennt man in Canada noch immer die Indianer, selbst in amtlichen Schriftstücken, ebenso wie man deren Frauen, welche in der


Thomas Harcher erwartete sie mit seinem Buggin. (S. 164.)
Thomas Harcher erwartete sie mit seinem Buggin. (S. 164.)

Sprache der Irokesen und Huronen »Squaws« heißen, mit dem Namen »Wildinnen« bezeichnet.

Dieser Wilde war ein Hurone und zwar von reiner Race, was man an seinem bartlosen Gesicht, den vorspringenden viereckigen Backenknochen und den kleinen lebhaften Augen erkannte. Der hohe Wuchs,[167] der sichere und durchdringende Blick, die Farbe seiner Haut und die Art und Weise, wie er das Haupt trug, machten ihn zum unverkennbaren Typus der eingeborenen Race des Westens Amerikas.


Der Indianer ertheilte seinen Bewegungen eine charakteristische Würde. (S. 170.)
Der Indianer ertheilte seinen Bewegungen eine charakteristische Würde. (S. 170.)

Wenn diese Indianer die angeerbten Sitten bewahrt, die Gebräuche der Stämme aus alter Zeit beibehalten[168] haben und noch heute sich gern in eignen Dörfern zusammendrängen und streng auf gewisse Privilegien achten, welche die Behörden ihnen übrigens gern gewähren, wenn sie sich endlich mit Vorliebe entfernt von den »Bleichgesichtern« halten, so sind sie dennoch ein wenig modernisirt, mindestens in Bezug auf – ihre Tracht. Nur unter Umständen kann man sie noch in ihrer Kriegstracht zu sehen bekommen.[169]

Dieser Hurone, der sich fast ganz der gewöhnlichen canadischen Kleidung bediente, gehörte der Sippe der Mahogannis an, welche einen Flecken von vierzehn-bis fünfzehnhundert Feuerstellen im Norden der Grafschaft bevölkerten. Diese Wilden standen, wie schon erwähnt, in Beziehungen mit der Farm zu Chipogan, wo der Farmer ihnen stets einen freundlichen Empfang zutheil werden ließ.

»Und was wollt Ihr, Hurone? rief er, als der Indianer eingetreten war und ihm feierlich den traditionellen Händedruck verabreicht hatte.

– Thomas Harcher wird jedenfalls auf die Frage antworten, die ich an ihn zu richten denke? erwiderte der Hurone mit dem seiner Race eigenthümlichen gutturalen Tone.

– Und warum nicht, antwortete der Farmer, wenn meine Antwort für Euch einen Nutzen haben kann?

– Mein Bruder wird mich anhören und dann beurtheilen, was er sagen kann.«

Schon an dieser Sprechweise, bei welcher der Wilde nur in der dritten Person sprach, an der feierlichen Form, seine Fragen zu stellen, welche jedenfalls auf eine sehr einfache Erkundigung hinausliefen, hätte man den Abkömmling der vier großen Nationen erkannt, welche ehemals das Gebiet von Amerika inne hatten. Man theilte sie damals in Algonquins, Huronen, Montagnais und Irokesen, welche in die Einzelsippen der Mohawks, Oneidas, Onondagas, Tuscaroras, Delawaren und Mohikaner zerfielen, welch' letztere man in den Erzählungen Fenimore Cooper's eine so hervorragende Rolle spielen sieht. Heutzutage sind von diesen alten Stämmen nur noch einzelne Ueberreste zu finden.

Nachdem er einige Augenblicke schweigend vor dem Farmer gestanden, nahm der Indianer, seinen Bewegungen eine charakteristische Würde ertheilend, wieder das Wort.

»Mein Bruder kennt, wie uns gesagt wurde, den Notar Nicolas Sagamore in Montreal?

– Ich habe die Ehre, Hurone.

– Soll er nicht nach der Farm von Chipogan kommen?

– So ist es.

– Könnte mein Bruder es mir wissen lassen, ob er schon eingetroffen ist?

– Noch nicht, antwortete Thomas Harcher. Wir er warten ihn erst morgen,[170] wo er den Ehecontract zwischen meiner Tochter Rose und Bernard Miquelon aufsetzen soll.

– Ich danke meinem Bruder für die Auskunft.

– Habt Ihr dem Meister Nick vielleicht eine wichtige Mittheilung zu machen?

– Eine sehr wichtige, erklärte der Hurone. Morgen werden also die Krieger des Stammes das Dorf Walhatta verlassen, um ihm einen Besuch abzustatten.

– Ihr werdet auf der Farm von Chipogan willkommen sein,« antwortete Thomas Harcher.

Noch einmal streckte der Hurone dem Farmer die Hand entgegen und zog sich dann mit würdigem Ernste zurück.

Er war noch kaum eine Viertelstunde fort, als die Hofthür sich wiederum öffnete. Dieses Mal war es Johann, dessen Ankunft mit allseitigem Freudengeschrei bewillkommt wurde.

Thomas und Catherine Harcher, ihre Kinder und ihre Enkel liefen auf ihn zu, und es bedurfte einiger Zeit, um den Willkommen aller Freunde zu beantworten, welche so glücklich waren, ihn wiederzusehen. Händedrücken und Umarmungen dauerten wenigstens fünf Minuten ohne Unterbrechung an.

Da die Zeit drängte, konnten Herr de Vaudreuil, Clary und Johann nur wenige Worte wechseln; da sie aber drei Tage lang zusammen auf der Farm verweilen sollten, mußten sie ja Muße genug finden, ihre Angelegenheiten zu besprechen. Thomas Harcher und seine Frau hatten es eilig, sich nach der Kirche zu begeben. Man hatte den Pfarrer ja schon allzulange warten lassen. Der Pathe und die Pathin waren zur Stelle, jetzt hieß es aufbrechen.

»Vorwärts! Vorwärts! rief Catherine, scheltend und anordnend von Einem zum Anderen laufend. Vorwärts, mein Sohn, sagte sie zu Johann, Fräulein Clary den Arm angeboten! Und Thomas?... Wo steckt der Thomas?... Wo steckt denn Thomas... Er wird doch niemals fertig! – Thomas!...

– Da bin ich, Frau!

– Du wirst das Püppchen tragen.

– Natürlich.

– Und lass' mirs nicht fallen!...

– Keine Angst, ich habe schon fünfundzwanzig zum Herrn Pfarrer getragen und habe genug Uebung...[171]

– Schon gut! versetzte Catherine, ihm das Wort abschneidend. Nun vorwärts!«

Der Zug verließ die Farm in folgender Ordnung: an der Spitze Thomas, der den Säugling in den Armen hielt, und Catherine Harcher unmittelbar neben ihm; Herr de Vaudreuil, seine Tochter und Johann gleich nach ihnen; hinter diesen aber der lange Schweif der Familie aus drei Generationen bestehend, wo die Altersstufen der Einzelnen so vermengt waren, daß das jüngste geborene Baby unter den Kindern seiner Brüder und Schwestern schon eine Anzahl Neffen und Nichten hatte, welche älter waren als dieses selbst.

Die Witterung war schön; zu dieser Jahreszeit wäre die Luftwärme aber schon eine recht niedrige gewesen, wenn von dem wolkenlosen Himmel nicht ein wahrer Ueberfluß an Sonne herabstrahlte. So wand sich die Gesellschaft unter den Baumkronen und über die geschlängelten Waldpfade hin, an deren Ende der Glockenthurm der kleinen Kirche hervorragte. Ein Teppich von trocknen Blättern bedeckte den Boden. Alle gelben Schattirungen des Herbstes vermischten sich in den Gipfeln der Kastanienbäume, der Birken, Eichen, Buchen und Zitterpappeln, deren Zweigskelett sich da und dort scharf vom Himmelsblau abhob, während die Fichten und Tannen noch ihren grünen Helmbusch trugen.

Mit dem Fortschreiten des kleinen Zuges schlossen sich mehrere Freunde Thomas Harcher's, Farmer aus der Nachbarschaft, demselben unterwegs an. Die Zahl der Theilnehmer an jenem wuchs so zusehends, daß sie beim Eintreffen in der Kirche wohl an hundert betrug.

Sogar völlig Fremde, welche aus Neugier, oder weil sie eben nichts zu thun hatten, gekommen waren, reihten sich dem Zuge ein, wenn sie zufällig dessen Weg kreuzten.

Pierre Harcher bemerkte unter andern auch einen Mann, dessen Haltung ihm etwas verdächtig erschien. Offenbar war dieser Unbekannte nicht aus dem Lande hier. Pierre hatte ihn noch niemals gesehen, und es machte sein Erscheinen auf ihn den Eindruck, als suche er die Bewohner der Farm scharf ins Auge zu fassen!

Pierre hatte ganz Recht, diesem Manne zu mißtrauen. Es war einer der Polizisten, welche den Auftrag erhalten hatten, Herrn de Vaudreuil, seit dieser die Villa Montcalm verlassen, auf den Fersen zu bleiben. Rip, der sich auf der Fährte Johanns ohne Namen befand, welch' Letzteren man in der Gegend von Montreal versteckt glaubte, hatte jenen Agenten mit dem Mandate versehen,[172] nicht nur Herrn de Vaudreuil, sondern auch die Familie Thomas Harcher's, dessen reformistische Anschauungen bekannt waren, zu beobachten.

Während sie so dicht neben einander hergingen, unterhielten sich Herr de Vaudreuil, seine Tochter und Johann von der Verzögerung, welcher dieser auf dem Rückwege nach der Farm erlitten hatte.

»Von Pierre Harcher hatte ich erfahren, sagte Clary, daß Sie sich seiner Zeit von ihm trennten, um Chambly und die benachbarten Kirchspiele zu besuchen.

– Ganz richtig, antwortete Johany.

– Kommen Sie jetzt direct von Chambly?

– Nein, ich mußte durch die Grafschaft Hyazinthe wandern, von wo aus ich nicht so schnell, wie ich wünschte, zurückkehren konnte. Ich sah mich gezwungen, einen Umweg jenseits der Grenze einzuschlagen.

– Befanden sich denn Polizeiagenten auf Ihrer Spur? fragte Herr de Vaudreuil.

– Ja, bestätigte Johann, doch gelang es mir ohne große Mühe, sie noch einmal hinters Licht zu führen.

– Jede Stunde Ihres Lebens ist doch eine Gefahr! bemerkte Fräulein de Vaudreuil. Es gibt keinen Augenblick, wo Ihre Freunde nicht für Sie zitterten! Seit Ihrem Aufbruch aus der Villa Montcalm haben wir uns unausgesetzt um Sie beunruhigt.

– Auch ich, entgegnete Johann, bin es nun überdrüssig, ein Leben zu führen, das ich mir immer nur erkämpfen muß; mich drängt es, im vollen Licht des Tages zu handeln, dem Feinde Auge in Auge gegenüber zu treten. Ja, es ist nun hohe Zeit, daß der Kampf beginnt, und das wird nicht lange mehr dauern. In diesem Augenblick lassen Sie uns die Zukunft um der Gegenwart willen vergessen. Das ist eine Art Waffenstillstand, eine Ruhestunde vor der Schlacht. Hier, Herr de Vaudreuil, bin ich ja nur der Adoptivsohn dieser braven, ehrenwerthen Familie.«

Der Zug war am Ziel. Kaum vermochte die kleine Kirche die Menge zu fassen, die unterwegs noch weiter angewachsen war.

Der Pfarrer stand auf der Schwelle, nahe der bescheidenen Steinschale, welche zu den Tauffeierlichkeiten der unzähligen Neugebornen des Kirchspiels diente.

Thomas Harcher präsentirte mit gerechtem Stolze den sechsundzwanzigsten, aus seiner Ehe mit der nicht weniger stolzen Catherine hervorgegangenen Sprößling.[173]

Clary de Vaudreuil und Johann nahmen nebeneinander Platz, während der Pfarrer die übliche Salbung vornahm.

»Und wie soll er heißen? fragte er.

– Johann, wie sein Pathe,« antwortete Thomas Harcher, der dem jungen Mann die Hand entgegenhielt.

Es ist zu bemerken, daß die alten französischen Gebräuche sich in den Städten wie auf dem Lande in der Provinz Canada noch heute erhalten haben. Vorzüglich in den ländlichen Gemeinden rühren die Einnahmen des katholischen Clerus nur aus dem Zehent her. Dieser beträgt den sechsundzwanzigsten Theil aller Früchte und Ernteergebnisse. In Folge einer ebenso merkwürdigen wie rührenden Ueberlieferung erstreckt sich dieses Recht des Zehenten aber nicht allein auf die Früchte des Feldes.

Thomas Harcher verwunderte sich also gar nicht, als der Pfarrer nach vollendeter Taufe mit lauter Stimme sagte:

»Dieses Kind gehört der Kirche. Thomas Harcher – wenn es der Täufling des Pathen und der Pathin ist, die Sie für dasselbe erwählt haben, so ist es nicht weniger auch mein Mündel. Bilden die Kinder nicht gewissermaßen auch ein Ernteerzeugniß der Familie? Nun, ebenso wie Sie mir jede sechsundzwanzigste Getreidegarbe ausgeliefert haben würden, ebenso macht die Kirche auf dieses Ihr sechsundzwanzigstes Kind Anspruch.

»Wir erkennen das Recht derselben an, Herr Pfarrer, antwortete Harcher, und meine Frau und ich, wir unterwerfen uns ohne Widerrede.«

Das Kind wurde darauf nach dem Pfarrhause getragen und dort triumphirend aufgenommen.

Nach den Satzungen, betreffend den Zehent, gehörte der kleine Johann der Kirche an und als solcher hatte seine Erziehung auf Kosten des ganzen Kirchspiels zu erfolgen.

Und als der Festzug sich wieder in Bewegung setzte, um nach der Farm von Chipogan zurückzukehren, da erschallten Freudenrufe aus Hunderten von Kehlen zur Ehre des wackeren Thomas und der Catherine Harcher.[174]

Fußnoten

1 Spottname, den die Canadier gewissen Wilden des Westens beilegen.


Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 175.
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