Sechstes Capitel
Der St. Lorenzo.

[100] Das Thal des St. Lorenzo ist vielleicht eines der ausgedehntesten, welches geologische Vorgänge jemals in die Oberfläche der Erdkugel eingegraben haben. Humboldt schreibt ihm eine Größe von zweihundertsiebzigtausend (franz.) Quadratmeilen zu – d. h. eine solche, welche der von ganz Europa gleichkommt.

Der in seinem Verlaufe sehr launenhafte, mit Inseln besäte, von Stromschnellen unterbrochene und von Wasserfällen quer durchschnittene Strom zieht sich durch das ganze Thal hin, welches im eigentlichen Sinne das französische Canada bildet. Dieses Gebiet, in dem sich zuerst die Söhne des auswandernden Adels niederließen, ist heutzutage in Grafschaften und Bezirke eingetheilt. An der Mündung des St. Lorenzo, in der breiten Bai jenseits seiner Verzweigung, erheben sich der Madelaine-Archipel, die Insel des Cap Breton und des Prinzen Eduard, die große Insel Anticosti, welche die dem Aussehen nach so verschiedenen Küsten von Labrador, Neufundland, Acadien oder Neu-Schottland gegen die furchtbaren Stürme des Atlantischen Weltmeers schützen.

Erst Mitte April erfolgt hier gewöhnlich der Abgang des Eises, das sich während der langen und strengen Winterperiode des canadischen Klimas angesammelt hatte. Dann wird der St. Lorenzo schiffbar. Selbst Schiffe von großem Tonnengehalt können hinauf gelangen bis in die Gegend der Seen, jener Süßwassermeere, deren Kette sich durch das sagenumwobene Land hinzieht, das man so bezeichnend »Das Land Coopers« genannt hat. Zu dieser Jahreszeit belebt sich der Strom, in dem Ebbe und Fluth weit eindringen, wie eine Rhede, deren Blokade durch einen Friedensschluß aufgehoben wurde. Segelboote, große und kleinere Dampfschiffe, Holzflöße, Lootsenboote, Küstenfahrer, Fischerbarken, Lustyachten[100] und Canots jeder Art gleiten über die Oberfläche seiner Gewässer, die endlich von ihrer dicken Eisdecke befreit sind. Nach einem halben Jahr des Todesschlafes beginnt für ein halbes Jahr das Leben.

Am 13. September gegen sechs Uhr Morgens verließ ein als Kutter getakeltes Fahrzeug den kleinen Hafen von St. Anna an der Mündung des St. Lorenzo und an dem südlichen, nach dem Golfe zu sich abrundenden Ufer desselben. In diesem Fahrzeuge saßen fünf bis sechs Fischer, welche ihr einträgliches Gewerbe von den Stromschnellen bei Montreal bis zur Ausmündung des Flusses hin betrieben. Nachdem sie ihre Netze und Schnüre an den Stellen ausgeworfen, welche sie aus Erfahrung als ergiebig kennen, bringen sie die Salz- und Süßwasserfische von Ortschaft zu Ortschaft zum Verkauf – richtiger müßte es heißen, von Haus zu Haus, denn die beiderseitigen Ufer begrenzt eine fast ununterbrochene Reihe von Wohnstätten bis hinauf zur Westgrenze der Provinz.

Diese Fischer stammten aus Acadien. Ein Fremder würde das schon aus ihrer Sprachbildung und an dem in Neu-Schottland so rein gebliebenen Typus erkennen, da sich hier die französische Race ganz besonders gedeihlich entwickelt hat. Verfolgt man die Reihe ihrer Vorfahren, so wird man unter diesen fast sicherlich einige jener Proscribirten antreffen, welche vor einem Jahrhundert durch die königlichen Truppen decimirt wurden und deren Unglück Longfellow so schön in seinem ergreifenden Gedichte »Evangeline« geschildert hat.

Das Gewerbe eines Fischers ist vielleicht das angesehenste in Canada, mindestens in den Küstengemeinden, wo man zehn- bis fünfzehntausend Fischerboote zählt, und mehr als dreißigtausend Mann die Gewässer des Stromes und seiner Zuflüsse ausbeuten.

Der Kutter trug noch einen sechsten Passagier, der ebenso wie die übrigen Insassen gekleidet war, von einem Fischer aber weiter nichts als eben das Costüm hatte. Man hätte sich hierüber gewiß täuschen lassen, und es wäre sehr schwierig gewesen, in ihm den jungen Mann zu vermuthen, dem die Villa Montcalm achtundvierzig Stunden lang Unterkunft gewährt hatte.

Es war in der That Johann ohne Namen.

Während seines Verweilens in der Villa hatte er über das Incognito betreffs seiner Person und seiner Familie keinerlei Aufschluß gegeben. – Johann – das war der einzige Name, den Herr und Fräulein de Vaudreuil ihm gaben.[101]

Nach Beendigung ihrer Verhandlung am 3. September hatten Vincent Hodge, William Clerc und André Farran sich wieder nach Montreal heimbegeben, und schon zwei Tage nach seinem Eintreffen in der Villa nahm Johann Abschied von Herrn de Vaudreuil und dessen Tochter.

Wie viele Stunden während dieses kurzen Aufenthaltes waren da verbracht worden im Gespräch über das neue Unternehmen, welches gewagt werden sollte, um Canada der englischen Herrschaft zu entreißen! Mit welch' hoher Genugthuung hörte Clary den jungen Verbannten die Sache preisen, die ihnen ja beiden so theuer war! Er selbst hatte inzwischen etwas von der Kälte abgestreift, die er zuerst zeigte, und welche mehr vorbedacht erschien. Vielleicht unterlag er schon dem Einflusse der empfindsamen Seele des jungen Mädchens, deren Liebe zum Vaterlande sich der seinigen so innig anschloß.

Am Abend des 5. September war es gewesen, als Johann Herrn und Fräulein de Vaudreuil verließ, um seine Irrfahrten wieder zu beginnen und den Feldzug reformatorischer Propaganda in den Grafschaften Unter-Canadas zu vollenden.

Vor der Trennung hatten alle Drei verabredet, sich im Pachthofe zu Chipogan bei Thomas Harcher wieder zu treffen, dessen Familie, wie sich zeigen wird, die Familie des jungen Patrioten geworden war. Und doch, wie unbestimmt blieb es, ob er und das junge Mädchen sich jemals wiedersehen würden, da seinen Kopf so viele Gefahren bedrohten.

Jedenfalls war Niemand auf die Vermuthung gekommen, daß es Johann ohne Namen war, dem die Villa Montcalm Zuflucht gewährt hatte. Der Chef des Hauses Rip & Cie. hatte, auf falsche Fährte geleitet, seinen dermaligen Aufenthalt nicht aufzuspüren vermocht. Johann hatte die Villa ebenso unbemerkt verlassen können, wie er dahin gekommen; dann überschritt er im Fährboote den St. Lorenzo am Ende der Insel Jesus und verlor sich in die Landschaft des Inneren nach der amerikanischen Grenze hin, um diese zu überschreiten, wenn es seiner Sicherheit wegen nothwendig erschien. Da man ihn – und mit Recht, denn Johann kam daher – inmitten der Kirchspiele des oberen Stromes suchte, hatte er, ohne erkannt oder verfolgt zu werden, den Fluß St. Jean erreichen können, dessen Lauf theilweise die Grenze von Neu-Braunschweig bildet. Dort, im kleinen Hafen von St. Anna, erwarteten ihn seine muthigen Gefährten, die sich demselben Werke widmeten und auf deren Ergebung er ohne jeden Rückhalt bauen konnte.[102]

Es waren das fünf Brüder – die Aeltesten ein Zwillingspaar, Pierre und Remy, dreißig Jahre alt, und die drei anderen, Michel, Tony und Jacques, neunundzwanzig, achtundzwanzig und siebenundzwanzig zählend. – fünf der zahlreichen Kinder Harcher's und seiner Gattin Catharina aus der Grafschaft Laprairie, der Pächter von Chipogan.

Einige Jahre früher, bei Gelegenheit des Aufstandes von 1831, hatte Johann ohne Namen, dem die Polizei dicht an den Fersen war, in jenem Pachthofe Zuflucht gefunden; doch wußte er damals nicht, daß dieser Herrn de Vaudreuil gehörte. Thomas Harcher nahm den Flüchtling auf und betrachtete ihn, als ob er zu seiner Familie gehörte. Wenn er auch wußte, daß es einer der Patrioten war, dem er ein Asyl gewährte, so wußte er mindestens nicht, daß das Johann ohne Namen war.

Während der Zeit seines Verweilens auf dem Pachthofe knüpfte Johann – nur unter diesem Namen hatte er sich vorgestellt – ein festes Freundschaftsband mit dem älteren Sohne Thomas Harcher's. Was sie empfanden, das fand in seinem Herzen Widerhall. Es waren unerschrockene Anhänger der Reform, mit jenem eingefleischten Haß gegen Alles, was angelsächsischer Race war, »was nach England roch,« wie man jener Zeit in Canada sagte.

Als Johann Chipogan verließ, geschah das an Bord des Kutters der fünf Brüder, welcher vom April bis zum September den Strom besuchte. Er betrieb auffällig das Gewerbe eines Fischers, was ihm in alle Häuser der Uferkirchspiele Eingang verschaffte. So hatte er den Nachforschungen aus dem Wege gehen und eine neue aufständische Bewegung vorbereiten können. Vor seinem Eintreffen in der Villa Montcalm waren es die Grafschaften am Ottawa gewesen, die er in der Provinz Ontario besuchte. Und während er jetzt den Strom von dessen Mündung bis Montreal hinausging, wollte er an die Bewohner der Grafschaften Unter-Canadas die letzte Parole ausgeben, jener Bewohner, welche so gern in Erinnerung an die Franzosen von ehedem fragten: »Wann werden wir unsere braven Leute wiedersehen?«

Das Fahrzeug hatte eben den Hafen von St. Anna verlassen. Trotz der abfallenden Flut gestattete eine aus Osten wehende frische Brise ihr entgegen zu laufen, als Pierre Harcher, der Führer des »Champlain«, das Segel und die Klüver hatte hissen lassen; »Champlain« war der Name des Kutters.

Das Klima von Canada ist minder gemäßigt als das der Vereinigten Staaten und im Sommer sehr heiß, im Winter sehr kalt, obgleich das Land[103] etwa mit Frank reich in gleicher Breite liegt. Es rührt das wahrscheinlich daher, daß die warmen Gewässer des von seinen Küsten abgelenkten Golfstromes diese Excesse seiner Temperatur nicht abmindern.

Während der ersten Hälfte des Monats September war die Wärme noch sehr hoch gewesen und die Segel des »Champlain« blähten sich nur unter einer glühenden Brise.

»Das wird einen harten Tag geben, meinte Pierre, vorzüglich, wenn der Wind nach Süden umspringen sollte.

– Ja, und der Teufel fricassire die Schnaken und Muskitos, von denen es hier am Strande von St. Anna wahrlich Myriaden gibt.

– O, diese Hitze wird schon aufhören und bald erfreuen wir uns der Milde des echten Indianersommers, liebe Brüder!«

Es war Johann gewesen, der seinen Gefährten diesen, ihrer würdigen brüderlichen Namen gegeben hatte; und er hatte auch Recht, die Schönheit des »Indianersommers« von Canada zu preisen, der speciell die Monate September und October umfaßt.

»Fischen wir noch heute Vormittag? fragte ihn Peter Harcher, oder segeln wir noch weiter den Strom hinauf?

– Ich denke, wir werfen die Schnuren bis zehn Uhr aus, antwortete Johann, und verkaufen unsere Beute dann gleich in Matane.

– Dann wollen wir nach der Monts-Spitze hinüber segeln, erklärte der Führer des »Champlain«. Dort ist das Wasser ergiebiger und wir kommen nach Matane mit dem Stillstand der Gezeiten.«

Die Schoten wurden angezogen, das Fahrzeug lufte an, und unterstützt durch die Brise glitt es, trotz entgegengesetzter Unterströmung, schräg auf, genannter Landspitze zu, welche an dem nördlichen Ufer des an dieser Stelle neun bis zehn Lieues (352/3 bis 40 Kilometer) breiten Stromes vorspringt.

Nach einstündiger Fahrt legte der »Champlain », dessen Focksegel gelöst war, bei, und man begann unter wenig Segeldruck und mäßiger Bewegung zu fischen.

Er befand sich hier inmitten einer prächtigen, von sorgfältig bebauten Feldern eingerahmten Bucht. Das cultivirte Land aber erstreckte sich nach Norden zu bis nach den ersten Wellenlinien der Laurentidenkette, und im Süden bis zu den Notre-Dame-Bergen, deren höchste Spitzen 1300 Fuß über die Meeresfläche aufragen.[104]

Pierre Harcher und seine Brüder waren sehr geschickt in ihrer Arbeit, die sie stets auf dem Flusse übten. Inmitten der Stromschnellen und Barren von Montreal singen sie stets mittels Reißbündeln eine Menge Alsen (Maifische). In der Umgebung von Quebec dagegen erbeuteten sie Lachse und Forellen, welche zur Laichzeit die oberen, mehr süßen Gewässer aufsuchen. Es war nur sehr selten, daß ihre Fischzüge nicht recht ergiebig ausgefallen wären.


Johann gab mehr Geld zurück. (S. 106.)
Johann gab mehr Geld zurück. (S. 106.)

An diesem Vormittage wimmelte es geradezu von Seeforellen, so daß die Netze mehrmals zu reißen drohten. Gegen zehn Uhr entfaltete der[105] »Champlain« denn auch wieder seine Segel und steuerte nach Matane in südwestlicher Richtung dahin.

Es empfahl sich auch mehr, nach dem südlichen Ufer des Flusses zu gehen, im Norden sind nämlich Flecken und Dörfer sehr dünn gesät und die Bevölkerung der öden Gegenden nur sehr spärlich. Das Gelände hier besteht eigentlich nur aus einer Anhäufung chaotischer Felsenmassen. Mit Ausnahme des Saguenay-Thales, durch welches der St. Jean-See abfließt und das wirklichen Alluvialboden hat, ist der Boden sehr unfruchtbar, abgesehen von den reichen Wäldern, welche das Land in großem Umfange bedecken.

Im Süden des Flusses dehnt sich dagegen ein gesegneter Landstrich aus, der reiche Ernten liefert. Hier finden sich blühende Dorfschaften und wie schon erwähnt ein wirkliches Panorama von Wohnstätten, das von der Mündung des St. Lorenzo bis nach Quebec hinaufreicht. Fühlen sich Lustreisende auch von den malerischen Reizen des Saguenay-Thales oder von der Malbaie angelockt, so besuchen die canadischen und amerikanischen Badereisenden – vorzüglich diejenigen, welche die brennende Hitze Neu-Englands nach der frischeren Gegend des großen Stromes verjagt – mit Vorliebe dessen südliche Ufer.

Hier, und zwar zuerst auf dem Markte von Matane, war es, wo der »Champlain« seine Ausbeute von Fischen zum Verkauf bot. Johann und zwei der Brüder Harcher, Michel und Tony, gingen von Thür zu Thür, um ihren Fang anzubieten. Niemand konnte es da auffallen, wenn Johann in einem Hause länger verweilte, als es ein derartiger Handel wohl bedingte; daß er in die Wohnungen eintrat und einige Worte, nicht mit den Dienstleuten, sondern mit dem Hausherrn wechselte. Ebenso konnte es ja kein Mensch bemerken, daß er in mancher mehr bescheidenen Wohnung zuweilen mehr Geld zurückgab, als seine Kameraden für ihre Waare lösen konnten.

So ging das mehrere Tage fort inmitten der Flecken des südlichen Ufers, in Rimouski, in Bic und Trois-Pistoles, wie auf dem Strand bei Caconna, einem damals bevorzugten Badeorte am St. Lorenzo.

In Rivière-Du-Loup – einer kleinen Stadt, wo Johann am Morgen des 17. September verweilte – untersuchten die mit der Ueberwachung des Stromes besonders beauftragten Beamten auch den »Champlain«, doch verlief Alles aufs Beste. Schon seit mehreren Jahren war Johanns Name in die Schiffspapiere des Kutters eingetragen, so als wäre er einer der Söhne Harcher's. Niemals vermuthete deshalb auch die Polizei, daß sich in der Kleidung eines[106] canadischen Fischers der Verbannte verbarg, dessen Kopf für jeden, der ihn einlieferte, sechstausend Piaster werth war.

Als die Beamten ihre Untersuchung beendet hatten, begann Pierre Harcher:

»Vielleicht thun wir gut, am jenseitigen Stromufer Zuflucht zu suchen.

– Dahin geht auch mein Rath, bemerkte Michel.

– Doch weshalb? fragte Johann. Ist unser Fahrzeug jenen Leuten verdächtig vorgekommen? Ist etwa nicht Alles verlaufen wie gewöhnlich? Kann Jemand auf den Gedanken kommen, ich gehörte nicht zur Familie Harcher's wie Deine Brüder und Du selbst?

– O, ich meine, das ist sogar in der That der Fall, rief Jacques, der Jüngste der fünf, der immer lustig und guter Dinge war. Unser braver Vater hat so viel Kinder, daß eins mehr oder weniger auch nichts ausmacht, und er sich in dieser Hinsicht selbst einmal täuschen könnte.

– Und übrigens, fügte Tony hinzu, liebt er Dich wie einen Sohn, und wir lieben Dich, als wenn wir Alle desselben Blutes wären.

– Wir gehören ja, ebenso wie Du, Johann, der französischen Race an, bemerkte Remy.

– Ja, gewiß, antwortete Johann. Ich glaube aber nicht, daß wir von der Polizei etwas zu fürchten haben.

– Man bereut es niemals, zu vorsichtig gewesen zu sein, ließ sich Tony vernehmen.

– Nein, das gewiß nicht, entgegnete Johann, und wenn es nur aus Klugheit geschieht, daß Pierre vorschlägt, über den Fluß hin zu segeln...

– Aus Klugheit, ja, unterbrach ihn der Führer des »Champlain«, denn das Wetter scheint umzuschlagen.

– Das ist ein ander Ding, erwiderte Johann.

– Sieh, fuhr Pierre fort, es muß sehr bald ein Nordost einsetzen, und ich habe eine Ahnung, daß dieser sehr stark werden wird... So etwas fühle ich vorher!... Oh, wir haben schon manchem anderen Sturm getrotzt, dennoch müssen wir an unser Schiff denken, und ich möchte es nicht auf mich nehmen, dasselbe an den Felsen von Rivière-du-Loup oder von Kamuraska zerschellen zu sehen.

– Ganz richtig, bestätigte Johann. Begeben wir uns also nach dem Nordufer, womöglich nach der Gegend von Tadoussac, von da können wir den Lauf[107] des Stroms bis Chicoutimi hinaufsegeln, und damit würden wir weder Zeit noch Mühe verlieren.

– Hurtig also, rief Michel, Pierre hat Recht. Der Schurke von Nordost ist nicht mehr fern. Wenn er den »Champlain« von der Seite packte, würden wir nach Quebec den zwanzigfachen Weg gegenüber dem nach Tadoussac zurückzulegen haben.«

Die Segel des »Champlain« wurden also scharf angezogen, und der Kutter begann, den Bug nach oben gerichtet, gegen den mehr und mehr abfallenden Wind anzulaufen.

Diese Nordoststürme sind hier leider nicht selten, selbst im Sommer. Ob sie dann nur zwei bis drei Stunden wüthen oder eine ganze Woche über anhalten, allemal überwölken sie den Golf mit eisigem Nebel und überschwemmen das Thal mit den furchtbarsten Regengüssen.

Es war jetzt acht Uhr Abends. Pierre Harcher hatte sich beim Erblicken gewisser, wie Pfeile einherfliegender Wolken, den Vorboten des Sturmwindes, nicht getäuscht, und es erschien die höchste Zeit, an der Nordküste Schutz zu suchen.

Fünf bis sechs Lieues (21 bis 25 Kilometer) trennen Rivière-du-Loup von der Mündung des Saguenay, es machte aber große Schwierigkeiten, dieselben zurückzulegen. Einer Windhose gleich packte der Sturm den »Champlain«, als dieser auf dem ersten Drittel des Weges war. Die Segel mußten bis zum Aeußersten gerefft werden, und dennoch wurde der Kutter so stark vom Wind gedrückt, daß man fürchten konnte, das Mastwerk glatt am Verdeck wegbrechen zu sehen. Die Oberfläche des Flusses, gleich aufgeregt wie jedenfalls das Meer im Golfe, erhob sich in gewaltigen Wogen, welche gegen den Steven des »Champlain« donnerten und im rauschenden Schwall über diesen hereinbrachen. Die Lage erschien für ein Fahrzeug von höchstens zwölf Tonnen recht ernstlich. Die Besatzung des Fahrzeuges hatte aber ebenso kaltes Blut, wie Geschick in den nöthigen Manövern. Schon mehr als einmal hatte diese noch schlimmeren Stürmen getrotzt, wenn sich der Kutter auf das offene Meer zwischen Neufundland und die Insel Cap Breton hinauswagte. Auch jetzt war also auf dessen gute nautische Eigenschaften und auf die Haltbarkeit seines Rumpfes zu bauen.

Pierre Harcher hatte viele Mühe, die Mündung des Saguenay zu erreichen und mußte drei lange Stunden hindurch gegen das Unwetter kämpfen. Als die Ebbe wieder eintrat, begünstigte diese zwar das Fortkommen des Kutters, machte[108] den Anprall der Wellen aber noch stärker. Wer einen solchen Nordoststurm nicht selbst mit erlebt hat, wenn derselbe durch das weit offene Thal des St. Lorenzo braust, der kann sich von seiner Heftigkeit kaum eine Vorstellung machen. Er ist eine wirkliche Geißel für die stromabwärts von Quebec liegenden Grafschaften.

Zum Glück konnte der »Champlain«, nachdem er unter dem nördlichen Ufer Schutz gefunden, sich noch vor Anbruch der Nacht in die Mündung des Saguenay flüchten.

Der Sturm hatte nur wenige Stunden angehalten. Am folgenden Tag, am 19. September, konnte Johann schon frühzeitig seinen Zug fortsetzen, wobei er dem Saguenay folgte, dessen Bett zwischen den hohen Felsmassen der Caps der Dreieinigkeit und der Ewigkeit einschneidet. Die genannten Caps erreichen übrigens eine Höhe von achtzehnhundert Fuß. Hier in diesem malerischen Landstriche finden sich die herrlichsten Gegenden und bieten sich dem Auge die eigenthümlichsten Bilder der ganzen Provinz Canada, und darunter die prächtige Bai Ha-ha – eine onomatopoetische Bezeichnung, welche die Bewunderung der Lustreisenden für dieselbe erfand. Der »Champlain« erreichte Chicoutimi, wo Johann sich mit den Mitgliedern des Reformer-Comités in Verbindung setzen konnte, und am nächsten Tage schlug er, die nächtliche Fluth benutzend, wieder die Richtung nach Quebec ein.

Inzwischen vergaßen Pierre Harcher und seine Brüder keinen Augenblick, daß sie von Beruf Fischer waren. Jeden Abend legten sie ihre Netze und Leinen aus. Zeitig des Morgens liefen sie dann die zahlreichen Dörfer an beiden Ufern an. So besuchten sie an dem fast wild erscheinenden Nordufer, das sich längs der Grafschaft Charlevoix von Tadoussac bis zur Bai St. Paul ausdehnt, Maibaie, St. Irénée und Notre-Dame-des-Eboulements, dessen bezeichnender Name durch seine Lage inmitten chaotischen Felsgewirrs gerechtfertigt wird. Weiter konnte Johann an den Küsten von Beauport und Beaupré für seine Sache wirken, wobei er zuerst bei Chateau Richer und dann an der Insel Orleans stromabwärts von Quebec aus Land ging.

Am südlichen Ufer hielt der »Champlain« unter Anderem bei St. Michel an der Levisspitze. Hier galt es einigermaßen vorsichtig zu sein, denn gerade dieser Theil des Flusses wurde scharf überwacht. Vielleicht wäre es rathsam gewesen, bei Quebec gar nicht anzulegen, wo der Kutter am Abend des 22. September eintraf. Johann hatte aber hier ein Stelldichein mit dem Advocaten[109] Sebastian Grammont, einem der entschiedensten Abgeordneten der canadischen Opposition, verabredet.

Da es ganz finster war, schlich sich Johann nach dem oberen Theil der Stadt, wo er in der Straße Petit Champlain das Haus Simon Grammont's erreichte.

Die Beziehung zwischen dem Advocaten und Johann bestand schon mehrere Jahre. Sebastian Grammont, jetzt sechsunddreißig Jahre alt, hatte sich an allen politischen Kundgebungen der letzten Jahre betheiligt – vorzüglich 1835, wo er kühn mit seiner Person eingetreten war. Von daher schrieb sich seine enge Verbindung mit Johann ohne Namen, der ihm übrigens nichts über seine Herkunft und seine Familie gesagt hatte. Sebastian Grammont wußte nur das Eine, daß der junge Patriot, wenn die Stunde gekommen war, sich an die Spitze des Aufstandes setzen werde. Jetzt, wo er diesen seit dem mißlungenen Versuch von 1835 noch nicht wieder gesehen, erwartete er ihn mit lebhafter Ungeduld.

Als Johann eintrat, ward ihm der herzlichste Empfang zutheil.

»Ich kann Ihnen nur wenig Stunden widmen, begann er.

– Nun wohl, antwortete der Advocat, so wollen wir sie verwenden, von der Vergangenheit und von der Gegenwart zu sprechen.

– Von der Vergangenheit... nein! erwiderte Johann. Von der Gegenwart... von der Zukunft... vor Allem von der Zukunft.«

Seit seinem Bekanntwerden mit ihm fühlte Sebastian Grammont heraus, daß Johann im früheren Leben von einem bedrückenden Leide heimgesucht worden sein müsse, dessen Ursache er nicht zu errathen vermochte. Selbst ihm gegenüber bewahrte Johann stets eine so scheue Zurückhaltung, daß er es vermied, seine Hand selbst darzubieten. Sebastian Grammont unterließ es auch, weiter in ihn zu dringen. Wenn es seinem Freunde sonst passend erschien, seine Geheimnisse zu entschleiern, würde er bereit sein, ihn zu hören.

Während der wenigen Stunden ihres Beisammenseins sprachen sie Beide über die politische Lage. Einerseits unterrichtete der Advocat Johann über die Stimmung im Parlamente; andererseits klärte Johann wieder Sebastian Grammont bezüglich der Maßregeln auf, welche in Erwartung einer bevorstehenden Erhebung schon getroffen waren, und vorzüglich über die Bildung einer Art Central-Comités in der Villa Montcalm, sowie über die Erfolge seiner Fahrt durch Ober- und Unter-Canada. Zur Vollendung der letzteren hatte er jetzt nur noch den Bezirk von Montreal zu bereisen.[110]

Der Advocat lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit und sah eine gute Vorbedeutung in dem Fortschritte, welchen die nationale Sache binnen wenigen Wochen gemacht hatte. Gab es doch keinen Flecken, kein Dorf mehr, wo nicht Geld zum Ankauf von Waffen und Munition vertheilt worden wäre und das nicht mit Ungeduld auf das Zeichen zum Losschlagen geharrt hätte.

Johann erfuhr hier auch von den letzten, seitens der Behörde in Quebec beliebten Maßnahmen.

»Zunächst, lieber Johann, sagte Sebastian Grammont, hier ging das Gerücht, daß Sie vor etwa einem Monat hier gewesen wären. Verschiedene Haussuchungen wurden angestellt, Ihr Versteck zu entdecken, und selbst in meinem eigenen Hause, wo Sie sich, einer falschen Angabe nach, aufhalten sollten. Da suchten mich verschiedene Beamte und Agenten auf, unter Andern auch ein gewisser Rip...

– Rip! rief Johann mit halb erstickter Stimme, als ob dieser Name ihm die Lippen verbrannt hätte.

– Ja, der Chef des Hauses Rip & Cie., antwortete Sebastian Grammont. Vergessen Sie nicht, daß dieser Geheimagent ein höchst gefährlicher Mann ist.

– Gefährlich! murmelte Johann.

– Dem Sie vor allen Anderen zu mißtrauen haben, fuhr Sebastian Grammont fort.

– Zu mißtrauen! wiederholte Johann. Ja, ihm zu mißtrauen wie einem elenden Schurken!

– Kennen Sie ihn schon?

– Ich kenne ihn wohl, bestätigte Johann, der seine Aufregung wieder bemeistert hatte, doch er kennt mich noch nicht!...

– Das ist von Wichtigkeit,« sagte Sebastian Grammont, etwas betroffen über das Benehmen seines Gastes.

Johann gab dem Gespräch bald eine andere Richtung und fragte den Advocaten über die Politik des Parlaments in den letzten Wochen.

»In der Kammer, antwortete Sebastian Grammont, ist die Opposition jetzt ganz besonders heftig. Papineau und Cuvillier, Viger, Quesnel, Bourdages und Andere unterlassen es nie, die Maßnahmen der Regierung anzugreifen. Lord Gosford würde die Kammer jedenfalls gern vertagen; er fühlt aber recht wohl, daß das nur das Land zum Aufstand drängen hieße...[111]

– Gott gebe, daß er es nicht eher thut, als bis wir bereit dazu sind, fiel Johann ein. Wenn nur die Einzelführer die Entwickelung der Dinge nicht etwa überstürzen!...


Der Kutter traf vor Quebec ein. (S. 109.)
Der Kutter traf vor Quebec ein. (S. 109.)

– Sie werden Meldung erhalten, Johann, und werden gewiß nichts unternehmen, was Ihre Pläne durchkreuzen könnte. Jedenfalls sind indeß, in Erwartung einer möglichen Erhebung, welche binnen kurzer Frist ausbrechen könnte, seitens des General-Gouverneurs gewisse Maßregeln getroffen. Sir John Colborne hat die ihm zur Verfügung stehenden Truppen zusammengezogen, um sie gegebenen Falls schnell nach den wichtigsten Punkten der Grafschaften des St. Lorenzo werfen zu können, wo der Kampf, wie man meint, zuerst entbrennen müsse.


Die Leute in den Canots gehörten der indianischen Race an. (S. 116.)
Die Leute in den Canots gehörten der indianischen Race an. (S. 116.)

– Da, aber gleichzeitig an zwanzig anderen Punk[112] ten – so hoffe ich wenigstens, antwortete Johann. Es kommt wesentlich darauf an, daß die ganze canadische Bevölkerung sich an dem nämlichen Tage und zu gleicher Stunde erhebt, und daß die Bureaukraten gleich durch die Masse erdrückt werden. Käme es nur zu einem örtlichen Aufstande, so würde dieser schon im[113] Anfange erstickt werden. Gerade um diesen allgemein zu machen, hab' ich die Kirchspiele im Westen und im Osten besucht und will ich noch nach denen in der Mitte des Landes gehen. Noch diese Nacht denke ich weiter zu reisen.

– Reisen Sie ab, Johann, vergessen Sie aber nicht, daß die Soldaten und die Freiwilligen Sir John Colborne's in der Hauptsache rings um Montreal, unter dem Commando der Obersten Gore und Witherall, verstreut liegen. Daselbst wird es gewiß zum schrecklichsten Zusammenstoß kommen...

– Dafür wird auch Alles darauf zugeschnitten sein, gleich mit dem ersten Knattern der Gewehre einen bestimmten Vortheil zu erringen, antwortete Johann. Gerade das Comité in der Villa Montcalm ist am besten in der Lage, eine gemeinsame Action zu erzielen, und ich kenne die Thatkraft des Herrn de Vaudreuil, der jenes leitet. Außerdem haben die glühendsten Söhne der Freiheit den Städten, Flecken und Dörfern der Grafschaften Verchéres, St. Hyazinthe und Laprairie, welche Montreal benachbart sind, das Feuer ihrer Begeisterung mitgetheilt...

– Und von allen Seiten wird dasselbe noch angefacht, versicherte Sebastian Grammont. Oeffentlich und unter vier Augen, in ihren Predigten wie in jedem Gespräche, geben selbst unsere Geistlichen ihrer Entrüstung über die englische Tyrannei Ausdruck. In der Cathedrale zu Quebec selbst hat sich ein junger Prediger nicht gescheut, das Nationalgefühl wachzurufen, und seine Worte fanden einen so lauten Widerhall, daß der Polizeiminister jenen verhaften lassen wollte. Lord Gosford hingegen, der mit den canadischen Geistlichen behutsam umgegangen zu sehen wünschte, hat sich dieser Gewaltmaßregel widersetzt und nur durch den Bischof bewirkt, daß jener die Stadt verlassen mußte, so daß dieser der Mission jetzt in der Grafschaft Montreal obliegt. Er ist ein wirklicher Volkstribun der Kanzel von hinreißender Beredsamkeit, der keine Rücksichtnahme auf die eigene Person kennt und der sich keinen Augenblick überlegen würde, unserer Sache Freiheit und Leben zu opfern.

– Er ist noch jung, sagten Sie, dieser Geistliche? fragte Johann.

– Kaum dreißig Jahre alt.

– Zu welchem Orden gehört er?

– Zu dem des heiligen Sulpice.

– Und sein Name?

– Der Abbé Joann.«[114]

Sebastian Grammont hätte glauben mögen, daß dieser Name in Johanns Geiste eine Erinnerung wachrief, denn der junge Mann verhielt sich einige Augenblicke schweigend. Dann nahm er Abschied von dem Advocaten, obgleich ihm dieser anbot, bis zum nächsten Tage unter seinem Dache zu rasten.

»Ich danke Ihnen, mein lieber Grammont, sagte er, es liegt mir aber daran, meine Genossen vor Mitternacht wieder zu treffen. Wir müssen mit steigender Fluth abfahren.

– So gehen Sie mit Gott, Johann, antwortete der Advocat. Ob Ihr Unternehmen nun gelingt oder nicht, in jedem Fall sind und bleiben Sie einer Derjenigen, die für unser Land das Meiste gethan haben!

– Nichts werde ich gethan haben, so lange dieses noch unter dem Joche Englands seufzt, rief der junge Patriot, und wenn mir dessen Befreiung, selbst mit dem Opfer meines Lebens, nicht gelingen sollte...

– So würden Sie doch dessen ewige Dankbarkeit verdienen, fiel ihm Sebastian Grammont ins Wort.

– Nein, dann würde ich gar nichts verdienen!«

Hiermit trennten sich die beiden Freunde. Nachdem Johann den eine Kabellänge vom Ufer verankerten »Champlain« wieder erreicht hatte, segelte dieser mit der Strömung nach Montreal zu weiter.

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 100-115.
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