Siebentes Capitel.
Von Quebec nach Montreal.

[115] Um Mitternacht hatte der Kutter bereits einige Meilen stromaufwärts zurückgelegt. In dieser vom Scheine des Vollmonds erhellten Nacht steuerte Pierre Harcher mit voller Sicherheit daher, obwohl er von einem Ufer zum anderen laviren mußte, denn der Wind wehte als frische Brise genau aus Westen.

Der »Champlain« hielt erst kurz vor Anbruch des Morgenroths an. Leichte Dunstmassen huschten da über die Wasserfläche der beiden Ufer. Bald tauchten[115] dann im Hintergrunde stehende Bäume aus diesem Nebelschleier auf, den die Sonne aufzulösen begann, und der Lauf des Stromes wurde wieder sichtbar.

Schon waren viele Fischer bei der Arbeit, indem sie Netze und Angelschnuren hinter ihren kleinen Booten her schleppten, welche nur den Oberlauf des St. Lorenzo und seine Nebenflüsse zur Rechten und zur Linken befahren. Der »Champlain« verlor sich bald unter dieser Flottille, welche ihrer nationalen Beschäftigung zwischen den Ufern der Grafschaften Port-Neuf und Lotbinière nachging. Auch die Brüder Harcher begannen sofort ihre Arbeit, nachdem sie an der Nordseite den Anker versenkt hatten. Sie brauchten noch einige Körbe Fische, um diese in den Dörfern zu verkaufen, sobald die Fluth gestatten würde, trotz des Gegenwindes den Strom wieder hinauf zu gelangen.

Während des Fischfanges legten mehrere Rindenboote am »Champlain« an. Es waren zwei oder drei jener leichten »Skifs«, die man auf die Schulter nehmen kann, wenn es sich darum handelt, Untiefen, also Stellen, an denen der Fluß nicht schiffbar ist oder wo ihn Felsen sperren, ebenso längs der Stromschnellen und Wasserfälle, welche ihn da und dort unterbrechen, zu passiren.

Die Leute in den Canots gehörten meist der indianischen Race an. Sie kamen, um Fische zu kaufen, welche sie dann sogleich nach den Flecken und Dörfern des Inneren beförderten, wohin, auf den kleinen Wasserläufen des Landes, nur ihre leichten Boote vordringen konnten. Zu wiederholten Malen legten auch Canadier an den »Champlain« an. Einige Minuten unterhielten sie sich mit Johann und steuerten dann wieder zum Ufer zurück, um die ihnen gegebenen Aufträge auszuführen.

Hätten die Brüder Harcher an diesem Morgen geschäftsmäßig oder nur zum Vergnügen gefischt, so wäre ihnen eine reiche Beute zugefallen. In den Netzen und an den Schnuren fing sich eine große Menge Hechte, Barsche und jener in den canadischen Gewässern so zahlreich vorkommenden Maskinongis und Turadis, welche von den Feinschmeckern Nordamerikas so hochgeschätzt werden.

Daneben singen sie auch viele »Weißfische«, welche ihres zarten vortrefflichen Fleisches wegen ebenfalls allgemein beliebt sind. Die Leute vom »Champlain« durften also in den Uferwohnungen auf den besten Empfang rechnen, und dieser ward ihnen denn auch zutheil.

Uebrigens waren sie durch ein prächtiges Wetter ungemein begünstigt – ein Wetter, wie es dem glücklichen und unvergleichlichen Thale des St. Lorenzo[116] eigenthümlich ist. Welch' wunderbar schönen Anblick boten da die benachbarten Gelände vom Ufer des Stromes bis zum Fuße der Laurentidenkette! Nach der poetischen Schilderung Fenimore Cooper's zeigten sie sich in ihrem Herbstschmuck – dem gelben und grünen Gewand der letzten schönen Tage – ganz besonders schön.

Der »Champlain« richtete seinen Lauf zunächst nach dem Strande der Grafschaft Port-Neuf am linken Ufer. Im Flecken gleichen Namens wie in den Dörfern St. Anna und St. Stanislaus wurden recht gute Geschäfte gemacht. Vielfach ließ der »Champlain« daselbst freilich mehr an Geld zurück, als er für die Producte der Fischerei vereinnahmte. Die Brüder Harcher dachten jedoch gar nicht daran, sich darüber zu beklagen.

Während der beiden folgenden Tage besuchte Johann abwechselnd beide Stromufer. In der Grafschaft Lotbinière auf dem rechten Ufer, in Lotbinière selbst, in St. Pierre-les-Bosquets – in der Grafschaft Champlain am entgegengesetzten Ufer in Batiscan – ferner wieder auf der Gegenseite in Gentilli und Doucette, erhielten die hervorragendsten Reformer seinen Besuch. Sogar eine der einflußreichsten Persönlichkeiten von Nicolet, in der Grafschaft gleichen Namens, ein gewisser Aubineau, Friedensrichter und Gerichtscommissär für die geringfügigeren Angelegenheiten, setzte sich in Verbindung mit ihm. Hier wie in Quebec hörte Johann, daß der Abbé Joann die Kirchspiele durchwanderte und daß seine Predigten die Geister aufgerüttelt hatten. Aubineau hatte ihm vertraut, daß es in seiner Umgebung vor Allem an Waffen und Schießbedarf fehle.

»Sie werden damit versorgt werden, antwortete er. Eine von Montreal in vergangener Nacht abgegangene Holzladung muß sehr bald eintreffen und Flinten, Pulver und Blei mitbringen. Doch hüten Sie sich, vor der Zeit eine Erhebung zu versuchen. Wäre das nicht zu umgehen, so setzen Sie sich mit dem Comité in der Villa Montcalm auf der Insel Jesus in Verbindung und wenden Sie sich brieflich an dessen Vorsitzenden...

– An Herrn de Vaudreuil?...

– Ja, an ihn.

– Einverstanden.

– Sagten Sie nicht, daß der Abbé Joann durch Nicolet gekommen sei?

– Vor sechs Tagen war er hier.

– Wissen Sie vielleicht, wohin er sich von Ihnen aus gewendet hat?[117]

– Nach der Grafschaft Verchères, und von da aus wird er sich, wenn ich nicht irre, nach der Grafschaft Laprairie begeben.«

Hierauf nahm Johann von dem Friedensrichter Abschied und kehrte an Bord des »Champlain« zurück, als die Brüder Harcher, nachdem sie ihre Fische abgesetzt, auf diesem wieder eintrafen. Nun steuerten sie schräg über den Strom in der Richtung nach der Grafschaft St. Maurice.

An der Mündung des Flusses dieses Namens erhebt sich einer der letzten Flecken des Landes, die Ortschaft Trois-Rivières, am Rande eines fruchtbaren Thales. Zu jener Zeit hatte man daselbst eben eine, von einer französisch-canadischen Gesellschaft geleitete Kanonengießerei errichtet, welche auch nur französisch-canadische Arbeiter beschäftigte.

Diese Gegend war ein Mittelpunkt anti-loyalistischer Bestrebungen, den Johann nicht vernachlässigen konnte. Der »Champlain« segelte mehrere Meilen weit den Lauf des St. Maurice hinauf, und der junge Patriot setzte sich mit den in den Kirchspielen schon vorhandenen Comités in Beziehung.

Die genannte, eben begründete Gießerei befand sich freilich noch im Zustande der Organisation. Wenige Monate später hätten die Reformer sich wohl hier mit den Feuerschlünden ausrüsten können, die ihnen so sehr fehlten. Es wäre dann – bei Tag und Nacht fortgesetzter Arbeit – möglich gewesen, der Artillerie der königlichen Truppen die ersten in dem Werke von St. Maurice gegossenen Kanonen gegenüberzustellen. Johann hatte über diese Angelegenheit ein wichtiges Gespräch mit den Vorstehern des Comités, damit wenigstens einige Feldstücke schleunigst hergestellt würden, zu deren Bedienung es an Mannschaften schon nicht fehlen werde.

Von Trois-Rivières absegelnd, folgte der »Champlain« zur Linken dem Ufer der Grafschaft Maskinongé, hielt bei der kleinen Stadt dieses Namens einmal an und steuerte dann in der Nacht vom 24. bis 25. September nach einer weit offenen Stelle des St. Lorenzo, welche unter dem Namen des St. Pierre-Sees bekannt ist. Hier breitet sich in der That ein gegen fünf Lieues langer See aus, stromaufwärts begrenzt von einer Menge von Eilanden, welche sich von Berthier, einer Ortschaft gleichen Namens, bis nach Sorel, das schon zur Grafschaft Richelieu gehört, hinstrecken.

Hier spannten die Brüder Harcher ihre Netze aus oder schleppten dieselben vielmehr nach, wobei sie mit Hilfe der Strömung mäßig schnell den Fluß weiter hinauf gelangten. Dicke Wolken bedeckten den Himmel, und die Dunkelheit[118] war stark genug, um weder nach Norden noch nach Süden zu eines der Ufer erblicken zu können.

Kurz nach Mitternacht bemerkte der auf dem Auslug stehende Pierre Harcher ein Feuer, welches stromaufwärts am Ufer leuchtete.

»Das ist offenbar das Signallicht eines heimtreibenden Schiffes, sagte Rémy, der an seines Bruders Seite getreten war.

– Achtung auf die Netze! rief Jacques. Wir haben davon dreißig Faden draußen und sie wären verloren, wenn das Schiff unsern Curs kreuzte.

– So wollen wir nach Steuerbord abfallen, sagte Michel, zum Glück fehlt es ja nicht an Raum dazu...

– Nein, entgegnete Pierre, der Wind ist dazu zu flau und wir würden weggetrieben werden...

– Mir scheint es besser, die Netze gleich einzuziehen, meinte Tony, das wäre sicherer...

– Ja wohl, und deshalb keine Zeit verloren!« stimmte Rémy bei.

Die Brüder Harcher beeilten sich ihre Fanggeräthschaften an Bord zu holen, als Johann sagte:

»Seid Ihr auch sicher, daß jenes ein Schiff ist, welches mit der Strömung herabtreibt?....

– Ich kann mir nichts anders denken, entgegnete Pierre. Jedenfalls nähert es sich ziemlich langsam und sein Licht schimmert ziemlich tief auf dem Wasserspiegel.

– Vielleicht ist es ein »Käfig«? meinte Jacques.


Johann hatte sich dem Führer des Holzzuges genähert. (S. 124.)
Johann hatte sich dem Führer des Holzzuges genähert. (S. 124.)

– Nun, wenn es ein Käfig wäre, antwortete Rémy, hätten wir um so mehr Ursache, ihm auszuweichen. Dann könnten wir uns gar nicht mehr von demselben befreien. Vorwärts also, holt ein!«

Der »Champlain« wäre in der That in Gefahr gekommen, seine Netze einzubüßen, wenn die Brüder nicht rasch Hand angelegt hätten, diese hereinzuziehen, selbst ohne sich Zeit zu nehmen, die in den Maschen hängenden Fische daraus zu befreien. Kein Augenblick war zu verlieren, denn das betreffende Licht glänzte bereits in einer Entfernung von nur zwei Kabellängen.

»Käfige« nennt man in Canada jene aus sechzig bis siebzig »Cribs«, d.h. Abtheilungen, bestehenden Holzzüge oder Flöße, von denen jedes mindestens tausend Cubikfuß umfaßt. Von dem Tage an, wo der Eisgang die Beschiffung des Stromes gestattet, gleitet eine große Anzahl solcher Käfige von Montreal nach Quebec hinunter.[119]

Sie kommen aus den endlosen Wäldern des Westens, jener unvergleichlichen Quelle des Wohlstandes für die Provinz Canada. Man stelle sich eine schwimmende, höchstens fünf bis sechs Fuß über das Wasser aufragende Masse vor, welche etwa einem Ponton ohne Mast ähnelt. Diese besteht aus an Ort und Stelle vierkantig und zwar mit der Axt bearbeiteten Stämmen oder auch aus Brettern und Planken, welche die längs der Chaudières-Fälle am Ottawa-Flusse gelegenen Schneidemühlen liefern. Solcher Züge schwimmen von April bis Mitte October Tausende hinab, welche die Wasserfälle und Stromschnellen durch Gleiteinrichtungen umgehen, die sich auf dem Grunde enger seitlicher Canäle angebracht finden.


Die Fischer sind diese gefährlichen Durchfahrten gewöhnt. (S. 127.)
Die Fischer sind diese gefährlichen Durchfahrten gewöhnt. (S. 127.)

Ein Theil dieser Käfige legt schon in Montreal an und löscht hier die Ladung für nach den europäischen Häfen bestimmte Schiffe; der größere Theil aber geht bis Quebec selbst. Hier ist der Mittelpunkt des Handels mit Waldproducten, dessen Betrag sich zu Gunsten Canadas auf jährlich zwanzig bis fünfundzwanzig Millionen Mark beziffert.

Es versteht sich von selbst, daß diese Holzzüge die Schifffahrt auf dem Flusse nicht wenig belästigen, vorzüglich wenn sie dessen Mittelarme benutzen, welche nur von mäßiger Breite sind; ganz dem Ebbestrom, so lange dieser anhält, überlassen, gehorchen dieselben natürlich dem Steuer fast gar nicht. Es ist also Sache der Fischerboote und der anderen Fahrzeuge, jenen aus dem Wege zu gehen, wenn sie ernste Zusammenstöße und damit starke Havarien vermeiden wollen. Auch die Brüder Harcher mußten sich demnach beeilen, ihre in der Richtungslinie des Käfigs nachgeschleppten Netze einzuholen, da die Windstille sie verhinderte, jenem weiter auszuweichen.

Jacques hatte sich nicht getäuscht, es war ein solches ungeheures Floß, welches den Strom hinabglitt. Eine an dessen Vordertheil befestigte Laterne zeigte die Richtung, der es folgte, und es hatte sich schon bis auf zwanzig Faden genähert, als der »Champlain« mit dem Einziehen seiner Netze zu Ende war.

In diesem Augenblick begann eine klangvolle Stimme das alte Volkslied, das nach Roveillaud's Angabe zum wahren Nationalgesang, wenn auch mehr nur durch die Melodie als durch den Text geworden ist. In dem Sänger, dem Führer des Floßes, erkannte man leicht einen Canadier französischen Stammes, schon an der Betonung und der breiten Aussprache der Doppellaute. Er sang Folgendes:


Ich kam zurück ermüdet

Vom lust'gen Hochzeitsschmauß,

Und an der kühlen Quelle,

Da ruht' ich sorglos aus.


Ohne Zweifel erkannte Johann die Stimme des Sängers, denn er näherte sich Pierre Harcher, gerade als der »Champlain« mittels einiger Ruderschläge ein wenig von dem Käfig abgebracht werden sollte.

»Lege an, sagte er zu ihm.

– Anlegen? antwortete Pierre verwundert.

– Ja!... Das ist Louis Lacasse.[123]

– So werden wir aber mit ihm hinuntertreiben.

– Höchstens fünf Minuten lang, versicherte Johann. Ich habe blos wenige Worte mit ihm zu sprechen.«

Einen Augenblick später glitt Pierre Harcher, nachdem er die Ruderpinne umgelegt, längs des Holzzuges hin, an dem der »Champlain« mit seinem Vordertheile festgelegt wurde.

Der Führer des Floßes hatte, als er dieses Manöver sah, seinen Gesang unterbrochen und rief.

»Heda!... Kutter!... In Acht nehmen!

– Es ist keine Gefahr, Louis Lacasse! antwortete Pierre Harcher; der »Champlain« ist es.«

Mit einem Satze war Johann auf den Holzzug hinübergesprungen und hatte sich dessen Führer genähert, der ihn, als er ihn beim Lichte der Laterne erkannte, freundlichst begrüßte.

»Ich mache Ihnen mein »Compliment«, Herr Johann.

– Ich danke, Lacasse.

– Ich rechnete darauf, Ihnen unterwegs zu begegnen und hatte mich schon entschlossen, den »Champlain« beim nächsten Aufenthalt während der Fluth abzuwarten. Doch, da Sie nun hier sind...

– Ist Alles an Bord? fragte Johann.

– Alles, versteckt unter den Planken und Brettern!... Ist herrlich verstaut, versichere ich Sie! setzte Louis Lacasse hinzu, während er Stein und Schwamm hervorzog, um die Pfeife wieder anzuzünden.

– Sind die Zollbeamten da gewesen?

– Ja wohl.... In Verchères!... Diese Maulwürfe haben eine ganze halbe Stunde lang hier herumgewühlt!... Gesehen haben sie nichts. Es war, als ob Alles in einer Lade verschlossen wäre.«

Louis Lacasse sprach das Wort »Lade« mit derselben Dehnung aus, wie »Compliment«, und wie das noch in einzelnen Provinzen Frankreichs Sitte ist.

»Wie viel? fragte Johann.

– Zweihundert Flinten.

– Und Säbel?

– Zweihundertfünfzig.

– Diese kommen...?[124]

– Aus Vermont. Unsere Freunde, die Amerikaner, haben tüchtig gearbeitet, gekostet hat uns Alles nicht besonders viel. Sie hatten nur einige Mühe, die Ladung bis nach Fort Ontario zu schaffen, wo wir sie übernahmen. Jetzt gibt es keine Schwierigkeiten mehr.

– Und die Munition?...

– Drei Tönnchen Pulver und einige Tausend Kugeln. Wenn jede von diesen ihren Mann trifft, wird es in Canada bald keinen Rothrock mehr geben, da werden sie aufgezehrt von den »Froschessern«, wie uns die Angelsachsen nennen.

– Du weißt auch, fragte Johann, für welche Kirchspiele die Waffen und die Munition bestimmt sind?

– Vollkommen, versicherte der Fischer. Seien Sie ohne Sorge! Es ist keine Gefahr mehr, überrascht zu werden. Während der Nacht, wenn es tiefste Ebbe ist, werde ich meinen Käfig festlegen, und dann kommen Boote vom Ufer, um jedes seinen Theil abzuholen. Doch gehe ich nicht weiter, als bis Quebec hinunter, wo ich meine Hölzer an Bord des »Moravian« von Hamburg abzuliefern habe.

– Schon recht, antwortete Johann. Vor Quebec wirst Du auch deine letzten Flinten und letzten Pulvertonnen abgegeben haben.

– Es wird sich schon machen.

– Sage mir, Louis Lacasse, bist Du auch der Leute, die Du bei Dir hast, sicher?

– Wie meiner selbst. Wahre Jean-Baptiste1 sind es, und wenn es darauf ankommt – eine Muskete abzubrennen, so glaub' ich nicht, daß sie zaruckbleiben würden.«

Louis Lacasse sagte »zaruck«, vielleicht weil man »dahinter« und nicht »duhinter« sagt.

Johann übergab ihm noch eine gewisse Menge Piaster, welche der wackere Schiffsmann, ohne sie zu zählen, in die Tasche seiner groben Jacke gleiten ließ.

Dann wechselte er noch ein paar warme Händedrücke mit der Besatzung des Kutters.[125]

Johann hatte wieder an Bord des »Champlain«, der sich nach dem linken Ufer zu entfernte, Platz genommen, und während der Holzzug abwärts glitt, konnte man noch die lauttönende Stimme Louis Lacasse's vernehmen, welche wieder fortfuhr:


»Und an der kühlen Quelle,

Da ruht' ich sorglos aus!«


Eine Stunde später erhob sich auch der Wind von Neuem. Der »Champlain« segelte nun unter die zahlreichen Inseln hinein, welche den Pierre-See anfüllen, und nachdem er nach und nach an den Ufern der Grafschaften Joliette und Richelieu, welche einander gegenüberliegen, vorbei gekommen, legte er bei den Uferdörfern der Grafschaften Montcalm und Verchères an, deren Frauen sich gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts so muthvoll geschlagen hatten, um ein von Wilden gestürmtes Fort zu vertheidigen.

Während der Kutter still lag, besuchte Johann die Führer der Reformer und konnte er sich durch eigene Anschauung von dem Geiste der Bewohner überzeugen. Mehrmals erwähnte man ihm gegenüber auch Johanns ohne Namen, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt worden war. Wo befand sich derselbe jetzt? Würde er erscheinen, wenn die Stunde des Kampfes schlug? Die Patrioten rechneten auf ihn. Trotz der Bekanntmachung des Gouverneurs hätte er nach dieser Grafschaft kommen können und hier wäre für ihn, auf eine Stunde wie auf vierundzwanzig, jede Thür offen gewesen.

Angesichts dieser Zeichen einer Erhebung, welche zu jedem Opfer bereit schien, fühlte Johann sich tief bewegt. Ja, er wurde von der canadischen Bevölkerung erwartet gleich einem Messias. Dennoch beschränkte er sich darauf zu antworten:

»Ich weiß nicht, wo Johann ohne Namen ist; kommt aber der große Tag, so wird er da sein, wohin die Pflicht ihn ruft.«

Etwa um die Mitte der Nacht vom 26. zum 27. September hatte der »Champlain« den Mittellauf des St. Lorenzo erreicht, der die Insel Montreal vom südlichen Ufer scheidet.

Der »Champlain« gelangte damit an die letzten Stationen seiner Fahrt. In wenigen Tagen gedachten die Brüder Harcher das Fahrzeug für die Winterzeit abzurüsten, da der Strom dann völlig unschiffbar wird. Damit sollten Johann und sie nach der Grafschaft Laprairie heimkehren, wo dann die[126] ganze Familie des Farmers vom Pachthofe von Chipogan zur Hochzeitsfeier versammelt sein sollte.

Zwischen der Insel Montreal und dem rechten Ufer besteht der Arm des St. Lorenzo aus Stromschnellen, welche man als eine Sehenswürdigkeit des Landes betrachten darf. An dieser Stelle breitet sich eine Art See, ähnlich dem St. Pierre-See, aus, wo der »Champlain« dem Käfig des Patrons Louis Lacasse begegnet war. Man nennt denselben den Sprung des heiligen Ludwig, und er liegt gegenüber Lachine, einer kleinen Ortschaft stromaufwärts von Montreal, in der viele Bewohner der Stadt gern Sommeraufenthalt nehmen. Der See gleicht einem schäumenden Meere, in das sich der Wasserschwall eines der Arme des Ottawa entleert. Dichte Wälder starren noch am Ufer empor und umgeben ein Dorf zum Christenthum bekehrter Irokesen, Caughnawaga mit Namen, dessen kleine Kirche ihre bescheidene Thurmspitze über die grünen Waldmassen erhebt.

Wenn die Bergfahrt auf diesem Theile des St. Lorenzo sehr schwierig ist, so droht die Thalfahrt mit der Gefahr, leichter und schneller als gewünscht vor sich zu gehen, denn hier könnte ein falscher Ruderschlag genügen, ein Boot in die Stromschnellen zu werfen. Die Seeleute und Schiffer aber, und vorzüglich die Fischer, welche hier Alsen zu Myriaden fangen, sind diese gefährlichen Durchfahrten gewöhnt und wissen sich geschickt, trotz der tosenden Gewässer, im richtigen Curse zu erhalten.

Steuert man am südlichen Ufer des Stromes hin und benützt dann noch ein Seil zum Anholen, so ist es nicht unmöglich, Laprairie, den Hauptort der gleichnamigen Grafschaft, zu erreichen, wo der »Champlain »sein gewöhnliches Winterlager hatte.

Gegen die Mitte des Tages befand sich Pierre Harcher ein wenig stromaufwärts von dem Flecken Lachine (China). Dieser Name, also der nämliche Name wie der des ungeheuren asiatischen Reiches, rührt noch von den ersten Seefahrern her, welche in den St. Lorenzo eindrangen.

In der Nachbarschaft des Landes der großen Seen angekommen, glaubten sie sich an der Küste des Stillen Weltmeeres zu befinden und folglich nicht weit von dem Himmlischen Reiche zu sein.

Der Führer des »Champlain« manövrirte in der Weise, um nach dem rechten Stromufer zu gelangen; er erreichte dasselbe gegen fünf Uhr Nachmittags, nahe der Grenze, welche zwischen Montreal und Laprairie verläuft.[127]

Da sagte Johann zu ihm:

»Ich werde aus Land gehen, Pierre.

– Du willst nicht mit uns nach Laprairie kommen? fragte Pierre Harcher dagegen.

– Nein, ich muß noch das Kirchspiel von Chambly besuchen, und wenn ich bei Caughnawaga lande, habe ich einen kürzeren Weg dahin.

– Du wagst damit aber viel, bemerkte Pierre, und ich werde Dich nicht ohne Unruhe diesen Weg nehmen sehen. Warum willst Du uns verlassen, Johann? Bleibe noch zwei Tage, und wir gehen nach der Abtakelung des »Champlain« zusammen.

– Ich kann nicht, antwortete Johann, ich muß noch diese Nacht in Chambly sein.

– Wünschest Du vielleicht, daß Dich zwei von uns begleiten? fragte Pierre Harcher.

– Auch das nicht, es ist besser, ich bin allein.

– Und Du wirst dich in Chambly aufhalten?...

– Nur wenige Stunden, Pierre; vor Tagesanbruch hoffe ich von da wieder aufzubrechen.«

Da Johann nicht geneigt schien, sich über das, was er in jenem Flecken vorhatte, näher zu erklären, so bestand Pierre Harcher nicht weiter darauf und begnügte sich hinzuzufügen:

– Sollen wir Dich in Laprairie erwarten?

– Das ist unnöthig. Macht was Ihr zu machen habt, ohne Euch um meinetwillen zu ängstigen.

– Wo werden wir uns dann wieder treffen?...

– Im Pachthofe zu Chipogan.

– Du weißt, fuhr Pierre fort, daß wir in der ersten Octoberwoche dort sein müssen.

– Ja, das weiß ich.

– Verfehle auch Du diese Zeit nicht, Johann. Deine Abwesenheit würde meinem Vater, meiner Mutter und uns Allen große Sorge bereiten. Wir werden in Chipogan zu einem Familienfeste erwartet, und da Du unser Bruder geworden bist, mußt Du ebenfalls da sein, damit die Familie vollzählig ist.

– Ich werde mich einstellen, Pierre!«[128]

Johann drückte den Söhnen Harcher's die Hand. Dann begab er sich nach der Cabine des »Champlain«, legte wieder die Kleidung an, welche er bei seinem Besuche in der Villa Montcalm getragen hatte, und nahm von seinen wackeren Genossen Abschied.

Gleich darauf sprang Johann auf das Ufer und nach einem letzten »Auf Wiedersehen!« verschwand er unter den Bäumen, deren dunkles Dickicht das Irokesendorf umgibt.


Nach einem letzten »Auf Wiedersehen« verschwand Johann. (S. 129.)
Nach einem letzten »Auf Wiedersehen« verschwand Johann. (S. 129.)

Pierre, Rémy, Michel, Tony und Jacques begaben sich unverzüglich wieder an die Arbeit. Nur mit großer Anstrengung und dem Aufwand[129] aller Kräfte gelang es ihnen, ihr Fahrzeug gegen die Strömung anzuholen, wobei sie die Wirbel benützten, welche sich an verschiedenen Stellen bildeten.

Um acht Uhr Abends lag der »Champlain« sorgsam vertaut in einer kleinen Bucht vor den ersten Häusern von Laprairie.

Die Brüder Harcher hatten ihre Fischerei-Campagne beendet, während der sie sechs Monate lang je zweihundert Lieues weit die Gewässer des gewaltigen Stromes bergauf und bergab befahren hatten.

Fußnoten

1 Ein Name, mit dem man die französischen Canadier auf dem platten Lande vielfach bezeichnet.


Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 130.
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