Achtes Capitel.
Ein Jahrestag.

[130] Um fünf Uhr Nachmittag war es, als Johann den »Champlain« verließ. Drei Lieues trennten ihn da ungefähr von dem Flecken Chambly, nach dem er sich begeben wollte.

Was hatte er daselbst vor? War seine Propaganda, die er seit dem Eintreffen in der Villa Montcalm in den äußersten südwestlichen Grafschaften betrieb, noch nicht beendet gewesen? Ja, das wohl; doch gerade dieses Kirchspiel hatte seinen Besuch noch nicht erhalten. Warum das so gekommen, hätte Niemand errathen können, und er hatte es auch keinem Menschen gesagt, ja, vielleicht mochte er es sich kaum selbst gestehen. Er wanderte jetzt auf Chambly zu, als ob dieses gleichzeitig anziehend und abstoßend auf ihn wirkte, denn jedenfalls war er sich des Kampfes bewußt, der ihm hier bevorstand.

Zwölf Jahre waren vergangen, seit Johann den Flecken, in dem er geboren, verlassen hatte. Nie hatte man ihn daselbst wiedergesehen. Jetzt würde ihn Keiner mehr wieder erkennen. Er selbst besann sich ja nach so langer Abwesenheit kaum auf die Straße, auf der er als Kind gespielt, noch auf das Haus, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte.

Doch nein, die Erinnerungen aus seinem frühesten Alter konnten aus seinem lebhaften Gedächtnisse doch nicht so vollständig verwischt sein. Aus dem[130] Uferwald herausgetreten, sah er sich plötzlich inmitten der Wiesen, durch die er sonst gelaufen, wenn er nach der Fähre im St. Lorenzo wollte. Es war kein Fremdling, der über diesen Boden schritt, sondern ein Kind des Landes. Er überlegte auch gar nicht, einzelne durchwatbare Stellen zu benutzen, Querpfade einzuschlagen und Winkel abzuschneiden, wodurch er seinen Weg abkürzte. Auch in Chambly selbst konnte er nicht zweifelhaft sein, den kleinen Platz wieder zu erkennen, wo sein Vaterhaus gestanden, wie die enge Straße, durch welche er meist in dasselbe gelangt, die Kirche, in die seine Mutter ihn damals führte, die Schule, in der er den ersten Unterricht empfangen, ehe er seine Studien in Montreal fortsetzte.

Johann wollte also jene Oertlichkeiten wieder sehen, von denen er sich schon so lange Zeit entfernt hatte. Im Augenblicke, wo er bald sein Leben für den letzten Kampf in die Schanze schlagen wollte, trieb ihn noch ein unwiderstehlicher Wunsch, dahin zurückzukehren, wo dieses für ihn elende Dasein seinen Anfang genommen hatte. Es war nicht Johann ohne Namen, der sich hier den Reformern der Grafschaft vorstellte, es war vielmehr das Kind, welches vielleicht zum letzten Male nach dem Dorfe seiner Geburt heimkehrte.

Johann ging raschen Schrittes dahin, um vor dem Dunkelwerden in Chambly zu sein und dieses vor Anbruch des Tages wieder verlassen zu können. In peinigende Erinnerungen versanken, sahen seine Augen nichts von dem, was früher seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Nicht die Heerden Elennthiere, welche im Gehölz weilten, noch die Tausende von Vögeln, die zwischen den Bäumen umherflatterten, oder das Wild, das durch die Furchen dahinlief.

Einige Leute waren noch mit Feldarbeiten beschäftigt. Er wandte sich ab, um nicht ihren herzlichen Gruß erwidern zu müssen, da er unbemerkt durch die Felder zu gehen und nach Chambly zu kommen wünschte, ohne gesehen worden zu sein.

Es war sieben Uhr Abends, als der Kirchthurm des Orts über den Baumkronen sichtbar wurde. Noch eine halbe Lieue und er war zur Stelle. Das durch den Abendwind bis zu ihm getragene Läuten der Glocke veranlaßte ihn zu den Worten:

»Ja, ich bin es!... Ich, der noch einmal inmitten von dem Allen zu athmen wünschte, was er ehedem so sehr geliebt hatte!... Ich kehre zum Neste zurück! Ich wandre wieder zu meiner Wiege!...«

Er schwieg, oder gab sich vielmehr selbst Antwort, indem er mit bebender Stimme fragte:[131]

»Was soll ich denn hier beginnen?«

Das unterbrochene Anschlagen der Glocke belehrte ihn inzwischen, daß es nicht der Angelus (Abendsegen) war, der in diesem Augenblicke ertönte, doch wußte er sich nicht zu deuten, zu welcher Andacht sie die Gläubigen von Chambly in so später Stunde riefe.

»Desto besser, sprach er für sich selbst, so werden die Leute in der Kirche sein und ich brauche nicht an offenen Thüren vorüberzugehen. Niemand wird mich sehen, Niemand anreden; und da ich nicht nöthig habe, irgendwen um Gastfreundschaft zu bitten, so wird kein Mensch wissen, daß ich gekommen bin...«

Während er sich das sagte und den Weg fortsetzte, wandelte ihn doch wiederholt das Verlangen an, lieber umzukehren. Doch nein, eine unwiderstehliche Kraft trieb ihn vorwärts.

Je mehr er sich nun Chambly näherte, desto vorsichtiger und aufmerksamer blickte Johann um sich. Trotz mancher, im Laufe von zwölf Jahren ja unausbleiblichen Veränderungen erkannte er doch die Häuser, die Umzäunungen und die am Außenrande des Fleckens gelegenen Pachthöfe wieder.

Nach Erreichung der Hauptstraße glitt er längs der Häuser hin, deren Aussehen so vollständig französisch war, daß er sich in die Mitte einer Landvogtei im 17. Jahrhundert hätte zurückversetzt glauben können. Hier wohnte ein Freund seiner Familie, bei dem Johann früher oft einige Tage seiner Ferien zugebracht, dort wieder der Pfarrer des Kirchspiels, der ihm die ersten Stunden ertheilt hatte. Ob diese guten Leute wohl noch lebten?... Weiter erhob sich ihm zur Rechten ein hohes Bauwerk. Das war die Schule, in die er sich jeden Morgen begeben und welche einige hundert Schritte weit, nach einem höheren Theile von Chambly zu, lag.

Diese Straße mündete auf dem Platze der Kirche. Sein Vaterhaus befand sich links an demselben an einer Ecke, und die Rückseite desselben lag nach einem großen Garten zu, der wiederum mit dem rings um den Flecken aufstrebenden Wald zusammenhing.

Die Nacht war sehr dunkel. Die halb offene Hauptpforte der Kirche ließ in deren Innerem eine mattbeleuchtete Versammlung erkennen, auf welche der Armleuchter von der Decke ein ungewisses Licht niederwarf.

Johann, der nicht mehr erkannt zu werden fürchtete – wenn man sich seiner überhaupt noch erinnerte – hatte einen Augenblick die Absicht, sich unter die Andächtigen zu mischen, in diese Kirche einzutreten, dem Abendgottesdienste[132] beizuwohnen und auf diesen Bänken niederzuknien, auf denen er als Kind seine ersten Gebete gelallt hatte. Anfänglich aber schon nach der entgegengesetzten linken Seite des Platzes hingezogen, gelangte er nach der Ecke, wo sein Vaterhaus gestanden...

Er entsann sich genau; hier war es erbaut gewesen. Deutlich traten ihm alle Einzelheiten vor die Augen, das Gitter, welches einen kleinen Vorraum abschloß; der Taubenschlag, der den Giebel rechter Hand überragte; die vier Fenster des Erdgeschosses, die Thür in der Mitte; das Fenster zur Linken im ersten Stockwerk, wo ihm seine Mutter inmitten der dasselbe schmückenden Blumen so oft erschienen war. Er zählte fünfzehn Jahre, als er Chambly zum letzten Male verließ. In diesem Lebensalter haben sich alle Eindrücke schon tief ins Gedächtniß eingegraben. Hier, genau an dieser Stelle, mußte die Wohnung sich befinden, welche die Vorfahren seiner Familie, schon in der ersten Zeit der canadischen Colonie, errichtet hatten.

Jetzt war kein Haus mehr an dieser Stelle – nichts fand sich, als ein Haufen Ruinen; nicht diejenigen, welche allmählich durch die Länge der Zeit entstehen, sondern solche, welche irgend ein trauriges, düsteres Vorkommniß hinterlassen. Hier konnte über dieses gar kein Zweifel aufkommen. Verglaste Steine, geschwärzte Mauerreste, Stücken verkohlter Balken und Haufen von Asche, welche mit der Zeit verbleichte, verriethen, daß das Gebäude schon vor längerer Zeit ein Raub der Flammen geworden war.

Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte Johann. Wer hat diese Feuersbrunst verschuldet?... War sie ein Werk des Zufalls, der Unvorsichtigkeit?... War hier die Hand eines Verbrechers im Spiel gewesen?...

Mit unwiderstehlicher Gewalt dahin gezogen, betrat Johann die Ruinen... Er theilte mit dem Fuße die Asche auf dem Boden. Einige Fledermäuse flatterten davon. Ohne Zweifel, hierher kam niemals Jemand. Warum hatte man aber, hier an der belebtesten Stelle des Fleckens, diese Ruine unberührt liegen lassen? Warum hatte man sich nach dem Brande nicht einmal die Mühe genommen, die Baustelle freizulegen?

Im Laufe der zwölf Jahre, seit er das Vaterhaus verlassen, hatte Johann niemals gehört, daß dasselbe zerstört sei, daß es weiter nichts mehr bilde, als einen wirren Haufen vom Feuer geschwärzter Steine.

Regungslos, krampfhaft zuckenden Herzens dachte er an die traurige Vergangenheit, an die noch traurigere Gegenwart...[133]

»He, was machen Sie da, Herr?« rief ihm jetzt ein alter Mann zu, der auf dem Wege zur Kirche stehen blieb.

Johann, der ihn gar nicht gehört hatte, gab keine Antwort.

»He, wiederholte der alte Mann, sind Sie etwa taub?... Bleiben Sie nicht dort!... Wenn Sie Einer sähe, würden Sie Gefahr laufen, schlecht anzukommen!«

Johann verließ die Ruine, kam nach dem Platz zu rück und wendete sich an den, der ihn angesprochen hatte.

»Sprecht Ihr mit mir? fragte er.

– Ja wohl mit Ihnen, Herr. Es ist verboten, diesen Ort zu betreten!

– Und weshalb?

– Weil derselbe verflucht ist!

– Verflucht!« murmelte Johann.

Dieses Wort wiederholte er jedoch mit so leiser Stimme, daß der alte Mann ihn nicht verstehen konnte.

»Sie sind wohl fremd hier, Herr?

– Ja, antwortete Johann.

– Und sind jedenfalls seit so manchen Jahren nicht nach Chambly gekommen?...

– Ganz recht, seit vielen Jahren nicht mehr!...

– Dann ist's ja nicht zu verwundern, daß Sie nichts davon wissen. Glauben Sie mir... es ist ein guter Rath, den ich Ihnen gebe, gehen Sie nicht noch einmal zwischen diese Trümmer hinein.

– Ja, weshalb denn?

– Weil Sie sich schänden würden, wenn Sie nur die Schuhsohlen mit dieser Asche beschmutzen. Das war hier das Haus des Verräthers...

– Des Verräthers?

– Ja, des Simon Morgaz!«

Er wußte es ja zu gut, der Unglückliche.

Von der Wohnstätte also, von der man seine Familie vor zwölf Jahren vertrieben, von der Wohnstätte, die er noch ein letztes Mal hatte wiedersehen wollen und die er für noch vorhanden hielt, war nichts mehr übrig, als einige durch Feuer zerstörte Mauerreste; und die Ueberlieferung hatte daraus einen so verachteten Ort gemacht, daß Keiner es wagte, sich ihm nur zu nähern, daß nicht einer der Bewohner von Chambly denselben erblickte, ohne einen Fluch darauf[134] zu schleudern! Ja, zwölf volle Jahre waren dahingegangen, doch nichts hatte, weder in diesem Flecken, noch sonst wo in den canadischen Provinzen, das Entsetzen zu lindern vermocht, das der Name Simon Morgaz einflößte.

Johann hatte die Augen gesenkt und seine Hände zitterten; er fühlte, daß ihm schwindlich wurde. Ohne die herrschende Dunkelheit hätte der alte Mann die Schamröthe sehen müssen, die ihm ins Gesicht gestiegen war.

Dieser fuhr fort:

»Sie sind selbst Canadier?...

– Ja, bestätigte Johann.

– Dann müssen Sie doch auch jenes von Simon Morgaz begangene Verbrechen kennen?

– Wer in Canada kennt dasselbe nicht?

– Gewiß. Niemand, mein Herr! Sie wohnen wahrscheinlich in den östlichen Grafschaften?

– Ja... im Osten... in Neu-Braunschweig.

– O, das ist weit, freilich sehr weit! Da wußten Sie es wohl gar nicht, daß dieses Haus zerstört worden war?...

– Nein!... Ohne Zweifel durch einen Unfall?...

– Das nicht, lieber Herr. Das nicht! entgegnete der alte Mann. Vielleicht wär's besser gewesen, wenn das himmlische Feuer es vernichtet hätte; und gewiß, das wäre auch den einen oder den anderen Tag geschehen, denn Gott ist immer gerecht. Man griff aber seiner Vergeltung vor! Schon am nächsten Tage, nachdem Simon Morgaz mit seiner Familie von Chambly verjagt worden war, stürzten sich die Leute wüthend auf diese Wohnung und setzten sie in Brand.... Nachher aber, um die Erinnerung an das Vorgefallene niemals erbleichen zu lassen, beschloß man, die Ruinen in demselben Zustande zu belassen, wie Sie dieselben jetzt sehen. Es wurde verboten, sich denselben zu nähern, und gewiß mochte sich Keiner mit dem Staube dieses Hauses entehren!«

Unbeweglich hörte Johann dem Allen zu. Die Lebhaftigkeit, mit der der wackere Mann sprach, bewies, daß der Abscheu vor Allem, was Simon Morgaz gehört hatte, noch heute in voller Stärke lebte. Wo Johann die Erinnerungsmale an seine Familie aufsuchen wollte, da fand er nur das Andenken an ihre Schande!

Inzwischen hatte sich der Andere, während er plauderte, ein wenig von der in die Acht erklärten Stelle entfernt und nach der Kirche zu gewendet. Die Glocke ließ ihre letzten Schläge durch die Luft ertönen. Der Gottesdienst sollte seinen Anfang nehmen.


 »He, wiederholte der alte Mann, sind Sie etwa taub?« (S. 134.)
»He, wiederholte der alte Mann, sind Sie etwa taub?« (S. 134.)

Schon hörte man einzelne Gesänge, welche von längeren Zwischenräumen unterbrochen wurden.[135]

Da sagte der alte Mann:

»Jetzt, lieber Herr, muß ich Sie verlassen, wenn Sie mich nicht etwa in die Kirche begleiten wollen. Sie würden dort eine Predigt hören, die im ganzen Kirchspiele großes Aufsehen machen dürfte...


 »In's Feuer mit dem Verräther!... In's Feuer mit Simon Morgaz!« (S. 141.)
»In's Feuer mit dem Verräther!... In's Feuer mit Simon Morgaz!« (S. 141.)

– Ich kann nicht, erwiederte Johann; noch vor Ta[136] gesanbruch muß ich in Laprairie zurück sein...

– Dann haben Sie keine Zeit zu verlieren, lieber Herr. Na, jedenfalls sind die Wege sicher. Seit einiger Zeit durchstreifen Polizeibeamte die Grafschaft Montreal und suchen nach Johann ohne Namen, den sie, wenn Gott unserm Lande noch gnädig ist, nicht finden werden!... Man rechnet auf diesen jungen Helden, lieber Herr, und hat damit gewiß auch Recht. Wenn ich glauben darf, was mir zu Ohren gekommen ist, so würde er hier nur muthige Männer finden, die alle bereit sind, ihm zu folgen!...[137]

– Wie in der ganzen Grafschaft, antwortete Johann.

– Eher noch mehr, lieber Herr! Haben wir nicht die Schande abzuwaschen, einen Simon Morgaz zum Mitbewohner unseres Ortes gehabt zu haben?«

Der alte Mann liebte es offenbar, ein wenig zu plaudern; endlich nahm er aber doch, Johann gute Nacht wünschend, Abschied. Da hielt ihn dieser mit den Worten zurück:

»Ihr habt die Familie jenes Simon Morgaz jedenfalls gekannt, guter Freund?

– Natürlich, Herr, und wie gut! Ich bin jetzt siebzig Jahre alt und zählte achtundfünfzig zur Zeit jenes abscheulichen Verbrechens. Ich habe dieses Land bewohnt, das auch seine Heimat war, doch nie, niemals würde ich geglaubt haben, daß sich Simon zu so etwas bereit finden ließe.... Was mag wohl aus ihm geworden sein?... Ich weiß es nicht!... Vielleicht ist er todt... vielleicht in die Fremde gegangen, wo er unter falschem Namen lebt, damit man ihm den seinen nicht ins Gesicht schleudern kann? Doch, seine Frau, seine Kinder!... Ach, wie beklage ich diese Unglücklichen! Frau Bridget, die ich so oft gesehen, die immer so gut und edelmüthig war, obwohl sie nur unter bescheidenen Umständen lebte; sie, die im ganzen Flecken überall so beliebt war!... Und welch' warme Vaterlandsliebe trug sie im Herzen!... Was hat sie leiden müssen, das arme Weib! Was hat sie leiden müssen!«

Wie vermöchte man zu schildern, was hierbei im Innern Johanns vorging! Hier, vor den Ueberresten des zerstörten Hauses, hier, wo sich der letzte Act jener Verrätherei abgespielt, wo die Genossen Simon Morgaz' ausgeliefert worden waren, den Namen seiner Mutter preisen zu hören, in der Erinnerung alles Elend seines Lebens noch einmal durchzukosten – das erschien ihm fast mehr, als eine Menschennatur ertragen konnte. Johann bedurfte auch einer außergewöhnlichen Energie, um zu verhüten, daß sich kein Schmerzensschrei seiner Brust entrang.

Der alte Mann fuhr fort:

»So wie die Mutter, hab' ich auch die beiden Söhne gekannt! Sie hielten treu zu ihr! Ach, die armen Leute!... Wo mögen sie in dieser Minute sein?... Alle hier liebten sie wegen ihres Charakters, ihrer Offenheit und ihres guten Herzens! Der Aeltere war schon sehr ernst und fleißig, der Jüngere mehr aufgeräumt, aber entschiedener und stets bereit, die Schwachen[138] gegen die Stärkeren zu schützen.... Er hieß Johann. Sein Bruder wurde Joann genannt... richtig, genau wie der junge Geistliche, der eben jetzt predigen wird...

– Der Abbé Joann?... rief Johann.

– Sie kennen ihn?

– Nein, guter Freund... nein!... Ich habe aber von seinen Predigten gehört...

– Nun also, wenn Sie ihn nicht kennen, lieber Herr, so müssen Sie schon seine Bekanntschaft machen... Er ist durch alle Grafschaften des Westens gezogen, und überall sind die Leute zusammengeströmt, um ihn zu hören... Sie werden ja selbst sehen, welche Begeisterung er zu entzünden vermag!... Wenn Sie Ihren Aufbruch nur um eine Stunde verzögern können...

– Ich folge Euch!« unterbrach ihn Johann.

Der Greis und er begaben sich nach der Kirche, wo sie einige Mühe hatten Platz zu finden.

Die ersten Gebete waren gesprochen und der Prediger bestieg eben die Kanzel.

Der Abbé Joann war dreißig Jahre alt. Mit dem leidenschaftlichen Gesichte, dem durchdringenden Blicke und der warmen überzeugenden Stimme glich er ganz seinem Bruder und war auch ebenso ohne Bart wie dieser. In Beiden fanden sich die charakteristischen Züge ihrer Mutter wieder. Wenn man ihn hörte, wie wenn man ihn sah, begriff man wohl den Einfluß, den der Abbé Joann auf die von seinem Rufe herbeigelockten Massen ausübte. Ein Wortführer des katholischen Glaubens wie des Glaubens und der Hoffnung des Landes, war er ein Apostel im wahren Sinne des Wortes, ein Kind jener mächtig wirkenden Missionäre, welche sich opferwillig genug zeigen, das Blut für ihren Glauben zu verspritzen.

Der Abbé Joann begann seine Predigt. Aus Allem, was er von Gottes Gerechtigkeit sprach, fühlte man heraus, was er zum Besten seines Vaterlandes sagen wollte. Seine Anspielungen auf die jetzige Lage Canadas waren darauf berechnet, die Zuhörer zu begeistern, deren Patriotismus nur die Gelegenheit erwartete, sich in Thaten umzusetzen. Seine Bewegung, sein Wort, seine Haltung erregten etwas wie ein dumpfes Beben in der bescheidenen Dorfkirche, als er die Hilfe des Himmels anrief gegen die Räuber der althergebrachten Freiheiten. Man hätte sagen mögen, seine zitternde Stimme verklinge gleich einer Trompete,[139] sein ausgestreckter Arm schwinge von der Kanzel herab die Fahne der Unabhängigkeit.

Im Schatten verborgen, hörte Johann ihm zu. Es erschien ihm, als wär' er es selbst, der hier durch den Mund seines Bruders sprach. Es waren ja dieselben Gedanken, dieselben Hoffnungen und Wünsche, wel che sich in diesen so nahe verwandten Wesen begegneten. Beide kämpften für ihre Heimat, jeder auf seine Weise, der Eine mit dem Worte, der Andere durch die That, Beide aber zum schwersten Opfer gleich bereit.

Jener Zeit besaß der katholische Clerus in Canada sowohl in socialer wie in intellectueller Hinsicht einen großen Einfluß. Man betrachtete die Geistlichen als geheiligte Personen. Es war der Kampf der alten katholischen Glaubensgesetze, welche die französischen Elemente der Colonie von Anfang an eingepflanzt hatten, gegen die protestantischen Dogmen, denen die Engländer überall Eingang zu verschaffen suchten. Die Parochianen sammelten sich da um den Priester, den thatsächlichen Vorsteher der Kirchspiele, und der Politik, welche dahin zielte, die canadischen Provinzen den englischen Händen zu entwinden, war diese Verbrüderung der Geistlichkeit und der Gläubigen keineswegs fremd.

Der Abbé Joann gehörte, wie bekannt, zum Orden des heiligen Sulpice. Der Leser wird aber kaum wissen, daß dieser Orden als Besitzer eines großen Theiles des Landes seit dessen Eroberung noch heute aus demselben sehr beträchtliche Einkünfte bezieht. Verschiedene Servitute, welche, vorzüglich auf der Insel Montreal im Sinne von Herrenrechten, einst durch Richelieu1 gewährt wurden, haben noch heute zum Besten der Congregation Geltung. Es folgt hieraus, daß die Sulpicianer in Canada eine ebenso geehrte wie mächtige Gesellschaft bilden, und daß die Priester, welche noch immer die reichsten Landeigenthümer sind, dadurch gleichzeitig einen weitreichenden Einfluß ausüben.

Die Predigt – man hätte auch sagen können, der feurige Aufruf an alle Patrioten – dauerte gegen dreiviertel Stunden lang. Sie begeisterte die Zuhörer in so hohem Grade, daß sie – ohne die Heiligkeit des Orts – dieselbe mit lautem Beifall beantwortet hätten. Die nationale Faser in ihnen war durch diese eindringliche Anregung neu belebt worden. Vielleicht wunderte man sich darüber, daß die Behörden diese Predigten, in denen sich die Propaganda[140] der Reformer unter dem Deckmantel des Evangeliums verbarg, so ohne Einschränkung gestattete. Es wäre jedoch schwierig gewesen, in denselben eine directe Aufforderung zur Empörung nachzuweisen, und außerdem genoß die Kanzel eine Freiheit, an welche die Regierung nur im äußersten Nothfall rühren wollte.

Nach Beendigung der Predigt zog sich Johann in einen Winkel der Kirche zurück. Während die Menge sich verlief, wollte er sich vielleicht dem Abbé Joann zu erkennen geben, seine Hand drücken, mit ihm wenige Worte wechseln, ehe er sich wieder zu seinen Genossen im Pachthofe von Chipogan begab. Ja, wahrscheinlich. Die beiden Brüder hatten sich seit einigen Monaten nicht gesehen, da Jeder seine eigene Straße zog, um an demselben Werke der nationalen Erhebung thätig zu sein.

Johann wartete also hinter den ersten Pfeilern des Kirchenschiffes, als draußen ein heftiges Lärmen entstand, aus dem man Geschrei, Ausrufe und wüstes Geheul vernahm. Es erschien so, als ob die Volkswuth mit zügelloser Heftigkeit ausgebrochen wäre. Gleichzeitig flackerte ein heller Schein über den Platz, von dem einzelne Strahlen selbst ins Kircheninnere drangen.

Die Woge der Zuhörer wälzte sich hinaus, und, wider Willen mit fortgezogen, folgte ihr Johann bis zur Mitte des Platzes.

Was ging wohl hier vor?

Vor den Ruinen des Hauses des Verräthers war ein großes Feuer angezündet worden. Mehrere Männer, zu denen sich auch bald Frauen und Kinder gesellten, ernährten die Flammen, in die sie ganze Arme voll trockenen Holzes warfen.

Unter den wilden Ausrufen hörte man wohl auch die haßerfüllten Worte:

»Ins Feuer mit dem Verräther!... Ins Feuer mit Simon Morgaz!«

Dann wurde eine Art mit Lumpen bedeckter Hanswurst nach den lodernden Flammen geschleppt.

Johann begriff Alles. Die Bewohner von Chambly verschritten zur Hinrichtung des Elenden in effigie, wie man in London noch heute das Bild Guy Fawke's, jenes verbrecherischen Helden der Pulververschwörung, durch die Straßen schleppt.

Heute, am 27. September, war der Jahrestag, wo Walter Hodge und seine Genossen François Clerc und Robert Farran auf dem Schaffot den Tod gefunden hatten.[141]

Vom Entsetzen gepackt, wollte Johann entfliehen... er konnte nicht von der Stelle weg; es schien, als ob seine Füße fest in den Erdboden eingewurzelt wären. So mußte er es denn mit ansehen, wie das Zerrbild seines Vaters mit Schmähworten überhäuft, von Schlägen zerfleischt und mit Koth besudelt wurde, den die Menschenmenge in wahnwitzigem Hasse auf ihn warf, und es erschien ihm, als ob alle diese Schmach auf ihn, Johann Morgaz, zurückfiele.

Da erschien der Abbé Joann – die Menge wich auseinander, um ihm Durchgang zu gestatten.

Auch er hatte die Bedeutung dieses Volksauflaufes schnell durchschaut. Da erkannte er auch seinen Bruder, dessen bleiches Gesicht von dem Widerschein der Flammen erleuchtet war, während Hunderte von Stimmen neben dem verhaßten 27. September den verachteten Namen Simon Morgaz' ausriefen.

Der Abbé Joann war seiner kaum noch Herr. Er streckte die Arme aus und drängte sich nach dem Scheiterhaufen durch, als die Puppe in die prasselnde Gluth geworfen werden sollte.

»Im Namen des allbarmherzigen Gottes! rief er; Mitleid für das Andenken dieses Unglücklichen!... Hat Gott nicht auch Vergebung für alle Sünder?

– Für den Vaterlandsverräther, für den Verrath an Denjenigen, die für die Heimat gekämpft haben, gibt es keine Gnade!«

In der nächsten Minute schon hatte das Feuer, wie das alljährlich geschah, das Bild Simon Morgaz' verzehrt.

Das wilde Geschrei tobte lauter und verhallte erst, als die Flammen langsam verloschen.

Im jetzt herrschenden Dunkel hatte Niemand sehen können, daß Johann und Joann zu einander getreten waren und, die Hände verschränkt, Beide den Kopf niedersenkten.

Ohne ein Wort gesprochen zu haben, verließen sie den Schauplatz dieser schrecklichen Scene und flohen wie verfolgt aus dem Flecken Chambly, nach dem sie nimmer wiederkehren sollten.[142]

Fußnoten

1 Erst 1854 beschloß das Parlament von Canada die Ablösung jener Lasten; eine nicht geringe Zahl von Eigenthümern aber liefern ihre Gebühren, treu der alten Gewohnheit noch immer in die Hände der sulpicianischen Geistlichkeit ab.


Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 143.
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