Elftes Capitel.
Sühne.

[364] Der Name Simon Morgaz war unter den Vertheidigern der Insel Navy unter folgenden Umständen wieder genannt worden.

Dem Leser wird erinnerlich sein, daß die Vorbereitungen zum Widerstande, die Punkte, welche befestigt wurden, um einen Ueberfall seitens der[364] Königlichen abzuschlagen, und einzelne Versuche, die Passage über den Niagara mit Gewalt zu erzwingen, zu wiederholten Malen nach dem Lager Mac Nab's hinüber gemeldet worden waren. Offenbar befand sich ein Spion unter den Reihen der Patrioten und hielt den Feind auf dem Laufenden über Alles, was auf der Insel vorging. Vergebens hatte man sich schon bemüht, diesen Spion zu entdecken und kurzer Hand abzustrafen, doch war er bis jetzt allen Nachsuchungen, welche bis auf die Dörfer am amerikanischen Ufer ausgedehnt wurden, entgangen.

Dieser Spion war kein Anderer als Rip.

Gereizt durch seine letzten Mißerfolge, welche seinem »Handelshause« immerhin beträchtliche Verluste zufügten, hatte der Chef der Agentur Rip & Compagnie das Letzte daran gewagt, seine Geschäfte durch einen höchst kühnen Versuch, der die erlittenen Schlappen ausgleichen sollte, wieder aufzubessern.

Bei dem Handgemenge in der Farm von Chipogan, wo seine Begleitmannschaft hatte zum Rückzuge blasen müssen, war sein Unternehmen gescheitert, und von St. Charles her wissen wir, wie er selbst dem im geschlossenen Hause verborgenen Johann ohne Namen die Möglichkeit bot, zu entfliehen; und endlich war es nicht er mit seinen Leuten, sondern der Polizeihauptmann Comeau mit den seinigen, dem die endliche Ergreifung des Proscribirten gelang.

Entschlossen, sich dafür Genugthuung zu verschaffen, hatte Rip, für den das »Geschäft bezüglich Johanns ohne Namen« abgethan war, da man wohl annehmen konnte, daß diesen in Fort Frontenac die Kugeln der Soldaten hingestreckt hatten, den Plan ausgeklügelt, sich verkleidet nach der Insel Navy zu begeben. Mittels verabredeter Signale meldete er dann von hier aus dem Oberst Mac Nab alle Vertheidigungsarbeiten und wies ihn auf die Punkte hin, wo am leichtesten eine Landung an der Insel zu bewerkstelligen sein würde. Gewiß wagte er seinen Kopf daran, sich auf diese Weise unter die Patrioten zu mischen, denn wenn er erkannt wurde, hatte er sicherlich auf keine Gnade zu hoffen. Gewiß erschlug man ihn wie einen Hund. Andererseits winkte ihm als Preis eine sehr beträchtliche Summe, wenn er die Einnahme der Insel erleichterte, welche mit dem Verschwinden der hervorragendsten Anführer dem Aufstande des Jahres 1837 voraussichtlich ein Ende bereiten mußte.

In dieser Absicht also begab sich Rip nach dem amerikanischen Ufer des Niagara, auf diesem nach Schlosser und fuhr dann auf der »Caroline« als einfacher Besucher, wie so viele Andere, nach der Insel Navy hinüber.[365]

Dank seiner Verkleidung, dem Vollbarte, den er jetzt trug, der geschickten Veränderung seiner gewöhnlichen Kleidung und endlich der verstellten Stimme, war dieser tollkühne Geheimpolizist in der That kaum wiederzuerkennen. Und doch fanden sich hier Leute, welche ihn trotzdem unter dieser Maske herausgefunden haben würden: Herr de Vaudreuil und seine Tochter, Thomas Harcher und seine Söhne, mit denen er ja vor nicht gar zu langer Zeit in der Farm zu Chipogan zusammengetroffen war, und endlich auch Meister Nick, dem er vielleicht am wenigsten auf dieser Insel zu begegnen erwartet hätte. Glücklicher Weise war seine Verkleidung aber eine so vollkommene, daß Niemand nach dieser Richtung Verdacht schöpfte. So konnte er, ohne sich bloßzustellen, sein Geschäft als Spion betreiben und, wenn nöthig, mit Chippewa correspondiren; so kam es auch, daß er dem Obersten Mac Nab den von Vincent Hodge geplanten Ueberfall des Fort Frontenac rechtzeitig hatte melden können.

Da sollte ein reiner Zufall ihn verderben.

Während der acht Tage seit seinem Eintreffen hier hatte er, in der Tracht der Blaumützen auftretend, zwar öfter schon Thomas Harcher, Meister Nick und Anderen gegenübergestanden, war aber Bridget noch nirgends begegnet; und wie hätte er auch deren Anwesenheit auf der Insel Navy muthmaßen sollen? Die Gattin Simon Morgaz' inmitten der Patrioten, das war etwas, woran er in der Welt am wenigsten gedacht hätte, zumal da er wußte, daß sie unlängst noch in dem geschlossenen Hause war, wo er selbst sie mit den Repressalien, welche die übrigen Einwohner von St. Charles trafen, verschont hatte. Im Uebrigen waren sie seit zwölf Jahren, das heißt seit der Zeit, wo er damals mit ihr und ihrer Familie in Chambly zusammentraf, einander nicht wieder begegnet, außer an jenem Abend, wo in St. Charles die Haussuchungen vorgenommen wurden, so daß er fast sicher sein konnte, weder von ihr, noch von Meister Nick oder Thomas Harcher wiedererkannt zu werden.

Bridget erkannte ihn auch in der That nicht; vielmehr war er es selbst, der sich unter Umständen verrieth, welche er trotz peinlichster Vorsicht doch außer Acht gelassen hatte.

An jenem Abend, am 16. December, als Vincent Hodge sich auf die Einladung des Herrn de Vaudreuil hin daselbst einfand, hatte Bridget das Haus verlassen. Tiefdunkle Nacht verhüllte das Thal des Niagara und eine ungestörte Stille herrschte ebenso in dem von den englischen Truppen besetzten Dorfe, wie im Lager der Reformer. Nur einzelne Wachtposten[366] wandelten am Ufer auf und ab, um den linken Arm des Stromes im Auge zu behalten.

Ohne sich von der von ihr eingeschlagenen Richtung Rechenschaft zu geben, war Bridget nach der stromaufwärts liegenden Spitze der Insel gelangt. Nachdem sie hier wenige Augenblicke gerastet, wollte sie eben zurückkehren, als ihr Auge von einem Lichtscheine getroffen wurde, der sich am Fuße des steilen Ufers hin und her bewegte. Ueberrascht und beunruhigt zugleich, begab sich Bridget nach der Uferkante, welche den Niagara an dieser Stelle überragte.

Hier schwang ein Mann eine Laterne, deren Licht auf dem Ufer von Chippewa bequem erkennbar sein mußte. Wirklich antwortete demselben auch sofort ein anderer Lichtschein aus dem dortigen Lager.

Bridget konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie den Austausch dieser verdächtigen Signale bemerkte.

Durch Bridgets Schrei aufmerksam gemacht, war jener Mann mit wenigen Sätzen den Felsenabhang hinaufgeeilt, trat der Frau gegenüber und leuchtete ihr mit seiner Laterne voll ins Gesicht.

»Bridget Morgaz!« rief er erstaunt.

Diesem Manne, der ihren Namen nannte, gegenüber anfangs ganz sprachlos, wich Bridget einen Schritt zurück. Die Stimme, welche er unachtsamer Weise jetzt nicht verstellt hatte, verrieth ihr jedoch, wer der Spion sei.

»Rip!... stammelte sie. Rip... hier!

– Ja, ich.

– Rip... hier als...

– Gewiß, Bridget, antwortete Rip leiser, thue ich nicht hier dasselbe, was zu thun auch Sie hierher gekommen sind? Weshalb sollte sich die Gattin eines Simon Morgaz im Lager der Patrioten befinden, wenn sie aus demselben nicht anderen Leuten Mittheilung machen...

– Elender! rief Bridget.

– O, schweigen Sie, rief Rip, sie kräftig am Arme packend. Schweigen Sie still oder...«

Es hatte nur eines Stoßes bedurft, um sie in die Strömung des Niagara zu werfen.

»... Oder Sie wollen mich umbringen? fiel ihm Bridget ins Wort, während sie sich loszureißen sachte. Das wird wenigstens nicht geschehen, ehe ich Leute herbeigerufen, ehe ich Sie denselben angegeben habe!«[367]

Dabei rief sie auch schon mit allen Kräften:

»Hierher!.. Zu Hilfe!... Hierher!«

Fast sofort ließ ein Geräusch erkennen, daß die Wachtposten nach der Seite, woher diese Rufe drangen, herzueilten.


 »Hierher!... Zu Hilfe... Hierher!« rief Bridget. (S. 368.)
»Hierher!... Zu Hilfe... Hierher!« rief Bridget. (S. 368.)

Rip sah ein, daß er Bridget nicht werde abthun können, ehe diese Hilfe käme.

»Nehmen Sie sich in Acht, Bridget, erklärte er drohend; sagen Sie, wer ich bin, so sag' auch ich, wer Sie sind!...


 »Ja, ich bin Johann Morgaz. Schlagt uns nieder!« (S. 372.)
»Ja, ich bin Johann Morgaz. Schlagt uns nieder!« (S. 372.)

– Thun Sie, was Ihnen gefällt!« antwortete Bridget, auf welche selbst diese Drohung ohne Wirkung blieb.

Dann wiederholte sie, womöglich noch durchdringender:

»Zu Hilfe!... Hier... hierher!«[368]

Schon umringte sie eine Anzahl Patrioten. Andere liefen von verschiedenen Seiten hinzu.

»Dieser Mann, erklärte Bridget, ist der Geheimagent Rip, er dient hier als Spion für die Königlichen...[369]

– Und diese Frau, sagte Rip mit schlecht verhehltem Ingrimm, diese Frau ist die Gattin des Verräthers Simon Morgaz!«

Die Wirkung dieses verabscheuten Namens war überraschend. Der Rip's erlosch fast ganz vor demselben. Nur die Rufe: »Bridget Morgaz! Bridget Morgaz!« tönten aus dem Lärmen hervor, und nur gegen das unglückliche Weib wendeten sich alle Drohungen und Schimpfreden. Rip wußte sich das zu Nutze zu machen. Immer seine kühle Ueberlegenheit bewahrend, bemerkte er schnell, daß die Aufmerksamkeit sich von ihm gänzlich abwandte, und verschwand im Dunkel. Jedenfalls fuhr er noch in derselben Nacht über den rechten Arm des Niagara, gelangte nach Schlosser und schlug sich auf Umwegen in das Lager von Chippewa, denn keine spätere Nachforschung ergab von dem Schurken auch nur die geringste Kunde.

Wir wissen jetzt wie es kam, daß Bridget, umringt von einer tosenden Volksmenge, in der Richtung nach dem Hause des Herrn de Vaudreuil zu verfolgt wurde.

Im letzten Augenblicke, als sie den Mißhandlungen der Wüthenden zu erliegen nahe war, erschien noch Johann auf der Bildfläche, und durch die Worte: »Meine Mutter!« hatte er das Geheimniß seiner Geburt verrathen.

Johann ohne Namen war der Sohn des Simon Morgaz!

Es sei hier kurz mitgetheilt, wie es kam, daß der Flüchtling sich jetzt auf der Insel Navy befand.

Bei dem Krachen der Salve innerhalb der Umplankung des Forts Frontenac war Johann bewegungslos in die Arme Lionels gesunken. Er hatte die Bedeutung jener Schüsse verstanden – Joann starb dort an seiner Statt! Es bedurfte der größten Sorgfalt seines jungen Begleiters, ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Nach Ueberschreitung der Eisdecke des St. Lorenzo gelangten dann Beide an das Ufer des Ontario und waren mit Tagesanbruch schon weit vom Fort Frontenac entfernt.

Johann war entschlossen, in den Reihen der Aufständischen gegen die königlichen Truppen zu kämpfen und sich endlich tödten zu lassen, wenn auch diese letzte Anstrengung scheiterte.

Auf dem Wege durch die dem See benachbarten Gebiete, wohin sich die Nachricht von seiner Hinrichtung verbreitet hatte, konnte er die Ueberzeugung gewinnen, daß die Anglo-Canadier von ihm befreit zu sein annahmen. Nun[370] wohl, er wollte an der Spitze der Patrioten wieder auftauchen, wollte wie der Blitz über die Söldlinge Colborne's hereinbrechen. Vielleicht verursachte sein, sozusagen wunderbares Wiedererscheinen schon allein einen Todesschrecken in deren Reihen, während die Söhne der Freiheit daraus einen unwiderstehlichen Kampfesmuth schöpfen mußten.

Wie Johann und Lionel sich aber auch beeilten, nach dem Niagara zu gelangen, so verzögerte sich das doch wegen der bedeutenden Umwege, die sie zu machen gezwungen waren. Bis an die Grenze des amerikanischen Gebietes drohten ihnen Gefahren, und so konnten sie ihren Weg nur in der Nacht fortsetzen. In Folge dessen trafen sie erst am Spätabend des 16. December im Dorfe Schlosser und bald darauf im Lager bei der Insel Navy ein.

Jetzt stand nun Johann Auge in Auge der brüllenden Menge gegenüber, die sich hinter ihm geschlossen hatte.

Der durch den Namen Simon Morgaz aufs neue erweckte Abscheu erwies sich aber als so mächtig, daß das Geschrei nicht aufhörte. Die Männer hatten ihn recht wohl wiedererkannt... Das war Johann ohne Namen, der volksthümliche Held, den man unter den englischen Kugeln gefallen glaubte. Doch trotzdem erblaßte in diesem Augenblicke die Legende, welche einst seine Erscheinung umgab. Zu den Drohungen, welche gegen Bridget ausgestoßen wurden, kamen auch noch andere gegen ihren Sohn.

Johann hielt ganz ruhig Stand. Mit dem einen Arme seine Mutter unterstützend, stieß er mit dem anderen die wüthenden Männer zurück. Herr de Vaudreuil, Farran, Clerc und Lionel bemühten sich vergeblich, die Menge zurückzuhalten. Als Vincent Hodge sich dem Sohne des Angebers seines Vaters gegenüber sah, den er von Clary de Vaudreuil geliebt wußte, da wallte in ihm der Zorn auf und drohte ihn zu übermannen. Dennoch unterdrückte er seine Rachegelüste und dachte nur daran, das junge Mädchen gegen die feindseligen Angriffe zu schirmen, die ihr die edle Ergebenheit gegen Bridget Morgaz einbrachte.

Daß derartige Empfindungen sich gegen diese beklagenswerthe Frau äußern konnten, daß man die Verantwortlichkeit für den abscheulichen Verrath des Simon Morgaz auch noch auf ihre Schultern überwälzte, war gewiß eine empörende Ungerechtigkeit und ließ sich nur begreifen von einer erregten Volksmenge, der im ersten Augenblicke jede Ueberlegung abging; daß aber auch die Erscheinung Johanns ohne Namen diese nicht in ihrem Wahnwitze gebändigt, nach Allem, was man doch von diesem wußte, das überschritt jede Grenze.[371]

Die Empörung, welche Johann gegenüber solcher niedrigen Gesinnung empfand, war so groß, daß er, jetzt bleich vor Zorn und nicht mehr roth vor Scham, mit einer den Lärm übertönenden Stimme ausrief:

»Ja, ich bin Johann Morgaz und das ist Bridget Morgaz!... So schlagt uns doch nieder!... Wir verlangen weder Euer Mitleid, noch mögen wir Eure Verachtung! Du aber, meine Mutter, richte Dich noch einmal auf, vergieb denen, die Dich beschimpften, Dich, die beste, die ehrbarste aller Frauen!«

Dieser Haltung gegenüber hatten sich die erhobenen Arme wieder gesenkt, dennoch riefen noch viele wilde Stimmen:

»Hinaus mit der Familie des Verräthers!... Hinaus mit Allem, was Morgaz heißt!«

Wiederum drängte sich die Menge näher heran an die Opfer des Wahnsinns, um diese von der Insel zu verjagen.

Da sprang Clary vor.

»Unselige, Ihr werdet ihn anhören, ehe Ihr seine Mutter und ihn von hier vertreibt!« rief sie dem tollen Haufen entgegen.

Verblüfft durch den energischen Eingriff des jungen Mädchens schwiegen Alle still.

Da begann Johann mit einer Stimme, aus der die Verachtung ebenso herausklang wie seine Empörung:

»Ich brauche hier nicht darzulegen, was meine Mutter durch die Ehrlosigkeit ihres Namens schon Alles hat leiden und erdulden müssen; wissen sollt Ihr aber, was sie Alles gethan, um dieses Brandmal auszulöschen. Ihre beiden Söhne hat sie einzig erzogen in dem Gedanken, sich zu opfern und auf alles Erdenglück zu verzichten. Deren Vater hatte die canadische Heimat verrathen – sie sollten nur zu dem Zwecke leben, dieser ihre Unabhängigkeit wieder zu geben. Und nachdem sie einen Namen abgelegt, der überall gerechten Abscheu erregte, da zog der Eine durch die Grafschaften, von Kirchspiel zu Kirchspiel, um Parteigänger für die nationale Sache zu werben, während der Andere sich bei jedem Aufstande in die vordersten Reihen der Patrioten stellte. Der Letztere steht hier vor Euch. Der Andere, der Aeltere, war der Abbé Joann, der meine Stelle im Fort Frontenac einnahm, der unter den Kugeln der Henker gefallen ist...

– Joann... Joann todt! rief Bridget schluchzend.

– Ja, meine Mutter, todt, wie Du uns hast schwören lassen zu sterben... todt für sein Vaterland!«[372]

Bridget war neben Clary de Vaudreuil niedergesunken, welche, ihre Arme um die schluchzende Frau legend, ihre Thränen mit denen der unglücklichen Mutter mischte.

Aus der durch diesen rührenden Auftritt gefesselten Menge hörte man jetzt nur noch ein dumpfes Gemurmel, aus dem sich jedoch immer noch der unüberwindliche Abscheu vor dem Namen Morgaz herausfühlen ließ.

Da fuhr Johann mit lebhafter Stimme fort:

»Das, das haben wir gethan, nicht etwa in der Absicht, einen Namen wieder zu Ehren zu bringen, der einmal für immer gebrandmarkt ist, einen Namen, den hier der Zufall Euch wieder verrathen und den wir mit unserer von Allen verdammten Familie für ewig begraben zu haben hofften. Gott hat es nicht gewollt! Und nachdem ich Euch nun Alles gesagt, werdet Ihr noch immer nur mit Worten der Verachtung, mit dem Geschrei nach Rache antworten?«

Ja, der durch die Erinnerung an den Verräther neu aufgestachelte Widerwillen ging so weit, daß einer der Tollsten ausrief:

»Wir werden niemals dulden, daß die Frau und der Sohn des Simon Morgaz durch ihre Gegenwart das Lager der Patrioten beschimpfen!

– Nein! Nein!... stimmten Andere zu, welche sich vom Zorne hinreißen ließen.

– Ihr Elenden!« rief Clary.

Bridget hatte sich aufgerichtet.

»Mein Sohn, bat sie, verzeihe ihnen!... Wir haben nicht das Recht, Verzeihung zu verweigern!

– Verzeihen! rief Johann in der Erregung, welche sein ganzes Wesen gegen diese Ungerechtigkeit sich aufbäumen machte. Denen verzeihen, die uns die Verantwortlichkeit zuwälzen für ein Verbrechen, das nicht das unsere ist, und trotz Allem, was wir gethan, jenes zu sühnen. Denen verzeihen, welche den Verrath noch in der Gattin Desjenigen verfolgen, der ihn beging, in dessen Söhnen, von denen schon Einer sein Blut für sie hingegeben und der Andere nur danach verlangt, es für sie verspritzen zu dürfen! Nein!... Nimmermehr!... Wir, wir wollen nicht mehr vereint bleiben mit diesen Patrioten, welche sich durch unsere Anwesenheit beschimpft nennen!... Komm' Mutter, komm'!

– Mein Sohn, sagte Bridget, Du mußt leiden lernen!... Das ist unsere Aufgabe hienieden... das ist die Sühne!...[373]

– Johann!« flüsterte Clary.

Noch hörte man zuweilen einige Rufe – dann wurde Alles still. Die Reihen hatten sich vor Bridget und ihrem Sohne geöffnet. Beide begaben sich nach dem Ufer zu.

Bridget fehlte fast die Kraft, selbst einen Schritt zu thun. Dieser entsetzliche Auftritt hatte sie gelähmt, vernichtet. Clary unterstützte sie mit Hilfe Lionels, konnte sie aber nicht trösten.

Während Vincent Hodge, Clerc und Farran noch inmitten der Volksmenge standen, um diese zu beruhigen, war Herr de Vaudreuil seiner Tochter nachgefolgt. Wie sie, fühlte auch er sein Herz sich empören gegen dieses Uebermaß von Ungerechtigkeit, gegen die Greuelthaten dieser Verblendeten, welche die menschliche Verantwortung bis über alle Grenzen trieben. Für ihn, wie für sie, erlosch die Vergangenheit des Vaters vor der leuchtenden Vergangenheit der Söhne. Und als Bridget und Johann eines der Boote erreicht, welche die Verbindung mit Schlosser aufrecht erhielten, sagte er:

»Ihre Hand, Frau Bridget!... Ihre Hand, Johann! Erinnern Sie sich nicht der tödtlichen Beleidigungen, welche jene Unseligen Ihnen angethan haben... Diese werden noch erkennen, daß Sie über deren Schmähungen erhaben dastehen!... Sie werden schon eines Tages selbst kommen, Sie um Verzeihung zu bitten...

– Niemals! rief Johann, bereit in das Boot zu steigen, das zum Abstoßen vom Ufer fertig war.

– Wohin denken Sie zu gehen? fragte Clary.

– Dahin, wo wir nicht mehr zu fürchten brauchen, daß die Menschen uns zur Zielscheibe ihrer Beleidigungen machen!

– Frau Bridget, wandte sich das junge Mädchen an diese noch so laut, daß Alle es verstehen mußten, ich achte und liebe Sie wie eine Mutter! Vor wenig Minuten nur, als ich noch glauben mußte, daß Ihr Sohn nicht mehr unter den Lebenden wandle, hab' ich geschworen, dem Andenken Desjenigen treu zu bleiben, dem ich mein Leben weihen wollte!... Johann, ich liebe Dich!... Kannst Du von mir gehen?...«

Blaß vor tiefer innerer Erregung wäre Johann bald dem jungen Mädchen zu Füßen gesunken.

»Clary, sagte er, Sie bereiten mir eben die einzige Herzensfreude, die ich empfunden, seit ich dieses elende Leben führe. Und doch, Sie haben es selbst[374] gesehen, nichts vermag den Abscheu zu bannen, den mein Name den Bethörten einflößt, und diesen Abscheu dürfen Sie niemals mit mir zu theilen haben!

– Nein, fügte Bridget hinzu, das Weib eines Morgaz darf Clary de Vaudreuil niemals werden!

– Komm' Mutter, komm'!« bat Johann.

Bridget mit sich fortziehend, brachte er diese in das Boot, welches sich allmählich entfernte, während der Name des Verräthers noch immer aus hundert Kehlen schallte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Am folgenden Tage vernahm Johann, in einer vereinzelten Hütte außerhalb des Dorfes Schlosser, wohin er seine Mutter gebracht, neben dieser knieend ihre letzten Worte.

Niemand wußte, daß diese Hütte die Gattin und den Sohn Simon Morgaz' verbarg. Uebrigens sollte das nicht lange währen.

Bridget lag im Sterben. Binnen wenigen Stunden sollte ein Leben zu Ende gehen, das den Becher des Unglücks bis zur Neige gekostet und die Last alles Elends getragen hatte, welches das Schicksal einem menschlichen Wesen nur aufzubürden vermochte.

Wenn seine Mutter nicht mehr wäre, wenn er ihre alten treuen Augen zugedrückt, er die Erde sich über deren Leiche hatte schließen sehen, dann war Johann entschlossen, dieses Land zu fliehen, das ihn ja von sich stieß.


Gegen elf Uhr Vormittags begann das Vorspiel des Angriffs. (S. 382.)
Gegen elf Uhr Vormittags begann das Vorspiel des Angriffs. (S. 382.)

Er dachte zu verschwinden, glaubte, daß man seiner nicht mehr erwähnen werde – nicht einmal, nachdem der Tod endlich gekommen sein würde, auch ihn zu erlösen.


Es wäre unmöglich gewesen, sich zu schützen. (S. 382.)
Es wäre unmöglich gewesen, sich zu schützen. (S. 382.)

Die letzten Worte seiner Mutter ließen ihn aber wieder auf die Absicht verzichten, die Aufgabe zu verlassen, der er sich ergeben, um das Verbrechen sei nes Vaters zu sühnen.

Mit einer Stimme, aus welcher schon ihre letzten Seufzer hervorklangen, sagte Bridget:

»Mein Sohn, Dein Bruder ist todt und ich... ich werde sterben, nachdem ich genug gelitten! Ich beklage mich nicht! Gott ist gerecht! Das ist die Sühne, welche er auferlegt; um diese aber voll zu machen, Johann, mußt Du alle Beschimpfungen vergessen und erst Dein Werk wieder aufnehmen. Du hast nicht das Recht, dasselbe zu verlassen... Deine Pflicht, mein Johann, ist es, Dich Deinem Vaterlande zu weihen, bis auch Du einen ehrenvollen Untergang findest«...[375]

Mit diesen Worten hatte sich Bridgets Seele der irdischen Hülle entrungen.

Johann schloß die Todte in seine Arme und drückte sanft die Augen zu, welche so viel geweint hatten.[376]

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 364-377.
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