Fünftes Capitel.
Haussuchungen.

[287] Kaum hatte die Thür sich geschlossen, als Johann, das Ohr an deren Füllung gelegt, nach außerhalb lauschte. Mit der Hand machte er dabei ein Zeichen, daß seine Mutter und Clary kein Wort sprechen und sich ganz ruhig verhalten möchten.

Und Bridget, welche schon ausrufen wollte: »Warum bist Du zurückgekommen, mein Sohn?« – Bridget schwieg.

Draußen hörte man auf der Straße hin und her gehen. Zwischen einem halben Dutzend von Männern wurden abgebrochene Sätze gewechselt und jene hatten gerade in der Nähe des geschlossenen Hauses Halt gemacht.

»Wohin ist er denn entwichen?

– Hier hat er sich doch nicht verstecken können!

– Er wird sich weiter oben in ein Haus geflüchtet haben.

– Gewiß ist nur das Eine, daß er uns entwischt ist.

– Und er hatte doch kaum hundert Schritte Vorsprung gegen uns.

– Den Teufel auch, Johann ohne Namen verfehlt zu haben!

– Und die sechstausend Piaster, die sein Kopf werth ist!«

Als Bridget die Stimme des Mannes vernahm, der diese letzten Worte ausgesprochen, durchrieselte es sie wie ein kalter Schauer. Es erschien ihr, als erkenne sie die Stimme, und könne sie sich nur nicht genau erinnern...

Johann dagegen hatte dieselbe erkannt und mit ihr den Mann, der ihn so hartnäckig verfolgte. Es war Rip, und wenn er das seiner Mutter nicht sagen wollte, so geschah es, um sie nicht an die schmerzliche Vergangenheit zu mahnen, die sich an diesen Namen knüpfte.

Inzwischen war es wieder still geworden. Die Polizisten hatten ihren Weg fortgesetzt, ohne zu vermuthen, daß Johann sich habe in das geschlossene Haus flüchten können.

Da wendete sich der junge Mann an seine Mutter und Clary, welche im Dunkel der Hausflur standen.[287]

In dem Augenblicke ließ sich auch, ehe Bridget noch eine Frage an ihren Sohn richtete, die Stimme des Herrn de Vaudreuil vernehmen.

Johann, Clary und Bridget mußten sich sofort nach dem Zimmer des Herrn de Vaudreuil begeben, und tief erregt nahmen sie neben seinem Bette Platz.

»Ich habe die Kraft, Alles zu hören, sagte Herr de Vaudreuil, und ich will Alles wissen!

– Sie werden Alles erfahren!« antwortete Johann.

Er lieferte ihnen dann folgenden Bericht, den Clary und Bridget ohne ihn zu unterbrechen anhörten.

»In jener Nacht, wo ich das geschlossene Haus verließ, traf ich nach zwei Stunden in St. Denis ein. Dort fand ich noch einige Patrioten, die das letzte Unglück überlebt hatten, und Marchessault, Nelson, Cartier, Vincent Hodge, Farran und Clerc hatten sich diesen angeschlossen. Sie rüsteten sich zur Abwehr. Die Bevölkerung wünschte nichts mehr, als sie unterstützen zu können. Gestern aber hörten wir, daß Colborne von Sorel eine starke Abtheilung Reguläre und Freiwillige zur Plünderung und Niederbrennung der Flecken abgesendet habe. Diese Colonne traf im Laufe des Abends ein. Vergebens wollten wir ihr Widerstand entgegensetzen. Sie drangen in St. Denis, das die Bewohner verlassen mußten, ein. Mehr als fünfzig Häuser wurden durch die Flammen verzehrt. Dann sahen sich auch meine Kameraden genöthigt zu entfliehen, um nicht von den Henkern hingeschlachtet zu werden: sie wichen nach der Grenze hin aus, wo Papineau und Andere sie in Plattsburg, an der Rouse's-Spitze oder in Swanton erwarteten. Jetzt überschwemmen nun die Soldaten Whiterall's und Gore's die Grafschaften im Süden des St. Lorenzo, brennend und sengend, bringen Frauen und Kinder an den Bettelstab und ersparen ihnen auch nicht die schlimmsten Gewaltthätigkeiten, die abscheulichste Schmach, während man ihre Spuren an dem Scheine der Feuersbrünste verfolgen könnte!... Das... das ist inzwischen geschehen, Herr de Vaudreuil, und doch verzweifle ich noch nicht, doch will ich an unserer Sache nicht verzweifeln!«

Ein dumpfes, schmerzliches Schweigen folgte diesen Aussagen Johanns. Herr de Vaudreuil war in die Kissen zurückgesunken.

Bridget nahm das Wort, indem sie, den Blick fest auf ihren Sohn gerichtet, diesem die Frage stellte:[288]

»Warum bist Du hier? Warum nicht da, wo Deine Gefährten verweilen?

– Weil ich Ursache habe, zu fürchten, daß die Königlichen auch nach St. Charles kommen, hier Haussuchung vornehmen, und daß die Flammen verzehren werden, was bis jetzt noch übrig blieb von...

– Und kannst Du das abwenden, Johann?

– Nein, Mutter!

– Nun also, so wiederhole ich die Frage, warum bist Du hier?[289]

– Weil ich habe sehen wollen, ob es nicht thunlich wäre, daß Herr de Vaudreuil das geschlossene Haus, welches ebensowenig wie die anderen Wohnstätten verschont werden dürfte, nicht verlassen könnte.

– Das ist nicht möglich, erklärte Bridget.

– So bleibe auch ich hier und werde mich tödten lassen, während ich Alle vertheidige...

– Für das Vaterland dürfen Sie in den Tod gehen, nicht aber für uns! sagte Herr de Vaudreuil. Ihr Platz ist da, wo die Patrioten sind...


Die Einwohner hatten ihre Häuser verlassen. (S. 285.)
Die Einwohner hatten ihre Häuser verlassen. (S. 285.)

– Da, wo auch der Ihrige ist, Herr de Vaudreuil! entgegnete Johann. Hören Sie mich an. Sie können nicht in diesem Hause wohnen, wo Sie bald entdeckt werden müßten. Heute Abend, als ich etwa noch eine halbe Meile zurückzulegen hatte, bin ich von einer großen Abtheilung Polizeibeamter verfolgt worden. Es steht außer Zweifel, daß die Männer mich erkannt haben, da Sie ja auch dieselben haben meinen Namen aussprechen hören. Man wird den ganzen Ort durchsuchen, und selbst wenn ich nicht mehr hier wäre, wird das geschlossene Haus dennoch von oben bis unten durchsucht werden. Sie, Herr de Vaudreuil, werden die Beamten finden, Sie werden von denselben weggeschafft werden und auf Gnade dürfen Sie dann nicht hoffen!

– Was thut das, Johann, erwiderte Herr de Vaudreuil, was thut das, wenn Sie nur wieder zu Ihren Waffengefährten an der Grenze gelangt sind?

– Bitte, hören Sie mich ruhig an! fuhr Johann fort. Alles, was für unsere Sache irgend geschehen kann, werd' ich gewiß thun. Jetzt handelt es sich aber um Sie, Herr de Vaudreuil. Vielleicht ist es doch nicht unmöglich, daß Sie die Vereinigten Staaten erreichen. Schon außerhalb der Grafschaft St. Hyazinthe werden Sie in Sicherheit sein, und dann haben Sie nur noch wenige Meilen bis zum amerikanischen Gebiete. Zugegeben, daß Ihnen jetzt die Kräfte fehlen, sich dahin zu schleppen, selbst wenn ich Sie so gut wie möglich unterstütze. Doch in einem Wagen, ausgestreckt auf einem Strohlager, wie hier in Ihrem Bette – sollten Sie die kleine Reise auch so nicht aushalten? Nun wohl, meine Mutter mag einen solchen Wagen unter irgend einem Vorwande besorgen – vielleicht unter dem Vorgeben, nachdem so viele Andere entflohen, St. Charles ebenfalls verlassen zu wollen – mit einem Worte, sie mag es auf jeden Fall versuchen. Nächste Nacht verlassen wir dann, Ihre Tochter und Sie, meine Mutter und ich, diese Wohnung und wir können bequem außer[290] Schußweite sein, ehe die Mordgesellen Gore's aus St. Charles dasselbe wie aus St. Denis machen – einen traurigen Hausen von Ruinen!«

Der Vorschlag Johanns verdiente gewiß erwogen zu werden. Wenige Meilen südlich von der Grafschaft würde Herr de Vaudreuil die Sicherheit finden, welche ihm das geschlossene Haus nicht zu bieten vermochte, sobald die königlichen Truppen den Flecken besetzten und bei den Bewohnern Haussuchungen vornahmen. Es war nur zu gewiß, daß die Leute Rip's von Johanns Anwesenheit hier erfahren hatten. War er ihnen bisher entgangen, so mußten sie wohl annehmen, daß er sich in irgend einem Hause von St. Charles versteckt halte. Und sollten sie nicht Alles aufbieten, um ihn zu finden? Die Lage gestaltete sich demnach sehr bedrohlich. Auf jeden Fall erschien es unumgänglich, daß nicht allein Johann, sondern auch Herr de Vaudreuil und dessen Tochter das geschlossene Haus rechtzeitig verlassen hatten.

Die Flucht erschien nicht unausführbar, im Falle es Bridget gelang, einen Wagen zu erhalten, und Herr de Vaudreuil im Stande war, eine Fahrt von einigen Stunden zu ertragen. Selbst angenommen, daß er zu schwach wäre, bis zur Grenze zu kommen, so würde er doch in jeder Farm der Grafschaft St. Hyazinthe Aufnahme finden.

Kurz, die Nothwendigkeit, St. Charles zu verlassen, ergab sich daraus, daß die Polizei Nachsuchungen vornahm.

Johann hatte keine Mühe, Herrn de Vaudreuil und seine Tochter zu überzeugen. Auch Bridget billigte den Plan. Leider konnte man nicht daran denken, dieselbe Nacht aufzubrechen. Erst mit Tagesanbruch sollte Bridget ein Gefährt zu erlangen suchen, und im Laufe der nächsten Nacht der Vorschlag zur Ausführung kommen.

Der Tag brach an. Bridget hielt es für besser, ganz offen zu Werke zu gehen. Niemand würde es ja auffallend finden, daß sie sich entschlossen hätte, den Schauplatz des Aufstandes zu verlassen. Schon war eine große Anzahl Einwohner entflohen, und ein gleicher Entschluß ihrerseits konnte Niemand verwundern.

Zuerst war es ihre Absicht gewesen, Herrn de Vaudreuil, Clary und Johann nicht zu begleiten. Ihr Sohn gab ihr aber zu erwägen, daß, wenn sie ihre Abreise einmal angemeldet, ihre Nachbarn, sobald diese sie noch immer sähen, auf die Vermuthung kommen müßten, daß der entliehene Wagen nur einem im geschlossenen Hause versteckt gewesenen Patrioten gedient haben werde,[291] daß auch die Polizeibeamten das schließlich hören würden, und daß sie, im eigenen Interesse wie in dem des Herrn de Vaudreuil, keine Veranlassung geben dürfe, eine Untersuchung hierüber anzustellen.

Bridget mußte sich diesen drei schwerwiegenden Gründen fügen. Wenn die unruhige Zeit vorüber war, wollte sie dann nach St. Charles zurückkehren und hoffte ihr trauriges Leben im Innern des Hauses, das sie niemals hatte verlassen wollen, einst zu beendigen.

Nach endgiltiger Lösung dieser Fragen beschäftigte sich Bridget mit der Beschaffung eines Transportmittels. Wäre es auch nur ein leichter Planwagen, so mußte ein solcher hinreichen, bis zur Grafschaft Laprairie zu gelangen, welche die königlichen Truppen vorläufig noch nicht bedrohten. Am frühen Morgen machte sich dann Bridget schon auf. Sie war zur Miethung, oder vielmehr zur Beschaffung eines Wagens hinlänglich mit Geld versehen, welches Herr de Vaudreuil zu diesem Zwecke gegeben hatte.

Während ihrer Abwesenheit entfernten sich Johann und Clary nicht aus dem Zimmer des Herrn de Vaudreuil. Dieser hatte seine ganze Energie wieder gewonnen.

Gegenüber der Anstrengung, die es ihm kosten mußte, die Fahrt auszuhalten, fühlte er, daß es ihm an physischer Kraft nicht fehlen werde. Schon hatte eine Art Reaction seinen Zustand merkbar verändert. Trotz noch andauernder großer Schwäche, war er bereit, sich zu erheben, bereit, vom Bette aus sich auf den Weg zu begeben, wenn der Augenblick kam, das geschlossene Haus zu verlassen. Er stand für sich ein – wenigstens für einige Stunden. Das Weitere blieb dann Gott anheimgestellt. Doch kümmerte er sich um nichts weiter, hatte er nur seine Kampfgenossen wiedergesehen, seine Tochter in Sicherheit bringen können, und wußte er nur, daß sich Johann inmitten der zu einer letzten Anstrengung entschlossenen französischen Canadier befand.

Ja, der Aufbruch drängte. Was wäre aus Fräulein de Vaudreuil im geschlossenen Hause geworden, wenn ihr Vater seinen Wunden erlag, wenn sie dann allein stand in der Welt und nur diese bejahrte Frau zur Stütze hatte? An der Grenze, in Swanton oder in Plattsburg, mußte er seine Waffenbrüder, seine vertrauten Freunde finden. Und unter diesen war besonders Einer, dessen Gefühle Herr de Vaudreuil billigte. Er wußte, daß Vincent Hodge seine Clary liebte, und Clary würde sich nicht weigern, die Gattin Desjenigen zu werden, der sein Leben gewagt hatte, sie zu retten. Welchem edelmüthigeren, welchem[292] aufrichtigeren Patrioten hätte sie wohl ihre Zukunft anvertrauen können? Er war ihrer ebenso würdig, wie sie seiner.

Mit Gottes Hilfe hoffte Herr de Vaudreuil die Kraft zu haben, sein Ziel zu erreichen. Er dachte nicht zu erliegen, ehe er nicht den Fuß auf amerikanische Erde gesetzt, wo die Ueberlebenden der Reformerpartei den Augenblick zur Wiederergreifung der Waffen erwarteten.

Das waren die Gedanken, welche Herrn de Vaudreuil lebhaft erregten, während Johann und Clary, an seinem Bette sitzend, nur wenige Worte wechselten.

Von Zeit zu Zeit erhob sich Johann und trat an das Fenster, welches nach der Straße hinauszu lag und dessen Läden geschlossen waren. Dort lauschte er, ob sich etwa ein Geräusch auf der Straße in der Nähe des Fleckens vernehmen ließe.

Nach zweistündiger Abwesenheit kehrte Bridget nach dem geschlossenen Hause zurück. Sie hatte sich, um einen Wagen und ein Pferd zu erhalten, an mehrere Leute wenden müssen. Wie verabredet, verhehlte sie dabei kaum ihre Absicht, St. Charles zu verlassen – worüber sich auch Niemand erstaunt zeigte. Der Besitzer einer benachbarten Farm, Luc Archambaut, hatte eingewilligt, ihr für guten Preis einen leichten Wagen zu überlassen, der bespannt und zum Abfahren fertig, gegen neun Uhr Abends nach dem geschlossenen Hause gebracht werden sollte.

Herr de Vaudreuil empfand eine wirkliche Erleichterung, als er hörte, daß Bridget Erfolg gehabt hatte.

»Um neun Uhr fahren wir ab, sagte er, und ich stehe auf, um selbst Platz zu nehmen...

– O nein, Herr de Vaudreuil! unterbrach ihn Johann. Sie dürfen sich nicht unnütz anstrengen. Ich werde Sie nach dem Wagen tragen, in dem wir ein weiches Strohlager zurecht machen und eine Decke aus Ihrem Bette darüber breiten. Dann fahren wir nur langsam, um alle Stöße zu vermeiden, und so werden Sie hoffentlich die Reise aushalten. Da die Luft jedoch ziemlich kalt ist, werden Sie die Vorsicht beachten, sich gut zuzudecken. Was die Besorgniß angeht, daß wir auf der Straße ein unangenehmes Zusammentreffen haben könnten... Du hast nichts Neues gehört, Mutter?

– Nein, antwortete Bridget, doch erwartet man jeden Tag eine zweite Heimsuchung durch die Königlichen.[293]

– Und die Polizisten, die mich bis St. Charles verfolgten?...

– Von denen hab' ich keinen gesehen, und wahrscheinlich folgen sie längst einer falschen Fährte.

– Sie können aber zurückkehren, meinte Clary.

– Gewiß, und darum müssen wir wegfahren, sobald der Wagen vor der Thür steht, fiel Herr de Vaudreuil ein.

– Um neun Uhr, sagte Bridget.

– Bist Du des Mannes, der ihn Dir verkauft, auch sicher, Mutter?

– Ja, es ist ein ehrbarer Farmer, und was er zu thun versprochen, das wird er auch halten!«

Inzwischen wollte Herr de Vaudreuil sich ein wenig stärken. Mit Hilfe Clarys hatte Bridget sehr bald das einfache Frühstück hergerichtet, welches gemeinsam verzehrt wurde.

Die Stunden verliefen ohne Zwischenfall. Keine Störung von außen.

Von Zeit zu Zeit öffnete Bridget ein wenig die Thür und warf einen schnellen Blick nach rechts und links. Jetzt herrschte eine lebhafte Kälte. Der gleichmäßig graue Himmel ließ auf vollkommene Ruhe der Atmosphäre schließen. Wäre freilich ein Südwestwind aufgesprungen und hätten sich die Dünste der Luft in Schneeform niedergeschlagen, so wäre die Fortschaffung des Herrn de Vaudreuil sehr erschwert worden – wenigstens bis zur Grenze der Grafschaft.

Trotzdem gestalteten sich alle Aussichten so, daß die Fahrt in erträglichen Verhältnissen zu verlaufen versprach, als gegen drei Uhr Nachmittags in St. Charles ein unerwarteter Zwischenfall eintrat. Von ferne her hörte man in der Richtung auf den Flecken zu scharfe Trompetentöne schallen.

Johann öffnete die Thür und horchte... Er konnte eine Bewegung, welche seinen Unmuth verrieth, nicht unterdrücken.

»Trompeten! rief er. Ohne Zweifel, ein Trupp Soldaten, der sich auf St. Charles zu bewegt?

– Was sollen wir thun? fragte Clary.

– Warten, antwortete Bridget. Vielleicht ziehen jene Soldaten nur durch den Flecken.«

Johann schüttelte den Kopf.

Da Herr de Vaudreuil unmöglich am lichten Tage fortgeschafft werden konnte, mußte man wohl warten, wie Bridget gesagt, wenn sich Johann nicht etwa entschlösse, doch allein zu entfliehen...[294]

Wenn er das geschlossene Haus augenblicklich verließ und einen Weg durch die neben der Straße sich hinziehenden Wälder einschlug, konnte es ihm wohl gelingen, in Sicherheit zu kommen, ehe die Königlichen St. Charles besetzt hatten. Damit hätte er aber Herrn und Fräulein de Vaudreuil gerade zur Zeit der schlimmsten Gefahr im Stiche gelassen, und daran dachte Johann ganz und gar nicht. Doch wie konnte er sie vertheidigen, wenn ihr Versteck aufgefunden wurde?

Uebrigens sollte die Besetzung der Ortschaft sehr schnell vor sich gehen. Es war eine Truppenabtheilung Whiterall's mit dem Befehl, die Patrioten der Grafschaft zu verfolgen, welche längs des Richelieu hingezogen war und noch einmal ein Lager bei St. Charles beziehen sollte.

Im geschlossenen Hause hörte man schon den Klang der Trompeten, der näher herankam.

Endlich schwieg derselbe. Die Truppen waren am Ende der Ortschaft angelangt.

Da sagte Bridget:

»Noch ist nicht Alles verloren. Die Straße auf der Seite nach Laprairie ist noch offen und kann das vielleicht auch noch sein, wenn die Nacht kommt. Wir dürfen unsere Pläne nicht ändern. Mein Haus gehört nicht zu denjenigen, welches die Plünderer besonders anlocken wird. Es liegt vereinzelt und ihm bleibt vielleicht deren Heimsuchung erspart!«

Man konnte das wohl hoffen.

Es fehlte ja nicht an anderen Wohnungen, wo den Soldaten Sir John Colborne's offenbar eine reichere Beute winkte. Jetzt in den ersten Tagen des December mußte es auch bald Nacht werden, und damit bot sich vielleicht die Möglichkeit, doch noch, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, das Weite suchen zu können.

Die Vorbereitungen zur Abfahrt wurden also nicht unterbrochen. Galt es doch, sofort fertig zu sein, wenn der Wagen vor der Thür halten würde. War dann die Straße nur eine Stunde lang und auf die Strecke von drei Meilen frei, so gedachten die Flüchtlinge, im Falle der Zustand des Herrn de Vaudreuil das erforderte, in einer der Farmen der Grafschaft Unterkunft zu suchen.


Die Truppenabtheilung Whiterall's, das Lager bei St. Charles beziehend. (S. 295.)
Die Truppenabtheilung Whiterall's, das Lager bei St. Charles beziehend. (S. 295.)

Die Nacht kam ohne weitere Störung. Einige Abtheilungen Freiwilliger, die bis zum unteren Theil der Straße hinabgegangen waren, kehrten jetzt zurück. Das geschlossene Haus schien ihre Blicke nicht auf sich zu lenken. Die Hauptmacht[295] der Colonne hatte sich in der Umgebung des Lagers von St. Charles festgesetzt. Dort herrschte ein wahrhaft betäubender Lärm, welcher für die Sicherheit der Bewohner nicht eben Gutes ahnen ließ.

Gegen sechs Uhr wünschte Bridget, daß Clary und Johann ein kleines Mahl verzehrten, das sie bereitet hatte. Herr de Vaudreuil aß kaum einen Bissen. Aufs äußerste erregt durch die Gefahr der Lage und durch die Nothwendigkeit, ihr Stand zu halten, erwartete er ungeduldig den Augenblick, sich auf den Weg zu machen.[296]

Kurz vor sieben Uhr klopfte es leise an die Hausthür.

War das der Farmer, der den Wagen noch vor der verabredeten Zeit herbrachte? Jedenfalls war es keine Feindeshand, die mit solcher Vorsicht anklopfte.

Johann und Clary zogen sich in das Zimmer des Herrn de Vaudreuil, dessen Thür sie halb angelehnt ließen, zurück.

Bridget schritt durch die Hausflur und öffnete, nachdem sie die Stimme Luc Archambaut's erkannt hatte.[297]

Der ehrsame Farmer kam, um Frau Bridget mitzutheilen, daß es ihm unmöglich sei, sein Versprechen einzulösen, und brachte das Geld für den Wagen wie der, den er nicht liefern konnte.

Seine Farm war nämlich ebenso wie die benachbarten Farmen von Soldaten besetzt worden.


Durch das platte Land streiften Einzelabtheilungen Cavallerie. (S. 299.)
Durch das platte Land streiften Einzelabtheilungen Cavallerie. (S. 299.)

Der Flecken selbst war eingeschlossen, und selbst wenn der Wagen Frau Bridget zur Verfügung gestanden hätte, würde sie davon haben keinen Gebrauch machen können.

Man mußte wohl oder übel warten, bis St. Charles endgiltig geräumt war.

Johann und Clary hörten von dem Zimmer aus, in dem sie regungslos stillstanden, was Luc Archambaut sagte; Herr de Vaudreuil natürlich ebenfalls.

Der Farmer setzte noch hinzu, daß Frau Bridget für das geschlossene Haus nichts zu fürchten habe, und daß die Rothröcke nur nach St. Charles zurückgekehrt seien, um die Polizei bei den vorzunehmenden Nachforschungen in allen Grundstücken des Ortes zu unterstützen... Und weshalb?... Weil das Gerücht ging, Johann ohne Namen habe sich hier im Flecken verborgen, wo nun alle Mittel daran gesetzt werden sollten, ihn zu entdecken.

Als der Farmer den Namen ihres Sohnes aussprach, unterdrückte Bridget jede Bewegung, die sie hätte verrathen können.

Luc Archambaut zog sich dann zurück, und Bridget sagte, als sie das Zimmer betrat:

»Entfliehe, Johann! Flieh' auf der Stelle!

– Es muß sein, rief Herr de Vaudreuil.

– Fliehen ohne Sie? erwiderte Johann.

– Sie haben nicht das Recht, sich für uns zu opfern, erklärte Clary. Das Vaterland geht vor...

– Und ich gehe doch nicht von hier! sagte Johann. Ich werde Sie nicht den Gewaltthätigkeiten und Rohheiten dieser Schurken ausgesetzt lassen!...

– Und was könnten Sie thun, Johann?

– Das weiß ich nicht, aber ich weiche nicht von hier!«

Der Entschluß Johanns schien so unerschütterlich, daß Herr de Vaudreuil ihn gar nicht weiter zu bekämpfen sachte.

Es wird sich übrigens zeigen, daß eine Flucht unter den jetzigen Umständen auch nur wenig Aussicht auf Gelingen gehabt hätte. Der ganze Flecken war ja nach der Aussage Luc Archambaut's eingeschlossen, die Landstraße von[298] Soldaten überwacht, und durch das platte Land streiften Einzelabtheilungen Cavallerie.

Da Alle auf Johann aufmerksam gemacht waren, hätte dieser ihnen wohl kaum entgehen können, und so erschien es vielleicht rathsamer für ihn, im geschlossenen Hause zu bleiben.

Diese Erwägungen waren es jedoch keineswegs, welche seinen Entschluß bestimmt hatten, doch war's ihm unmöglich, seine Mutter, sowie Herrn und Fräulein de Vaudreuil zu verlassen.

Hatte man sich hierüber geeinigt, so entstand die Frage, ob die drei Zimmer des geschlossenen Hauses oder der darüber gelegene Boden wohl ein verläßlicheres Versteck enthalte, in dem sich die zwei meist gefährdeten Bewohner den Nachforschungen der Beamten zu entziehen hoffen durften.

Johann hatte nicht Zeit genug, sich hiervon zu unterrichten.

Fast gleichzeitig erzitterte die Thür unter gewaltsamen Schlägen.

Der kleine Vorhof war schon von einem Dutzend Polizisten besetzt.

»Aufmachen! rief man von außen, während die Schläge sich verdoppelten. Aufmachen, oder wir sprengen die Thür...«

Johann und Clary schlossen eiligst das Zimmer des Herrn de Vaudreuil und begaben sich in dasjenige Bridgets, von wo aus sie Alles besser hören konnten.

In dem Augenblicke, wo Bridget durch die Hausflur nach vorn ging flog die Thür des geschlossenen Hauses in Stücke.

Ein heller Schein, von den Fackeln, welche die Polizisten trugen, herrührend, drang in den schmalen Gang.

»Was wollen Sie hier? fragte Bridget einen der Männer.

– Ihr Haus durchsuchen, antwortete dieser. Hat sich Johann ohne Namen hierher geflüchtet, so verhaften wir erst diesen und dann setzen wir Ihnen den rothen Hahn aufs Dach!

– Johann ohne Namen ist nicht hier, erklärte Bridget ruhigen Tones, und ich weiß auch nicht...« Plötzlich drängte sich der Führer des Polizeitrupps schnell nach der alten Frau vor.

Es war Rip – dessen Stimme ihr schon auffiel, als Johann eben ins geschlossene Haus getreten – Rip, der ihren Gatten einst zu jenem abscheulichen Verbrechen zu verleiten gewußt hatte.

Bridget erkannte ihn höchst bestürzt.[299]

»Ah, sieh' da! rief Rip erstaunt, das ist ja Frau Bridget... Das ist die Gattin jenes braven Simon Morgaz!«

Als er den Namen seines Vaters nennen hörte, wich Johann bis tief ms Zimmer zurück.

Bridget, welche diese entsetzliche Erinnerung wie ein Donnerschlag traf, fand nicht die Kraft zu einer Antwort.

»Wahrhaftig!... Frau Morgaz!... wiederholte Rip. In der That, ich hätte geglaubt, daß Sie nicht mehr unter den Lebenden wandelten!... Wer hätte auch erwartet, Sie hier und nach vollen zwölf Jahren wiederzusehen!«

Bridget schwieg noch immer.

»Vorwärts, Ihr Leute, fügte Rip, sich an seine Leute wendend, hinzu, hier haben wir nichts zu thun! – Wackre Frau, die Bridget Morgaz!... Sie wird keinen Rebellen verbergen!... Kommt, wir wollen unsere Nachsuchungen an anderer Stelle fortsetzen! Da Johann ohne Namen in St. Charles ist, müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir ihn nicht fänden!«

Rip, dem seine Beamten folgten, war bald nach der Straße hinauf verschwunden.

Das Geheimniß Bridgets und ihres Sohnes war aber jetzt enthüllt. Hatte auch Herr de Vaudreuil nichts hören können, so konnte Clary doch kein Wort entgangen sein.

Johann ohne Namen war der Sohn von Simon Morgaz!

In einer ersten Erregung des Entsetzens eilte Clary, aus dem Zimmer Bridgets entfliehend, nach dem ihres Vaters.

Johann und Bridget waren allein.

Nun wußte Clary Alles – Alles!

Bei dem Gedanken, sich ihr und Herrn de Vaudreuil gegenüber zu befinden, dem Freunde jener Patrioten, denen der Verrath Simon Morgaz' den Kopf gekostet hatte, fürchtete Johann den Verstand zu verlieren.

»Mutter, liebste Mutter! rief er; keinen Augenblick bleib' ich mehr hier!... Herr und Fräulein de Vaudreuil bedürfen meiner nicht mehr, um sie zu vertheidigen!... Sie werden – im Hause eines Morgaz in Sicherheit sein!... Leb' wohl!...

– Mein Sohn!... Mein Sohn!... murmelte Bridget... Ach, Du Unglücklicher! Glaubst Du, ich hätte Dich nicht durchschaut?... Du, der Sohn von... Du liebst Clary de Vaudreuil![300]

– Ja, Mutter, was soll ich es leugnen, doch eher würd' ich sterben, eh' ich ihr eine Silbe davon sagte!«

Und Johann stürmte aus dem geschlossenen Hause fort.

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 287-301.
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