Viertes Capitel.
Die folgenden acht Tage.

[274] Das geschlossene Haus bot also jetzt Herrn und Fräulein de Vaudreuil ein, wenn auch etwas unsicheres Obdach. Beide befanden sich im Schutze der Familie ohne Namen, bei der Gattin und dem Sohne des Verräthers. Wenn sie noch nicht wußten, welche Bande die bejahrte Frau mit Simon Morgaz verknüpften und ebenso diesen jungen Mann, welche Beide ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihnen Unterkommen zu gewähren, so wußten das doch Bridget und Johann nur zu gut, und vor Allem fürchteten sie, daß auch ihre Schutzbefohlenen es durch einen unglücklichen Zufall erfahren könnten.[274]

Gegen Morgen dieses Tages – des 26. September – kam Herr de Vaudreuil wieder ein wenig zum Bewußtsein. Die Stimme seiner Tochter hatte ihn aus dem Todesschlafe erweckt. Er schlug die Augen auf.

»Clary!... murmelte er.

– Mein Vater!... Ich bin es! antwortete Clary. Ich bin hier bei Dir!... Ich werde Dich nicht mehr verlassen.«

Johann stand im Halbdunkel am Fußende des Lagers, als bemühte er sich, ungesehen zu bleiben. Der Blick des Verwundeten fiel auf ihn und seinen Lippen entschlüpften die Worte:

»Johann!... Ach... ich entsinne mich!...«

Dann bemerkte er Bridget, welche sich über seinen Pfühl niederbeugte, und seine Miene schien zu fragen, wer diese Frau sei.

»Es ist meine Mutter, sagte Johann. Sie sind im Hause meiner Mutter, Herr de Vaudreuil... An ihrer Pflege und der Ihrer Tochter wird es ihnen nicht fehlen...

– Ihrer Pflege!... wiederholte Herr de Vaudreuil mit schwacher Stimme... Ja, ja, jetzt kommt mir die Erinnerung wieder!... Verwundet!... Besiegt!... Meine Gefährten entflohen... todt... wer weiß es?... Ach, mein armes Vaterland... nun drückt Dich ein schlimmeres Joch als je zuvor!«

Herr de Vaudreuil ließ den Kopf herabsinken und seine Augen schlossen sich wieder.

»Mein liebster, liebster Vater!« rief Clary niedersinkend.

Sie hatte seine Hand gefaßt und fühlte einen leichten Druck den ihrigen erwidern.

Dann nahm Johann das Wort und sagte:

»Es wäre recht nöthig, einen Arzt hierher zu holen; doch wo wollen wir einen finden und an wen uns in dem von den Königlichen besetzten Lande wenden?... Nach Montreal?... Ja, das böte noch den einzigen Ausweg. Nennen Sie mir den Arzt, zu dem Sie dort besonderes Vertrauen haben, und ich werde nach Montreal gehen...

– Nach Montreal?... fiel Bridget ein.

– Es muß sein, Mutter! Herrn de Vaudreuil's Leben gilt mehr als das meinige!

– O, für Dich fürchte ich ja nichts, Johann. Auf dem Wege nach Montreal kannst Du aber beobachtet werden, und wenn dann der Verdacht aufstiege, daß Herr de Vaudreuil hier ist, so wäre er verloren.[275]

– Verloren! murmelte Clary.

– Er ist es nicht weniger, wenn er keine sachverständige Hilfe bekommt, antwortete Johann.

– Ist seine Verwundung eine tödtliche, meinte Bridget, so wird ihn leider Niemand heilen. Ist sie es nicht, so wird Gott geben, daß wir, seine Tochter und ich, ihn retten. Seine Wunde rührt von einem Säbelhiebe her, der nur die Fleischtheile trennte. Herr de Vaudreuil ist gewiß nur durch den Blutverlust geschwächt. Es wird, hoffe ich, genügen, die Wunde bedeckt zu halten und Compressen mit kaltem Wasser aufzulegen, um eine Vernarbung herbeizuführen, die wir schon nach und nach erzielen werden. Glaube mir, mein Sohn, Herr de Vaudreuil ist hier in verhältnißmäßiger Sicherheit, und, soweit irgend ausführbar, ist es nothwendig, daß Niemand von seinem Versteck etwas erfährt.«

Bridget sprach mit einer so lebendigen Ueberzeugung, daß diese als erste Wirkung in Clary wieder einen schwachen Hoffnungsstrahl wachrief. Vor Allem galt es entschieden, Niemand in das geschlossene Haus einzuführen. Das Leben Johanns ohne Namen hing davon ab, und nicht minder das des Herrn de Vaudreuil, denn wenn etwas von Beiden verlautete, konnte wohl Johann durch die Wälder der Grafschaft entfliehen und die amerikanische Grenze erreichen, nicht aber der aus Bett gefesselte Kranke.

Uebrigens schien der Zustand des Verwundeten das Vertrauen, welches Bridget in dessen Tochter erweckt hatte, vom ersten Tage an zu rechtfertigen. Seit die Blutung gestillt war, blieb Herr de Vaudreuil, wenn auch immer sehr schwach, doch im Besitze des Bewußtseins. Was ihm vor Allem Noth that, war Ruhe des Gemüthes – diese fand er aber jetzt, da seine Tochter bei ihm weilte, neben der Ruhe des Körpers, und es schien, als ob ihm diese im geschlossenen Hause gesichert wäre.

In der That sollten die Soldaten Whiterall's nicht zögern, St. Charles zu verlassen, um die Grafschaft zu durchstreifen, und der Flecken sollte dann von ihrer Gegenwart befreit sein.

Bridget richtete sich nun ein, um ihren Gästen in der beschränkten Wohnung mehr Bequemlichkeit zu bieten. Herr de Vaudreuil nahm das für Joann und Johann bestimmte Zimmer ein, wenn diese eine Nacht im geschlossenen Hause zubrachten. Das andere Zimmer, das Bridgets, wurde Clary eingeräumt. Beide wachten abwechselnd am Bett des Kranken.[276]

Was Johann angeht, so brauchte man sich weder um diesen noch um seinen Bruder Sorge zu machen für den Fall, daß in Folge der letzten Ereignisse der Abbé Joann zufällig bei seiner Mutter zum Besuche eintreffen sollte; für diese Beiden genügte im Nothfalle ein Winkel des geschlossenen Hauses.

In Johanns Absicht lag es übrigens gar nicht, in St. Charles länger zu verweilen. So bald er sich über den Zustand des Herrn de Vaudreuil beruhigt, und mit diesem die von ihm vorausgesehenen Ereignisse und den weiteren Verlauf ihrer Bestrebungen besprochen, wollte er sich aufs neue seiner Aufgabe widmen. Die Niederlage bei St. Charles konnte ja noch nicht die völlige Vernichtung der Patrioten herbeigeführt haben; ja, Johann ohne Namen glaubte sie schon zur Wiedervergeltung mit sich fortreißen zu können.

Der 26. verlief in Ruhe. Bridget konnte sogar, ohne Verdacht zu erwecken, das geschlossene Haus verlassen, um die nöthigsten Lebensbedürfnisse und ein labendes Getränk für den Kranken einzukaufen. Seit stattgefundener Räumung der Stadt hatten sich auch verschiedene Häuser wieder aufgethan. Doch welche Zerstörung, welche Ruinen, vorzüglich im oberen, von der Feuersbrust ergriffenen Stadttheile nach der Seite des Lagers zu, wo die Vertheidiger sich wahrhaft heldenmüthig geschlagen hatten! Etwa Hundert von den Patrioten hatten bei jenem entsetzlichen Kampfe ihr Blut vergossen und die meisten derselben waren entweder todt oder doch tödtlich verletzt. Außerdem waren gegen vierzig Gefangene gemacht worden. Es war ein Jammer mit anzusehen, wie die zügellose Soldateska, welche deren Befehlshaber vergeblich zu zügeln sachte, mit den Aermsten umging.

Zum Glück – diese Nachricht brachte Bridget nach dem geschlossenen Hause mit – rüstete sich die Colonne zum Abmarsch.

Im Laufe dieses Tages fand Herr de Vaudreuil, dessen Zustand sich in keiner Weise verschlimmerte, einige Standen erquickender Ruhe und Schlaf. Jetzt vernahm man von ihm keine Delirien und nicht jene unzusammenhängenden Worte mehr, mit welchen er früher nach seiner Tochter verlangte.

Er wußte es vollständig, daß Clary an seiner Seite und geschützt war gegen alle Gefahren, welche ihr mit der Rückkehr der Loyalisten nach St. Denis gedroht hätten.

Während er schlief, konnte Johann dem jungen Mädchen die Ereignisse der jüngsten Zeit ausführlich schildern. Sie erfuhr nun Alles »was sich seit dem Aufbruche ihres Vaters aus dem Hause des Richters Froment zugetragen hatte, um sich seinen Waffenbrüdern in St. Charles anzuschließen; wie die Patrioten[277] bis zum letzten Mann gekämpft; unter welchen Umständen endlich Herr de Vaudreuil aus dem Gewühle fort und nach dem geschlossenen Hause geschafft worden war.

Clary lauschte bangen Herzens und mit feurigen Augen seiner Erzählung. Es schien ihr, als ob jenes Mißgeschick Johann und sie selbst am meisten anging. Beide empfanden ja, wie eng sie aneinander gefesselt waren.

Wiederholt erhob sich Johann tief erregt, da er vor sich selbst erschrak und die Vertraulichkeit meiden wollte, welche die unglückliche Lage noch gefährlicher als sonst erscheinen ließ. Nach den wenigen Tagen des Zusammenseins mit Clary in der Villa Montcalm hatte er darauf gerechnet, bei den sich vorbereitenden Ereignissen wieder ganz von seiner Aufgabe in Anspruch genommen zu werden. Gerade diese Ereignisse aber waren es, welche das junge Mädchen in das Haus seiner Mutter geführt hatten, während er gleichzeitig gezwungen war, ebenda Schutz zu suchen.

Bridget hatte die Natur der Gefühle ihres Sohnes bald genug erkannt und sie erschrak darüber nicht weniger als Johann selbst. Er!... Der Sohn des Simon Morgaz!... Die energische Frau ließ von ihrer Angst jedoch nichts merken, so schwere Leiden sie in der kommenden Zeit auch voraussah.

Am nächsten Tage wurde Herr de Vaudreuil von dem Abzuge der Truppen Whiterall's unterrichtet. Da er sich weniger schwach fühlte, wollte er Johann über die nächsten Folgen der Niederlage bei St. Charles fragen, vorzüglich um zu erfahren, was aus seinen Genossen, aus Vincent Hodge, Farran, Clerc, Sebastian Gramont, dem Farmer Harcher und dessen fünf Söhnen, die Alle an jenem unseligen 25. so muthig gekämpft hatten, nachher geworden sei.

Bridget, Clary und Johann hatten sich neben das Bett des Herrn de Vaudreuil gesetzt.

Auf den von ihm ausgesprochenen Wunsch antwortete Johann mit der Bitte, sich nicht durch zu viele Fragen anzustrengen:

»Ich werde Ihnen mittheilen, was ich von Ihren Freunden weiß, sagte er. Nachdem sie bis zur letzten Stunde gekämpft, wurden sie schließlich nur durch die Uebermacht niedergedrückt. Einer meiner braven Gefährten aus Chipogan, der arme Remy Harcher, fiel schon bei Beginn des Gefechts, ohne daß ich ihm zu Hilfe, eilen konnte. Später mußten Michel und Jacques in Folge erhaltener Verwundungen den Kampfplatz verlassen und wurden von ihrem Vater und den beiden anderen Brüdern fortgetragen. Ich weiß nicht, wohin sie entflohen[278] sind, als jeder Widerstand unmöglich geworden war, hoffe jedoch, daß sie die amerikanische Grenze erreicht haben. Der Abgeordnete Gramont fiel in Gefangenschaft, dürfte sich also in einem Gefängnisse Montreals befinden, und wir wissen, welches Los die Richter Lord Gosford's ihm bestimmt haben werden. Die Herren Farran und Clerc haben wahrscheinlich der Verfolgung der königlichen Reiterei entgehen können, doch ist mir unbekannt, ob sie noch heil und gesund sind. Von Vincent Hodge vermag ich nicht zu sagen...

– Vincent Hodge ist dem Gemetzel glücklich entgangen, fiel da Clary ein. Im Laufe der Nacht ist er in der Umgebung von St. Charles umhergeirrt, um Dich, lieber Vater, vielleicht zu finden. Bridget und ich sind ihm auf der Straße begegnet. Ihm verdanken wir es, den Gewaltthaten mehrerer Soldaten entkommen zu sein und das geschlossene Haus erreicht zu haben. Ohne Zweifel befindet er sich jetzt in einem Dorfe der Vereinigten Staaten in Sicherheit.

– Es ist ein edler Charakter, ein glühender Patriot! sagte Johann. Was er für Fräulein de Vaudreuil und meine Mutter gethan, das that er im hitzigsten Kampfe auch für mich. Er hat mir das Leben gerettet, und doch wär' es vielleicht besser gewesen, er hätte mich sterben lassen... Ich hätte dann wenigstens die Niederlage der Söhne der Freiheit nicht mit angesehen!

– Johann, wandte sich da das junge Mädchen an ihn, Sie werden doch an unserer heiligen Sache nicht verzweifeln?

– Mein Sohn und verzweifeln! erwiderte lebhaft Bridget. Das werd' ich nimmermehr glauben!

– Nein, Mutter! rief Johann. Nach dem Siege bei St. Denis sollte sich der Aufstand über das ganze Thal des St. Lorenzo verbreiten – nach der Niederlage bei St. Charles gilt es nun, einen neuen Feldzug zu beginnen, und ich werde diesen ins Werk setzen. Noch sind die Reformer keineswegs besiegt. Schon dürften sie wieder bereit stehen, den Colonnen Sir John Colborne's Widerstand zu leisten. Leider hab' ich schon zu lange gezögert, sie aufzusuchen; doch heute Nacht reife ich ab.

– Wohin wollen Sie, Johann? fragte Herr de Vaudreuil.

– Zunächst nach St. Denis. Daselbst hoffe ich die tüchtigsten Anführer zu treffen, mit denen wir die Soldaten Gore's so glücklich zurückgeschlagen hatten...

– Gehe, ja, gehe, mein Sohn! sagte Bridget mit einem bedeutsamen Blick auf Johann... Ja, gehe bald! Dein Platz ist nicht hier... Er ist da unten... in den vordersten Reihen...[279]

– Ja, Johann, ziehen Sie hinaus mit Gott! Sie müssen Ihre Waffengefährten wieder aufsuchen, müssen an deren Spitze erscheinen!... Die Loyalisten sollen es erfahren, daß Johann ohne Namen nicht todt ist...«

Clary konnte nicht weiter reden.

Sich halb aufrichtend, ergriff Herr de Vaudreuil die Hand Johanns, und auch er wiederholte:

»Ziehen Sie hin, Johann! Ueberlassen Sie mich der Pflege Ihrer Mutter und meiner Tochter. Wenn Sie meine Freunde wiederfinden, so sagen Sie ihnen, daß sie mich in ihrer Mitte sehen werden, sobald meine Kräfte es irgend gestatten. – Doch, fügte er mit einer Stimme hinzu, welche seine äußerste Schwäche erkennen ließ, wenn Sie uns auf dem Laufenden erhalten können über das, was im Werke ist... wenn es Ihnen möglich wäre, einmal selbst nach dem geschlossenen Hause zurückzukommen!... Ach, Johann!... Es verlangt mich so sehr zu wissen... was aus allen Denen, die mir theuer sind, geworden ist... sie, die ich vielleicht niemals wiedersehen werde!

– Sie werden es erfahren, Herr de Vaudreuil, versicherte Johann. Jetzt pflegen Sie der Ruhe!... Vergessen Sie Alles bis zur Stunde, wo es wieder zu kämpfen gilt!«

Bei dem Zustand, in dem der Verwundete sich befand, mußte ihm wirklich jede Aufregung erspart bleiben. Er fing jetzt schon an einzuschlummern, und dieser Schlummer dauerte bis zur Mitte der Nacht an. Er währte auch noch fort, als Johann gegen elf Uhr das geschlossene Haus verließ, nachdem er Clary ein Lebewohl gesagt und nachdem er seine Mutter umarmt, die auch in der Minute, wo sie sich von ihrem Sohn trennte, ihre Standhaftigkeit bewahrte.

Uebrigens waren die Verhältnisse nicht dieselben wie am Tage vorher, als Bridget Johann abhielt, sich nach St. Denis zu begeben. Seit dem Abzuge Whiterall's hatten sich die Gefahren wesentlich vermindert. St. Denis war ebenso ruhig wie St. Charles. Seit der Niederlage der Reformer am 25. vermied die Regierung vorläufig weitere Gewaltmaßregeln. Man mußte sogar darüber erstaunen, daß sie ihren Sieg nicht durch einen Vormarsch gegen die Sieger vom 23. zu vervollständigen suchte. Sir John Colborne war nicht der Mann dazu, zurückzuschrecken vor den Repressalien, welche eine feindliche Rückkehr hervorrufen konnte, und der Oberst Gore durfte wohl Eile haben, seine Niederlage zu rächen.[280]

Doch wie dem auch sein mochte, in St. Charles und folglich auch im geschlossenen Hause erhielt man keine Neuigkeiten. Auch das Vertrauen der Einwohner des Ortes war wieder gestiegen. Nachdem sie sich erst weithin verstreut, kehrten die meisten jetzt nach ihren Wohnstätten zurück und arbeiteten schon daran, die Zerstörungen von der Plünderung und der Feuersbrunst wieder nach Möglichkeit auszugleichen. Bei Bridgets seltenen Ausgängen fragte diese auch nach Nichts, hörte dagegen auf Alles und konnte so Herrn und Fräulein de Vaudreuil über alles Vorgehende unterrichten. Doch wie gesagt, keine bedrohliche Neuigkeit tauchte jetzt mehr im Lande auf, und von einer Truppenannäherung auf der Straße von Montreal verlautete nicht das Geringste.


Michel und Jaques wurden verwundet von ihrem Vater und Brüdern fortgetragen. (S. 278.)
Michel und Jaques wurden verwundet von ihrem Vater und Brüdern fortgetragen. (S. 278.)

Auch während der drei folgenden Tage wurde diese Ruhe ebenso in der Grafschaft Hyazinthe wie in den benachbarten Grafschaften nicht gestört. Man hätte fast glauben mögen, daß die Regierung den Aufstand für vollständig gedämpft halte, und es gewann den Anschein, als lasse sie nur die Häupter der Opposition verfolgen, die die Signale zur Empörung gegeben hatten. Niemand konnte dagegen annehmen, daß die Reformer schon auf jede Fortsetzung des Kampfes verzichten und sich für unbedingt besiegt halten könnten, so daß ihnen nichts als die unbedingte Unterwerfung übrig bliebe. Nein! Im geschlossenen Hause wie in ganz Canada erwartete man bestimmt ein neues Auflodern des schweren Kampfes.

Unter Bridgets und Clarys liebevoller Pflege besserte sich der Zustand des Herrn de Vaudreuil zusehends. Trotz der noch fortdauernden Schwäche begann die Wunde doch zu vernarben. Leider drohte die völlige Wiedergenesung recht lange Zeit in Anspruch zu nehmen, selbst bis zu dem Zeitpunkt, wo Herr de Vaudreuil voraussichtlich das Bett verlassen konnte. Gegen Ende des dritten Tages vermochte er etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Das Fieber, welches ihn anfänglich verzehrte, war fast gänzlich verschwunden. Trat jetzt keine unerwartete Complication ein, so war nichts Besonderes mehr zu fürchten.

In den langen müßigen Stunden, welche Bridget und Clary an seinem Lager verbrachten, berichteten sie ihm Alles, was man draußen sagte. Der Name Johann flocht sich immer und immer wieder in ihre Aussagen ein, da sie noch nicht wußten, ob er sich seinen Gefährten in St. Denis habe anschließen können, und sie doch kaum glaubten, daß er die Insassen des geschlossenen Hauses ohne Nachricht lassen werde.[283]

Und während Clary, die Augen gesenkt und in Gedanken in die Weite schweifend, da saß, erschöpfte sich Herr de Vaudreuil in Lobsprüchen bezüglich des jungen Patrioten, der ihm die nationale Sache gewissermaßen zu verkörpern schien. Ja, Frau Bridget konnte stolz sein auf einen solchen Sohn!

Den Kopf niederbeugend, antwortete Bridget entweder gar nicht, oder wenn sie es that, erklärte sie nur, daß Johann vielleicht seine Pflicht, gewiß aber nichts mehr gethan habe.

Es konnte weder Wunder nehmen, daß Clary eine warme Freundschaft, fast eine kindliche Liebe für Bridget empfand, noch daß ihr Herz sich so innig zu Jener hingezogen fühlte. Es erschien ihr so natürlich, sie »Mutter« zu nennen. Und doch kam es ihr vor, wenn sie ihre Hand ergreifen wollte, als ob Bridget diese zurückzuziehen suchte. Wenn Clary Bridget umarmte, wandte diese fast auffallend den Kopf zur Seite. Das junge Mädchen vermochte sich das nicht zu erklären, und wie gern hätte sie auch etwas von der Vergangenheit dieser Familie erfahren, welche nicht einmal mehr einen Namen hatte. Bridget blieb aber dieser Frage gegenüber stumm. Die gegenseitige Lage der beiden Frauen gestaltete sich also so, daß auf der einen Seite die aufrichtigste Hingebung und fast kindliche Liebe, auf der anderen eine sorgsame Zurückhaltung bestand, bei der die betagte Mutter sich von der jungen Tochter sozusagen zu entfernen suchte.

Am Abend des 2. December war St. Charles durch neue beunruhigende Nachrichten erregt, welche so ernster Natur waren, daß Bridget, der dieselben da und dort zu Ohren kamen, sie Herrn de Vaudreuil gar nicht mittheilen wollte. Clary stimmte ihr hierin bei, denn es schien auch ihr nicht gerathen, die Ruhe zu stören, deren ihr Vater noch so nöthig bedurfte.

So theilten sie ihm nur mit, daß die Königlichen noch einmal über die Patrioten einen Sieg davon getragen hatten.

Die Regierung konnte und wollte sich nämlich nicht damit zufriedengeben, den Aufstand bei St. Charles niedergeworfen zu haben; sie mußte mindestens die Scharte auswetzen, welche Oberst Gore in St. Denis erlitten hatte. Gelang ihr das, so war nicht mehr viel zu fürchten von den Reformern, welche die Agenten Gilbert Argall's überall verfolgten, und die sich genöthigt sahen, nach allen Kirchspielen des Bezirks zu entweichen. Dann galt es nur noch, die Anführer der Aufständischen, welche zum Theil schon in den Gefängnissen von Montreal und Quebec schmachteten, mit harten Strafen zu treffen.[284]

Zwei Kanonen, fünf Compagnien Infanterie und eine Schwadron Cavallerie waren unter Befehl des Oberst Gore gestellt worden, der mit dieser, der der Patrioten weit überlegenen Streitkraft aufbrach und im Laufe des 1. December vor St. Denis anlangte.

Die erst gerüchtweise sich verbreitende Nachricht von diesem Zuge erreichte St. Charles gegen Abend, und wurde dieselbe von verschiedenen aus den Feldern heimkehrenden Einwohnern weiter bestätigt. Dabei erfuhr Bridget auch davon, und während sie Herrn de Vaudreuil gegenüber verschwieg, was sie wußte, so hatte sie doch nicht gezögert, Clary davon Mittheilung zu machen.

Man begreift leicht, welche Unruhe, welche Herzensangst die beiden Frauen erdulden mußten.

In St. Denis hatte Johann seine Waffengefährten wieder treffen wollen, um aufs neue den Aufstand zu organisiren. Daß diese freilich so zahlreich und gut genug bewaffnet sein würden, um den Königlichen Widerstand leisten zu können, war nicht wohl anzunehmen. Hatten die Loyalisten aber einmal begonnen, Repressalien zu nehmen, so mußte man erwarten, daß sie hier keine Beschränkung keimen und unter Vornahme von Haussuchungen diese auf alle Flecken und Dörfer der durch den letzten Aufstand am meisten compromittirten Grafschaften ausdehnen würden. St. Charles vor Allem drohten gewiß die schärfsten und strengsten Polizeimaßregeln mit voraussichtlich sehr ernsten Folgen, und auch das Geheimniß des geschlossenen Hauses konnte damit recht leicht verrathen werden. Was wurde aber aus dem noch an sein Bett gefesselten Herrn de Vaudreuil, der im jetzigen Zustand unbedingt noch nicht über die Grenze zu schaffen war?

In welcher Angst verbrachten Bridget und Clary diesen Abend! Schon trafen einzelne Nachrichten von St. Denis ein, und diese waren sehr entmuthigender Art.

Der Oberst Gore hatte den Ort von seinen Vertheidigern verlassen gefunden. Gegenüber den Aussichten eines so ungleichen Kanipfes hatten diese es vorgezogen, zum Rückzuge zu blasen. Die Einwohner verließen ebenfalls ihre Häuser, retteten sich in die Wälder und überschritten auch den Richelieu, um in den benachbarten Kirchspielen Unterkunft zu suchen. Und was dann geschehen, als St. Denis den Ausschreitungen der Soldaten preisgegeben war, das konnte man sich, wenn die Flüchtlinge es auch nicht wußten, leicht genug vorstellen.

Mit Dunkelwerden setzten sich Bridget und Clary wieder an das Lager des Herrn de Vaudreuil. Wiederholt mußten sie ihm Auskunft geben, warum auf den[285] einige Tage hindurch so friedlichen Straßen von St. Charles jetzt ein auffälliges Getöse herrsche. Clary bemühte sich, für diese Erscheinung eine Ursache anzugeben, welche ihren Vater nicht beunruhigen konnte. Schweiften ihre Gedanken dann aber weiter hinaus, so fragte sie sich, ob die Sache der Unabhängigkeit nicht etwa den letzten Stoß erlitten habe, von dem sie nicht wieder aufstehen könne, ob Johann und seine Genossen nicht gezwungen gewesen wären bis zur Grenze zu flüchten, und ob nicht der und jener von denselben in die Gewalt der Königlichen gefallen wäre... Und er, Johann, hatte er dann entkommen können? Sollte er nicht versuchen, das geschlossene Haus zu erreichen?

Clary ahnte so etwas, und dann würde es freilich unmöglich werden, Herrn de Vaudreuil die neue Niederlage der Patrioten zu verheimlichen.

Vielleicht fürchtete Bridget dasselbe, und Beide saßen, von den gleichen Gedanken verfolgt und einander verstehend, ohne ein Wort zu wechseln, schweigend bei dem Kranken.

Gegen elfeinhalb Uhr erschallten drei kurze Schläge an der Thür des geschlossenen Hauses.

»Ach, er!« rief das junge Mädchen.

Bridget hatte das Zeichen erkannt; es mußte einer ihrer Söhne sein, der draußen war.

Anfänglich glaubte sie, Joann werde es sein, den sie seit länger als zwei Monaten nicht wieder gesehen hatte. Clary hatte sich indessen nicht getäuscht und wiederholte:

»Nein, er ist es... er... Johann!«

Als die Thür sich öffnete, zeigte sich wirklich Johann, und dieser schritt eiligst über die Schwelle.[286]

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 274-281,283-287.
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