Drittes Capitel.
Herr de Vaudreuil im geschlossenen Hause.

[258] »Mutter, begann Johann, nachdem er den Verwundeten auf das Bett, welches er oder sein Bruder gelegentlich benutzte, wenn sie einmal im geschlossenen Hause übernachteten, niedergelegt, Mutter, es kostet diesem Manne das Leben, wenn ihm nicht die sorgsamste Pflege zu Theil wird.[258]

– Ich werde ihn pflegen, Johann.

– Doch es geht auch Dir aus Leben, wenn Whiterall's Soldaten ihn bei Dir finden!

– Mir aus Leben!... Was zählt denn mein Leben, lieber Sohn?« antwortete Bridget.

Johann wollte sie nicht wissen lassen, daß Herr de Vaudreuil, eines der Opfer Simon Morgaz', vor ihr lag. Das hätte zu beschämende Erinnerungen in ihr wachgerufen. Besser war es jedenfalls, wenn Bridget davon nichts erfuhr. Der Mann, dem sie Obdach bot, gehörte zu den Patrioten – das war genug, um ihm ein Anrecht auf ihre Hilfe und Ergebenheit zu sichern.

Zuerst waren Johann und Bridget nach der Hausthür zurückgegangen. Sie lauschten. Drang auch von der Kirche her noch wüstes Geschrei, so herrschte auf der Landstraße doch vollkommene Ruhe. Der letzte Schein des im höheren Theil der Stadt entfachten Brandes war dem Verlöschen nahe und auch das Lärmen der Königlichen verstummte allmählich. Sie mochten des Brennens, Raubens und Mordens satt geworden sein. Alles in Allem waren etwa zwanzig Wohnstätten durch das Feuer zerstört. Das geschlossene Haus gehörte zu denen, die dem Unheil entgingen; doch hatten Bridget und Johann noch Alles von den Siegern zu fürchten, wenn die Sonne erst die traurigen Ruinen von St. Charles beleuchtete.

Uebrigens wurden sie auch im Laufe der Nacht mehrfach erschreckt. Von Stunde zu Stunde kamen Patrouillen von Soldaten und Freiwilligen an dem geschlossenen Hause vorüber und beobachteten die Umgebung des Fleckens an der Biegung der Landstraße. Zuweilen machten dieselben Halt. Wie leicht war zu befürchten, daß Befehl zu Hausdurchsuchungen gegeben worden war, daß die Agenten der Polizei an die Thüren klopfen und die Oeffnung derselben fordern konnten. Für sich selbst zitterte Johann nicht im mindesten, wohl aber für Herrn de Vaudreuil, der fast im Sterben lag und der dann sein Leben im Hause seiner Mutter ausgehaucht hätte...

Jene Befürchtungen sollten sich nicht erfüllen – wenigstens nicht während dieser Nacht. Bridget und ihr Sohn hatten sich neben das Kopfkissen des Verwundeten gesetzt. Alles, was sie thun konnten, war geschehen. Hier wären aber Arzneimittel nöthig gewesen – doch wie solche beschaffen? Hier hätte es eines Arztes bedurft – doch wie einen finden, dem man mit dem Leben des Patrioten auch die Geheimnisse des geschlossenen Hauses hätte anvertrauen können?[259]

Sie untersuchten die bloßgelegte Brust des Herrn de Vaudreuil. Eine tiefe, von einem Säbelhieb herrührende Wunde verlief schräg über die linke Seite des Brustkastens. Es schien jedoch, daß diese Wunde nicht tief genug eindrang, um ein besonders lebenswichtiges Organ getroffen zu haben. Und dennoch athmete der Verwundete so schwach und hatte einen so großen Blutverlust erlitten, daß er unter dieser Ohnmacht hinscheiden konnte.

Nach Reinigung der Wunde mit frischem Wasser näherte Bridget die Ränder derselben einander und bedeckte sie mit zusammengefalteten Tüchern. Johann und seine Mutter wagten aber trotzdem kaum zu hoffen, daß Herr de Vaudreuil bei den wiederholten Aufschlägen, welche Bridget ihm machte, und durch die Wärme, welche er im geschlossenen Hause genoß, wieder zu sich kommen würde, ehe Whiterall's Truppen den Flecken verließen.

Zwei Stunden nach seiner Hierherkunft ließ Herr de Vaudreuil, obgleich er die Augen noch nicht geöffnet, einige Worte entschlüpfen. Offenbar fesselte ihn nur noch eins – die Erinnerung an seine Tochter – an das Leben. Er rief nach ihr, vielleicht um von ihr gepflegt zu werden, vielleicht schwebten ihm auch nur die Gefahren vor Augen, von denen sie jetzt in St. Denis bedroht war...

Bridget hielt seine Hand gefaßt und lauschte. Johann, der daneben stand, sachte die Wiederaufreißung der Wunde bei einer etwaigen schnellen Bewegung zu verhindern. Auch er bemühte sich, die von Seufzern unterbrochenen Worte des Armen aufzufassen. Wenn nun Herr de Vaudreuil gar etwas sagte, was Bridget nicht hätte hören sollen?...

Da ließ sich unter den unzusammenhängenden Sätzen ein Name deutlich vernehmen.

Es war der Name Clarys.

»Der Unglückliche hat also eine Tochter? murmelte Bridget, ihren Sohn ansehend.

– So scheint es, liebe Mutter.

– Und er verlangt nach ihr. Er will nicht sterben, ohne sie noch einmal gesehen zu haben!... Wäre seine Tochter ihm zur Seite, so würde er ruhiger sein... Wo befindet sich aber dieselbe?... Könnte ich nicht versuchen, sie zu entdecken.... sie... ganz im Geheimen... hierher zu bringen?

– Sie!... rief Johann.

– Ja. Ihr Platz ist hier bei ihrem Vater, der sie, mit dem Tode ringend, ruft.«[260]

Da wollte sich der Verletzte, den das Wundfieber schüttelte, im Bett aufrichten.

Dann entrangen sich seinem Munde flehende Worte, welche das, was ihn quälte, deutlich verriethen:

»Clary... allein... da unten... in St. Denis!«

Bridget erhob sich.

»St. Denis?... fragte sie. Da hat er seine Tochter zurückgelassen?... Hörst Du's, Johann?

– Die Königlichen!... In St. Denis!... fuhr der Verwundete fort. Sie wird ihnen nicht entgehen können!... Die Elenden werden an Clary de Vaudreuil Rache nehmen.

– Clary de Vaudreuil?« wiederholte Bridget.

Dann senkte die Frau den Kopf und stammelte:

»Herr de Vaudreuil... hier bei mir!

– Ja, Herr de Vaudreuil, gestand jetzt Johann, und da er einmal im geschlossenen Hause ist, so muß auch seine Tochter hierher kommen!«

Regungslos, neben dem Bette, auf dem Herr de Vaudreuil lag, betrachtete sie diesen Patrioten, dessen Blut für die Unabhängigkeit floß, derselbe, der zwölf Jahre vorher den Verrath Simon Morgaz' fast mit dem Kopfe hatte bezahlen müssen. Wenn er nun erfuhr, welches Haus ihm Obdach geboten, welche Hand ihn dem Tode abgerungen, würde ihn da nicht ein Schauder durchbeben und würde er sich nicht auf den Knien fortschleppen, um so schnell wie möglich die Berührung mit dieser Familie, die ihn nur schändete, zu fliehen?

In einem längeren Seufzer ließ Herr de Vaudreuil wiederum den Namen Clarys hören.

»Er könnte sterben, sagte Johann, aber er darf nicht, ohne seine Tochter wiedergesehen zu haben...

– Ich werde sie holen, erklärte Bridget.

– Nein!... Das ist meine Aufgabe, Mutter!

– Du, den man in der Grafschaft auf Schritt und Tritt verfolgt?... Willst Du unterliegen, ehe Du Dein Werk vollendet?... Nein, Johann, Du hast noch nicht das Recht, zu sterben. Ich werde Clary de Vaudreuil holen!

– Clary de Vaudreuil wird sich aber weigern, Dir zu folgen, Mutter!

– Sie wird sich nicht weigern, wenn sie hört, daß ihr Vater im Sterben liegt und nach ihr ruft... Wo ist Fräulein de Vaudreuil in St. Denis?[261]

– Im Hause des Richters Froment... Es ist aber zu weit bis dahin, Mutter!... Du wirst nicht die Kraft dazu haben!... Hin- und Rückweg betragen ja gegen zwölf Meilen. Ich, wenn ich unverzüglich aufbreche, habe Zeit genug, nach St. Denis zu gehen und Clary de Vaudreuil hierher zu führen, noch ehe der Tag anbricht. Niemand wird mich fortgehen sehen... Niemand wird es merken, wenn ich in das geschlossene Haus zurückkehre...

– Niemand?... antwortete Bridget. Und wie willst Du die Soldaten, welche die Landstraßen überwachen, vermeiden?... Wie willst Du, ihnen einmal in die Hände gefallen, wieder entkommen?... Selbst zugegeben, daß sie Dich nicht sofort erkennen, würden sie Dich deshalb freien Weges ziehen lassen?... Ich dagegen, eine alte Frau, warum sollten sie mich anhalten?... Genug der Worte, Johann; Herr de Vaudreuil will seine Tochter sehen!... Er muß sie sehen, und ich allein bin es, die jene ihm zuzuführen vermag!... Ich breche auf!«

Johann mußte sich den Vorstellungen Bridgets fügen. Obwohl die Nacht sehr dunkel war, wäre es für ihn, wenn er sich auf die von den Patrouillen Whiterall's bewachten Wege wagte, gleich der Gefahr gewesen, sein Vorhaben nicht ausführen zu können; und Clary de Vaudreuil mußte unbedingt vor Tagesanbruch die Schwelle des geschlossenen Hauses überschritten haben. Wer konnte wissen, ob das Leben ihres Vaters überhaupt noch so lange währte! Johann ohne Namen, der jetzt als solcher bekannt war, nachdem er mit offenem Visir gekämpft, hätte schwerlich nach St. Denis und von da mit Fräulein de Vaudreuil zurückkommen können, da er bei einem solchen Versuche sich fast zweifellos den Händen der Königlichen überliefern mußte.

Der letzte Grund vorzüglich bestimmte seinen Entschluß, denn die ihn persönlich drohenden Gefahren achtete er sehr gering. So gab er denn Bridget die nöthigen Nachweise, um das junge Mädchen beim Richter Froment aufzufinden. Er händigte ihr ein Billet ein mit den Worten: »Vertrauen Sie sich meiner Mutter an, folgen Sie ihr!« – die bei Clary jeden etwaigen Verdacht zerstören mußten. Dann öffnete Johann die Thür, schloß sie hinter Bridget wieder und setzte sich an das Schmerzenslager des Herrn de Vaudreuil.

Schon etwas über zehn Uhr war es, als Bridget die um diese Stunde verlassene Straße hinabging. Der eisige Frost der langen canadischen Nächte, welcher auf dem ganzen Lande lag, hatte den Erdboden zu einem schnelleren Vorwärtskommen geeigneter gemacht. Das erste Viertel des Mondes, der am[262] Horizonte bald verschwinden sollte, ließ durch die hochschwebenden Wolken noch einzelne Sterne flimmern.

Bridget wanderte schleunigen Schrittes durch die finstere Einöde, ohne Furcht und ohne Schwäche hin. Um eine Pflicht zu erfüllen, war die einstige Energie, von der sie so manche Probe abgelegt, noch einmal in ihr erwacht. Uebrigens kannte sie genau die Strecke von St. Charles bis St. Denis, die sie in ihrer Jugend oft genug gegangen war. Das Einzige, was sie zu fürchten hatte, war höchstens das Zusammentreffen mit einer Abtheilung Soldaten.

Das ereignete sich denn auch zwei- oder dreimal in der Entfernung von zwei Meilen von St. Charles. Es fiel jedoch Niemand ein, die alte Frau aufzuhalten, und diese kam mit verschiedenen schlechten Bemerkungen der mehr oder weniger betrunkenen Soldaten davon. In der Richtung nach St. Denis hatte der Oberstlieutenant Whiterall keine weitreichenden Patrouillengänge unternehmen lassen. Ehe er diesen unglücklichen Flecken zur Rechenschaft zog, wollte er sich erst über die weiteren Maßnahmen der Sieger vom Vortage unterrichten und hütete sich, seinen eigenen Sieg durch einen unüberlegten Angriff wieder zu compromittiren.

Während der zwei anderen Drittel ihrer Wanderung blieb Bridget in Folge dessen von weiteren gefährlichen Heimsuchungen verschont. Die armen Leute, denen sie begegnete oder die sie sogar überholte, waren Flüchtlinge von St. Charles, die sich über die Kirchspiele der Grafschaften verstreuten, da sie seit der Plünderung und Niederbrennung ihrer Häuser kein schützendes Dach mehr besaßen.

Doch – das war nur zu gewiß – wo Bridget hatte ungehindert passiren können, wäre das Johann ganz unmöglich gelungen. Bei Annäherung der Soldatenrotten hätte er mindestens Seitenwege einschlagen müssen, und das um den Preis von Zeitverlust, der es ihm ganz unmöglich gemacht hätte, vor Sonnenaufgang wieder im geschlossenen Hause einzutreffen. Hätte ihn aber ein Cavalleriepiquet nur einmal verhaftet, so wäre ihm doch, selbst ein Nichterkennen seiner Person vorausgesetzt, eine längere Freiheitsberaubung sicher gewesen.


Zwanzig Wohnstätten waren durch das Feuer zerstört. (S. 259.)
Zwanzig Wohnstätten waren durch das Feuer zerstört. (S. 259.)

Vielleicht aber wurde er erkannt, und der Leser weiß ja, welches Urtheil der Gerichtshof von Montreal über ihn gefällt hätte.

Gegen einhalb ein Uhr erreichte Bridget das Ufer des Richelieu. Das ihr bekannte Haus des Richters Froment lag an diesem Ufer, etwas außerhalb St. Denis. Bridget brauchte also nicht über den Richelieu zu setzen, was ohne ein Boot, welches sie erst suchen mußte, nicht ausführbar gewesen wäre.[263] Sie hatte hier vielmehr nur eine Viertelmeile flußabwärts zu wandern, um vor der Thür des betreffenden Hauses zu stehen.

Die Umgebung war völlig verlassen und tiefes Schweigen herrschte in diesem Theile des Thales.

In der Ferne schimmerten kaum einige schwache Lichter durch die Fenster der ersten Gebäude des Fleckens, der jetzt in vollkommener, von keinem Lärmen gestörter Ruhe lag.[264]

Bridget glaubte hieraus schließen zu dürfen, daß eine Nachricht von der Niederlage bei St. Charles noch nicht bis St. Denis gedrungen wäre.

Clary de Vaudreuil konnte also noch nichts von der Niederlage wissen, und erst von ihr, der Unglücksbotin, sollte sie Alles erfahren.

Bridget stieg die Stufen der kleinen Treppe an der Ecke des Hauses hinan und klopfte.

Keine Antwort.

Bridget klopfte von Neuem.[265]

Da erschallten im Inneren der Hausflur, in der es ein wenig hell wurde, zögernde Schritte. Dann fragte eine Stimme:


Es fiel jedoch Niemand ein, die Frau aufzuhalten. (S. 263.)
Es fiel jedoch Niemand ein, die Frau aufzuhalten. (S. 263.)

»Was wünschen Sie?

– Den Richter Froment zu sprechen.

– Der Richter Froment ist nicht in St. Denis, und in seiner Abwesenheit darf ich nicht öffnen.

– Ich habe ihm wichtige Nachrichten mitzutheilen, fuhr Bridget dringlicher fort.

– Das werden Sie bei seiner Rückkehr thun können.«

Die Erklärung, nicht öffnen zu wollen, wurde in so bestimmtem Tone abgegeben, daß Bridget nicht mehr zögerte, sich des Namens Clarys zu bedienen.

»Wenn der Richter Froment nicht hier ist, sagte sie, so muß doch Fräulein de Vaudreuil hier sein, und diese wenigstens muß ich sprechen.

– Fräulein de Vaudreuil ist abgereist, antwortete die Stimme, dieses Mal aber etwas zaudernd.

– Sie ist abgereist?

– Seit gestern.

– Und wissen Sie, wohin das Fräulein gegangen ist?

– Jedenfalls hat sie ihren Vater aufsuchen wollen.

– Ihren Vater?... antwortete Bridget. Nun, eben um des Herrn de Vaudreuil willen komm' ich sie zu holen.

– Mein Vater! rief Clary, die im Hintergrunde der Hausflur gestanden hatte. Oeffnen Sie schnell!...

– Clary de Vaudreuil, nahm Bridget darauf mit gedämpfter Stimme das Wort, ich bin nur hierher gekommen, Sie zu Ihrem Vater zu führen, und Johann ist es, der mich sendet...«

Schon waren die Riegel der Thür zurückgeschoben worden, als Bridget mit leiser Stimme sagte:

»Nein, öffnen Sie jetzt nicht, warten Sie ein wenig!«

Die Stufen hinabgehend, setzte sie sich still am Fuße der Treppe nieder. Es schien in der That von Wichtigkeit, daß sie nicht gesehen wurde und Niemand ihren Eintritt in dieses Haus bemerkte. In diesem Augenblicke aber näherte sich ein Haufen Männer, Frauen und Kinder, der am Ufer des Richelieu hinzog.

Es waren die ersten Flüchtlinge, welche St. Denis erreichten, nachdem sie Nebenwege eingeschlagen, um die große Straße zu vermeiden. Da gab es Verwundete,[266] gestützt und geführt von ihren Eltern und Freunden, da kamen Frauen, welche noch mit sich schleppten, was ihnen von ihrer Familie geblieben war, doch auch noch kampffähige Patrioten, welche der Feuersbrunst und der Niedermetzelung hatten entgehen können. So manche derselben mußten Bridget wohl kennen, und diese hielt doch darauf, Niemand wissen zu lassen, daß sie aus dem geschlossenen Hause weggegangen sei; deshalb wollte sie, im Schatten der Mauer verborgen, diese erste Woge der Flüchtlinge vorüberziehen lassen.

Doch was mußte Clary während dieser wenigen Minuten denken, wenn sie die Klagelaute der Leute – das Jammern der Verzweiflung hörte? Seit mehreren Stunden schon harrte sie sehnsüchtig auf Nachrichten von St. Charles. Vielleicht beeilte sich ihr Vater, vielleicht auch Johann, ihr diese zu übermitteln, wenn dieser nicht nach einem erneuten Siege beschloß, sofort auf Montreal zu marschiren.

Nein! Durch die Thür, welche Clary noch nicht zu öffnen wagte, drangen nur Seufzer und Klagelaute herein.

Nachdem die Flüchtlinge am Hause vorübergezogen, wandten sie sich weiter draußen dem Wasser erst an einer Stelle zu, wo sie dasselbe jedenfalls hofften, überschreiten zu können.

Die Straße war wieder still geworden, obgleich sich flußaufwärts schon wieder ein dumpfes Getöse vernehmen ließ.

Bridget hatte sich erhoben. Eben als sie noch einmal anklopfen wollte ging die Thür auf und schloß sich wieder unmittelbar hinter ihr.

Clary de Vaudreuil und Bridget Morgaz standen sich jetzt gegenüber, und zwar in einem Zimmer des Erdgeschosses, das eine Lampe, deren Schein nicht durch die festgeschlossenen Läden dringen konnte, nur matt erhellte.

Die alte Frau und das junge Mädchen sahen einander an, während die Dienerin etwas abseits stand.

Clary sah sehr bleich aus und wagte, in der Voraussetzung eines entsetzlichen Unglücks, erst keine Frage zu stellen.

»Die Patrioten von St. Charles?... sagte sie endlich.

– Geschlagen! antwortete Bridget.

– Mein Vater?

– Verwundet!

– Todt?...

– Vielleicht.«[267]

Clary hatte nicht mehr die Kraft sich aufrecht zu erhalten und Bridget mußte sie in ihren Armen auffangen.

»Muth! Clary de Vaudreuil! sagte sie. Ihr Vater wünscht, daß Sie zu ihm kommen. Sie müssen dem Wunsche nachkommen, müssen mir, ohne einen Augenblick zu verlieren, folgen.

– Wo ist mein Vater? fragte Clary, sich aus diesem Schwächeanfall aufraffend.

– Bei mir... in St. Charles, erklärte Bridget.

– Wer sendet Sie, Madame?

– Ich sagte es Ihnen bereits... Johann!... Ich bin seine Mutter...

– Sie?... rief Clary.

– Hier, lesen Sie selbst!«

Clary nahm das Billet, welches Bridget ihr hinhielt. Es war die ihr nur zu gut bekannte Handschrift Johanns ohne Namen.

»Vertrauen Sie sich meiner Mutter an...« schrieb er.

Doch wie kam es, daß Herr de Vaudreuil sich in dieser Wohnung befand? War Johann es, der ihn gerettet, der ihn vom Schlachtfeld bei St. Charles weg und nach dem geschlossenen Hause getragen hatte?

»Ich bin bereit, Madame, sagte Clary de Vaudreuil.

– So brechen wir auf,« antwortete Bridget.

Die Einzelheiten der schrecklichen Vorkommnisse sollte Clary erst später erfahren. Schon jetzt wußte sie ja genug davon. Ihr Vater dem Tode nahe, die Patrioten zerstreut, der Sieg von St. Denis aufgehoben durch die Niederlage bei St. Charles!

Clary hatte in der Eile einen dunklen Anzug gewählt, um Bridget zu begleiten.

Die Thür des Vorraumes stand offen, Beide stiegen nach der Straße hinunter.

Die Hand in der Richtung nach St. Charles ausstreckend, sprach Bridget nur die Worte:

»Wir haben sechs Meilen zurückzulegen. Damit Niemand erfährt, daß Sie in das geschlossene Haus gekommen sind, müssen wir daselbst noch diese Nacht eintreffen.«

Clary und Bridget gingen am Ufer des Flusses hinauf, um die Landstraße zu erreichen, welche in gerader Linie von Norden nach Süden die Grafschaft[268] St. Hyazinthe durchschneidet. Das junge Mädchen hätte mehr laufen mögen als gehen, so drängte es sie, an das Schmerzenslager ihres Vaters zu kommen. Den noch mußte sie ihren Schritt etwas mäßigen, denn Bridget hätte ihr, trotz einer für ihr Alter wunderbaren Rüstigkeit, nicht folgen können.

Uebrigens gab es auch Verzögerungen. Verschiedene Haufen Flüchtlinge kamen ihnen direct entgegen. Geriethen sie unter diese, so konnten sie leicht nach St. Denis zurückgeschoben werden, sie mußten jene also womöglich vermeiden. Bridget und Clary verschwanden deshalb bald zur Rechten, bald zur Linken in den Dickichten am Wege. Niemand bemerkte sie da, während sie Alle sehen und hören konnten.

Die armen Leute schleppten sich jämmerlich vorwärts, einige ließen ganz blutige Spuren auf dem Erdboden zurück. Frauen trugen kleine Kinder auf den Armen. Die starken Männer führten die Greise, die sich lieber niedergeworfen hätten, um auf der Stelle zu sterben. Vernahmen sie dann wieder Geschrei aus der Ferne, so verschwanden sie Alle in der Finsterniß.

Man hätte glauben können, daß Soldaten und Freiwillige diesen Unglücklichen schon auf den Fersen wären, den Armen, welche ihre brennende Heimat flohen und rings auf den Farmen eine Unterkunft suchten, die sie in St. Charles nicht mehr finden konnten. Sollte die Colonne Whiterall's etwa schon auf dem Marsche sein, um mit anbrechendem Tage die entflohenen Patrioten gefangenzunehmen?

Nein; es waren nur andere Flüchtlinge, welche durch das Land irrten. Zu Hunderten kamen dieselben bisweilen vorüber. Und wie viele wären in dieser schrecklichen Nacht vielleicht umgekommen, wenn sich nicht einige Farmer geopfert hätten, sie aufzunehmen!

Mit von tödtlicher Angst gemartertem Herzen war Clary Zeugin der Schrecken dieser Flucht, und dennoch wollte sie an der Sache der Unabhängigkeit nicht verzweifeln, für die ihr Vater entschlossen dem Tode ins Auge gesehen hatte.

Sobald der Weg wieder frei war, setzten sich Bridget und Clary aufs neue in Bewegung. Einundeinehalbe Stunde wanderten sie so dahin. Je mehr sie sich dem Flecken näherten, desto seltener wurden die Aufenthalte, weil die Straße weniger von Flüchtigen eingenommen war. Alles, was hatte entrinnen können, befand sich jetzt weit von hier und auf der Seite nach St. Denis zu, oder hatte sich in den Grafschaften Verchères und St. Hyazinthe zerstreut. In[269] der Nachbarschaft von St. Charles galt es dafür nun, jeder Abtheilung von Freiwilligen aus dem Wege zu gehen.

Um drei Uhr Morgens waren noch drei Meilen nach dem geschlossenen Hause zurückzulegen.

Da sank Bridget erschöpft zusammen.

Clary wollte sie aufrichten.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen, sagte sie zu ihr. Stützen Sie sich auf mich... Wir können nicht mehr weit haben...

– Doch, eine Stunde Wegs, antwortete Bridget, und ich werde leider nicht im Stande sein...

– Ruhen Sie einen Augenblick aus; nachher gehen wir weiter. Sie nehmen meinen Arm!... Fürchten Sie nicht, mich zu ermüden!... Ich bin stark...

– Stark!... Armes Kind... auch Sie werden bald niedersinken!«

Bridget hatte sich auf die Knie erhoben.

»Hören Sie mich an, sagte sie, ich werde versuchen noch einige Schritte zu machen... Doch wenn ich wieder nicht weiter fort kann, so lassen Sie mich zurück.

– Sie zurücklassen?... rief Clary.

– Ja, denn nur Eins ist jetzt nöthig, daß Sie noch diese Nacht bei Ihrem Vater sind. Die Straße geht gerade aus. Das geschlossene Haus ist das erste, welches sich linker Hand vor der Ortschaft findet... Sie klopfen da an die Thür. Nennen Ihren Namen... Johann wird dann schon öffnen.

– Nein, ich verlasse Sie nicht, antwortete das junge Mädchen. Ohne Sie gehe ich nicht weiter.

– Doch, es muß sein, Clary de Vaudreuil, antwortete Bridget. Wenn Sie dann in Sicherheit sind, wird schon mein Sohn kommen, mich zu holen. Er wird mich tragen, wie er Herrn de Vaudreuil getragen hat.

– Ach, ich flehe Sie an, versuchen Sie zu gehen, Madame Bridget!«

Bridget gelang es, sich noch einmal aufzurichten; sie schleppte sich aber nur mit größter Anstrengung vorwärts. Immerhin kamen Beide noch etwa eine Meile weiter.

Da erhellte sich der Horizont mit einem Schein, der im Osten von St. Charles emporstieg. Waren das schon die ersten Strahlen des Morgenrothes und sollte es nicht möglich sein, das geschlossene Haus vor dem Tage zu erreichen?[270]

»Vorwärts, gehen Sie! murmelte Bridget... Gehen Sie, Clary de Vaudreuil, lassen Sie mich hier!

– Das ist nicht der Tag, antwortete Clary. Es ist kaum vier Uhr Morgens. Das muß der Widerschein einer Feuersbrunst sein...«

Clary vollendete den Satz nicht ganz; ihr kam der Gedanke ebenso wie Bridget, daß vielleicht das geschlossene Haus eine Beute der Flammen werde, daß das Versteck des Herrn de Vaudreuil aufgefunden worden sei, daß er und Johann von den Soldaten Whiterall's gefangen wären, wenn sie nicht bei der Vertheidigung den Tod gefunden hätten.

Diese Furcht regte in Bridget noch einmal die letzten Kräfte an. Ihre Schritte beschleunigend, näherten sie sich St. Charles mehr und mehr.

Die Landstraße bildete an dieser Stelle einen ziemlich scharfen Winkel, und jenseits desselben erhob sich das geschlossene Haus.

Clary und Bridget gelangten zu der Straßenbiegung.

Das geschlossene Haus war es nicht, welches in Flammen stand, es brannte vielmehr eine zur Rechten des Fleckens gelegene Farm, deren Flammenschein sich am Horizonte widerspiegelte.

»Da!... Da ist es!« rief Bridget, indem sie mit zitternder Hand nach ihrer Wohnung hinwies.

Noch fünf bis sechs Minuten, und die beiden Frauen mußten darin Schutz gefunden haben.

In diesem Augenblicke erschien ein Trupp von drei Männern, welche die Straße herabkamen – drei Freiwillige, schwankend auf den Füßen, betrunken von Branntwein und besudelt mit Blut.

Clary und Bridget wollten ihnen aus dem Wege gehen und wichen seitlich aus. Es war zu spät.

Die Freiwilligen hatten sie bemerkt und stürzten sich auf sie zu. Von diesen erbärmlichen Burschen war das Schlimmste zu fürchten. Einer derselben hatte das junge Mädchen gepackt und suchte dieses mit sich fortzuziehen, während die beiden Anderen Bridget festhielten.

Bridget und Clary riefen um Hilfe. Wer hätte ihre Rufe aber sonst hören können, als andere Soldaten, die vielleicht weniger betrunken und vielleicht noch gefährlicher waren, als diese hier?

Plötzlich sprang ein Mann aus dem Dickicht zur Linken und streckte mit einem Schlage den Schurken zu Boden, der sich an dem jungen Mädchen vergriffen hatte.


Er mußte sich gegen zwei Schurken wehren. (S. 274.)
Er mußte sich gegen zwei Schurken wehren. (S. 274.)

»Clary de Vaudreuil!... rief er.

– Vincent Hodge!«

Und Clary klammerte sich an den Arm Hodge's,[271] den sie beim Scheine der Flammen erkannt hatte.

Als Herr de Vaudreuil auf dem Schlachtfelde von St. Charles gefallen war, hatte Vincent Hodge ihm nicht zu Hilfe eilen können, er wußte auch nicht, daß Johann ohne Namen diesen gleich darauf aus dem Getümmel getragen, und war deshalb, als das Feuer verstummte, in die Nachbarschaft des Fleckens


Gegen vierzig Patrioten waren zu Gefangenen gemacht worden. (S. 277.)
Gegen vierzig Patrioten waren zu Gefangenen gemacht worden. (S. 277.)


[272] zurückgekehrt, auf die Gefahr hin, den Königlichen in die Hände zu fallen. Nach Einbruch der Nacht versuchte er dann, Herrn de Vaudreuil unter den Verwundeten oder Todten zu entdecken, welche in großer Menge den Kampfplatz bedeckten.

Nachdem er vergeblich bis zur Stunde, wo es im Osten zu dämmern begann, umhergesucht, schlich er eben wieder die Straße herunter, als ferne Hilferufe ihn nach dem Orte führten, wo Clary gegen eine Gefahr, die schlimmer gewesen wäre als der Tod, ankämpfte.[273]

Vincent Hodge hatte nicht Zeit genug, um zu erfahren, daß Herr de Vaudreuil in dieses nur wenige Schritte entfernte Haus geschafft worden war, sondern mußte sich gegen zwei Schurken wehren, welche von Bridget losgelassen hatten, um sich auf ihn zu stürzen. Ihr Geschrei war auch weit die Straße hinauf gehört worden. Fünf oder sechs Freiwillige kamen herzugelaufen, ihnen Hilfe zu leisten. Für Clary und Bridget war es die höchste Zeit, sich in das geschlossene Haus zu retten.

»Flieht!... Flieht! rief Vincent Hodge. Ich werde schon von den Burschen loskommen.«

Bridget und Clary eilten die Straße hinab, während Vincent Hodge seine beiden Gegner, die in Folge ihrer Trunkenheit weniger gefährlich waren, tüchtig bearbeitete.

Und ehe deren Kameraden ganz heran kommen konnten, sprang er ins Dickicht. Wohl knallten ihm einige Flintenschüsse nach, doch ohne daß die Kugeln ihr Ziel erreichten.

Bald klopfte Bridget an die Thür des geschlossenen Hauses, die sich sofort öffnete; sie ließ das junge Mädchen eintreten und sank in die Arme ihres Sohnes.

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 258-274.
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