Zweites Capitel.
St. Denis und St. Charles.

[238] Der Tag zur Ergreifung der Waffen sollte nicht mehr fern sein. Der Schauplatz, an dem der Kampf entbrennen sollte, waren offenbar diejenigen Grafschaften, welche an die Grafschaft Montreal grenzten und in denen die Aufregung schnell eine für die Regierung bedenkliche Höhe erreichte, unter anderen die Grafschaft Verchères und St. Hyazinthe. Man bezeichnete dafür besonders zwei der reichsten, vom Laufe des Richelieu durchschnittenen und nur wenige Meilen von einander entfernten Kirchspiele – St. Denis, wo die Reformer ihre Kräfte zusammengezogen hatten, und St. Charles, wo Johann, der nach dem geschlossenen Hause zurückgekehrt war, bereit stand, das Signal zur Erhebung zu geben.[238]

Der General-Gouverneur hatte alle durch die Nothwendigkeit gebotenen Maßregeln getroffen. Die Reformer konnten deshalb nicht mehr daran denken, ihn in seinem Palaste überrumpeln und die Autorität des Staates durch die des Volkes ersetzen zu können. Ja es war sogar zu befürchten, daß der erste Angriff von den Bureaukraten ausgehen werde. Die Gegner derselben hatten sich denn auch in leicht zu vertheidigende Stellungen zurückgezogen, wo sie sich unter günstigeren Bedingungen organisiren konnten. Ihr weiteres Streben erst ging dann dahin, von der Vertheidigung zum Angriff überzugehen.

Ein erster Sieg in der Grafschaft St. Hyazinthe errungen – das war die Erhebung der Uferbevölkerung von St. Lorenzo, d. h. die Vernichtung der anglosächsischen Tyrannei vom See Ontario bis zur Mündung des Stromes.

Lord Gosford wußte das recht wohl. Er verfügte nur über beschränkte Kräfte, welche von der Uebermacht erdrückt werden mußten, wenn der Aufstand wirklich ganz allgemein wurde. Es galt also jenen durch einen zweifachen Schlag in St. Denis und St. Charles gleich empfindlich zu treffen – was nach den Vorfällen von Longueuil versucht werden sollte.

Sir John Colborne, der Oberbefehlshaber, theilte die anglo-canadische Armee in zwei Colonnen.

An der Spitze der einen stand der Oberstlieutenant Whiterall, an der der anderen der Oberst Gore.

Nach eiligst vollendeten Vorbereitungen brach der Oberst Gore im Laufe des 22. November von Montreal auf. Seine aus fünf Compagnien Füselieren und einer Schwadron Reiterei bestehende Abtheilung besaß an Artillerie nur ein einziges Feldstück. Am Abend desselben Tages traf dieselbe noch in Sorel ein. Trotz des abscheulichsten Wetters und der fast ungangbaren Wege zögerte Gore nicht im Geringsten, in pechdunkler Nacht weiter hinauszuziehen.


Eine Abtheilung kam herbei, um Unterstützung zu gewähren. (S. 236.)
Eine Abtheilung kam herbei, um Unterstützung zu gewähren. (S. 236.)

Seine Absicht ging dahin, die Aufständischen in St. Charles vor die Klinge zu bekommen, nachdem er die von St. Denis zerstreut, und vor jedem eigentlichen Angriffe durch den Sherif-Deputirten, der ihn begleitete, regelrechte Verhaftungen vorzunehmen.

Der Oberst Gore hatte Sorel seit einigen Stunden verlassen, als der Lieutenant Weir vom 32. Regiment dahin kam, um ihm eine Depesche von Sir John Colborne zu übergeben. Die Depesche war dringender Natur, so daß der Lieutenant sich sofort aufmachte, einen Querweg einschlug und so eilig vorwärts[239] drang, daß er in St. Denis vor den Truppen Gore's eintraf und so den Patrioten in die Hände fiel.

Der mit der Vertheidigung beauftragte Doctor Nelson fragte den jungen Officier aus und entlockte ihm auch wirklich das Geständniß, daß die Königlichen schon auf dem Marsche hierher seien, wo sie etwa am Morgen eintreffen mußten. Dann übergab er ihn der Obhut einiger Männer mit der Empfehlung, die einem Gefangenen gebührenden Rücksichten nicht aus den Augen zu setzen.[240]

Nun wurden die letzten Vorbereitungen in größter Hast getroffen. Unter anderen Compagnien von Patrioten befand sich auch die, welche man allgemein als »Raketen« und als »Biber« bezeichnete, Mannschaften, welche sehr geschickt im Gebrauche der Waffen waren und die sich bei dieser Gelegenheit ganz außerordentlich bewährten. Unter dem Befehle des Doctor Nelson standen auch Papineau und einige Abgeordnete, der General-Commissär Philipp Pacaud, ferner die Herren de Vaudreuil, Vincent Hodge, André Farran, William Clerc und Sebastian Grammont. Auf ein Wort, das ihnen von Johann zukam, waren[241] sie den Reformern zu Hilfe geeilt, wobei sie nur mit Mühe der Polizei in Montreal entgehen konnten.


Halt! und liefert uns die Gefangenen aus! (S. 237.)
Halt! und liefert uns die Gefangenen aus! (S. 237.)

Clary war gleichfalls zu ihrem Vater gekommen, den sie seit dem Weggange von Chipogan nicht wieder gesehen hatte. Nach Erlassung eines Haftbefehls gegen ihn gezwungen, jede Verbindung mit der Villa Montcalm abzubrechen, war Herr de Vaudreuil höchst unruhig, seine Tochter daselbst allein und Gefahren aller Art ausgesetzt zu wissen. Als er sich dann entschlossen, nach St. Denis zu gehen, schlug er ihr vor, ihn dort zu treffen. Clary zauderte nicht, dem Rufe zu folgen, da sie an dem endlichen Siege gar nicht zweifelte, wenn Johann die Führung der Patrioten übernahm. Herr und Fräulein de Vaudreuil waren also vereinigt in dem Flecken, wo das Haus eines Freundes, des Richters Froment, ihnen Unterkunft gewährte.

Inzwischen wurde eine Maßnahme beschlossen, der sich Papineau sehr gegen seinen Wunsch unterwerfen mußte. Der Doctor Nelson und einige Andere, auf deren Anrathen dieselbe erfolgte, stellten dem kampfesmuthigen Abgeordneten vor, daß sein Platz auf dem Schlachtfelde nicht, dagegen sein Leben zu kostbar sei, um es ohne Nothwendigkeit schweren Gefahren auszusetzen. Er sah sich also gezwungen, St. Denis zu verlassen, um sich an einen sicheren Ort zu begeben, wo die Agenten Sir Gilbert Argall's ihn nicht entdecken konnten.

Die ganze Nacht wurde angewendet, Kugeln zu gießen und Patronen zu verfertigen. Der Sohn des Doctor Nelson und seine Genossen, Herr de Vaudreuil und dessen Freunde, gingen, ohne einen Augen blick zu verlieren, an die Arbeit. Leider ließ die Bewaffnung recht viel zu wünschen übrig. Die wenig zahlreichen Gewehre bestanden aus leicht einmal versagenden Steinschloßflinten, welche kaum weiter als hundert Schritte trugen.

Während seiner Fahrten auf dem St. Lorenzo hatte Johann, wie wir erzählten, Munition und Waffen mehrfach vertheilt; da aber jedes Comité in Erwartung eines allgemeinen Aufstandes davon erhalten hatte, konnten diese' nicht auf einem bestimmten Punkte concentrirt sein, was doch in St. Denis und St. Charles, wo es offenbar zum ersten Zusammenstoß kommen mußte, jetzt so nöthig erschien.

Inzwischen marschirte Oberst Gore durch die dunkle kalte Nacht weiter. Kurz vor der Ankunft in St. Denis hörte er von zwei in seine Hände gefallenen französischen Canadiern, daß die Aufständischen ihm den Durchzug durch das Kirchspiel verwehren und auf das äußerste kämpfen würden.[242]

Ohne seinen Leuten die geringste Rast zu gönnen, feuerte Oberst Gore diese vielmehr noch weiter an, mit der Eröffnung, daß sie hier keinen Pardon zu erwarten hätten. Hierauf bildete er aus denselben drei Abtheilungen, postirte die eine in ein kleines Gehölz, das den Flecken im Osten deckte, und die andere längs des Flusses, während die dritte, die einzige Kanone mit sich führend, die Hauptstraße weiter hinab zog.

Um sechs Uhr Morgens stiegen der Doctor Nelson, die Herren Vincent Hodge und de Vaudreuil zu Pferde, um eine Recognoscirung auf dem Wege von St. Ours vorzunehmen. Die Dunkelheit war noch so stark, daß alle Drei beinahe den Vortruppen der Königlichen in die Hände gefallen wären. Sofort umkehrend, eilten sie nach St. Denis zurück. Nun wurde der Befehl ertheilt, die Brücke abzubrechen und mit allen Kirchenglocken zu läuten. Binnen wenigen Minuten strömten die Patrioten in dem Lager zusammen.

Dieselben zählten zwischen sieben- und achthundert Mann, von denen nur eine geringe Anzahl mit Gewehren bewaffnet war, während die Anderen sich mit Sensen, Heugabeln und Aexten ausgerüstet hatten. Alle aber beseelte der feste Vorsatz, sich nöthigenfalls tödten zu lassen, aber die Soldaten des Oberst Gore zurückzuschlagen.

Doctor Nelson vertheilte diejenigen seiner Leute, welche in der Lage waren, ein Feuergefecht zu unterhalten, so, daß davon sechzig im zweiten Stockwerk eines steinernen, an der Landstraße stehenden Gebäudes Platz nahmen, unter ihnen auch Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge; etwa fünfundzwanzig Schritte davon und hinter der Mauer einer dem Doctor gehörigen Brennerei sollten sich gegen dreißig, unter ihnen William Clerc und André Farran, aufstellen; inner halb eines zur Brennerei gehörigen Schuppens fanden noch zehn Mann Platz, unter denselben auch der Abgeordnete Grammont. Die Anderen, welche sich nur mit blanker Waffe schlagen konnten, hatten sich vorläufig hinter den Mauern der Kirche zu halten, um im geeigneten Moment auf die Angreifer einzustürmen.

Zu dieser Zeit – gegen neuneinhalb Uhr Vormittags – ereignete sich ein beklagenswerther Zwischenfall, der später – auch durch eine deshalb angestellte Criminaluntersuchung – niemals vollständig aufgeklärt wurde.

Der Lieutenant Weir, der sich unter Bedeckung auf der Landstraße befand, wollte, als er den Vortrab des Oberst Gore erblickte, entfliehen, um wieder zu diesem zu gelangen. Er that aber einen falschen Tritt, und ehe er Zeit gewann wieder aufzuspringen, war er durch Säbelhiebe getödtet.[243]

Jetzt krachten die ersten Schüsse. Eine auf das steinerne Gebäude geschleuderte Kanonenkugel zerfleischte zwei im oberen Stockwerke befindliche Canadier, während ein dritter, der an einem Fenster stand, tödtlich verletzt wurde. Während einiger Minuten wurden nun von beiden Seiten zahlreiche Flintenschüsse gewechselt. Die ein bequemes Ziel bietenden Soldaten bezahlten sehr theuer die verwerfliche Unklugheit, mit der sie sich dem Feuer dieser »Bauern«, wie ihr Führer sagte, aussetzten. Sie wurden von den Vertheidigern des steinernen Hauses decimirt, und drei Kanoniere fielen mit der Lunte in der Hand neben dem von ihnen bedienten Geschütze. Trotzdem legten die Geschosse desselben bald eine Bresche, und das zweite Stockwerk bot damit keine genügende Sicherheit mehr.

»Nach dem Erdgeschoß! rief der Doctor Nelson.

– Ja, antwortete Vincent Hodge, und von da werden wir auf die Rothröcke desto besser schießen können!«

Alle eilten hinunter und das Gewehrfeuer begann mit erneuter Heftigkeit. Die Reformer bewiesen eine außerordentliche Tapferkeit; ja, einige von ihnen stürmten sogar auf die Landstraße hinaus, wo sie sich ohne Deckung der schlimmsten Gefahr aussetzten. Der Doctor sandte seinen Adjutanten O. Perrault von Montreal ihnen nach, um ihnen den Befehl zum Zurückgehen zu überbringen. Von zwei Kugeln durchbohrt, stürzte Perrault todt zu Boden.

Während einer Stunde kreuzten sich nun schon die Gewehrschüsse – im Ganzen mehr zum Nachtheil der Angreifer, obwohl diese sich hinter dickem Gebüsch und Holzhausen verbargen.

Da befahl der Oberst Gore im Augenblicke darauf, als die Munition schon fast zu Ende ging, dem Capitän Markman, die Stellung der Patrioten zu umgehen.

Dieser Officier sachte dem Befehl nachzukommen, verlor aber dabei den größten Theil seiner Leute. Er selbst fiel, von einer Kugel getroffen, vom Pferde und mußte von seinen Soldaten weggetragen werden.

Das Gefecht nahm für die Königlichen eine üble Wendung. Da drangen von der Landstraße laute Rufe her, und sie sahen jetzt ein, daß sie selbst in die Lage kamen, umzingelt zu werden.

Ein Mann war dort aufgetaucht – derselbe, um den die französischen Canadier die Gewohnheit hatten, sich wie um eine Fahne zu schaaren.

»Johann ohne Namen! Johann ohne Namen!« riefen sie, die Waffen schwingend.[244]

Wirklich war es Johann, an der Spitze von etwa hundert Aufständischen, welche von Antoin, St. Ours und von Contrecoeur gekommen waren. Unter dem Pfeifen der Kugeln und unter dem Sausen der Kanonenkugeln, welche die Fläche des Flusses bestrichen, hatten sie den Richelieu überschritten, wobei eine der letzteren das Ruder im Hintertheile, an dem Johann stand, zerschmetterte.

»Vorwärts, Raketen und Biber!« rief er, seine Begleiter anfeuernd.

Beim Schall seiner Stimme wälzten sich die Königlichen heran. Die, welche sich noch in dem belagerten Hause befanden, machten, ermuthigt durch jene unerwartete Verstärkung, einen Ausfall. Der Oberst Gore mußte zum Rückzuge nach Sorel blasen lassen und ließ mehrere Gefangene und eine Kanone in den Händen der Sieger. Er zählte neben dreißig Todten ebensoviel Verwundete, gegen zwölf Todte und vier Verwundete auf Seiten der Reformer.

So verlief das Treffen bei St. Denis. Binnen wenigen Stunden verbreitete sich die Nachricht von diesem Siege durch die Nachbarkirchspiele von Richelieu und selbst bis zu den Grafschaften am Ufer des St. Lorenzo.

Es war ein ermuthigender Anfang für die Parteigänger der nationalen Sache, freilich nur ein Anfang. Da diese noch die Befehle ihrer Führer erwarteten, rief ihnen Johann, um ihnen die Aussicht auf einen neuen Sieg zu eröffnen, die Worte zu:

»Patrioten, auf nach St. Charles!«

Wir erwähnten schon oben, daß dieser Flecken von der Truppenabtheilung Whiterall's bedroht war.

Kaum eine Stunde später hatten Herr de Vaudreuil und Johann nach dem Abschiede von Clary, welche von dem schönen Erfolge des Tages unterrichtet worden war, sich ihren Genossen auf dem Marsche nach St. Charles wieder angeschlossen.

Hier sollte sich zwei Tage später das Schicksal des Aufstandes von 1837 entscheiden.

In Folge des Zusammenströmens der Reformer war dieser Flecken zum Hauptschauplatze der Empörung geworden, und ebendahin begab sich der Oberstlieutenant Whiterall mit verhältnißmäßig starken Streitkräften.

Brown, Desrivières, Gauvin und Andere hatten die Vertheidigung nach Kräften organisirt. Sie konnten auf diese kampfesfreudige Bevölkerung rechnen, die sich schon durch Vertreibung eines Edelmanns hervorgethan hatte, welchen man einer Begünstigung der Anglo-Canadier verdächtigte. Rings um das in[245] eine Festung verwandelte Haus dieses Edelmanns errichtete Brown ein Lager, in dem sich die ihm zur Verfügung stehenden Streitkräfte sammeln sollten.

Da St. Denis und St. Charles kaum sechs (englische) Meilen von einander entfernt liegen, hörte man im Laufe des 23. den Kanonendonner von dem einen Flecken bis zum anderen. Vor Einbruch der Nacht erfuhren es noch die Bewohner von St. Charles, daß die Königlichen zum Rückzuge nach Sorel gezwungen worden seien. Der moralische Eindruck dieses ersten Sieges war ein sehr tiefer. Aus allen Häusern, deren Thüren weit offen standen, strömten die Bewohner in überquellender patriotischer Freude hervor.

Nur ein einziges öffnete sich nicht, das geschlossene Haus an der Straßenbiegung, das durch seine Lage von dem Kampfplatze etwas entfernt war. Bridget's Haus drohte also etwas weniger Gefahr als den benachbarten Gebäuden, für den Fall, daß das Lager von den königlichen Truppen angegriffen und eingenommen wurde.

Allein zurückgeblieben, wartete Bridget, bereit ihre Söhne aufzunehmen, wenn die Umstände sie nöthigten, bei ihr Schutz zu suchen. Der Abbé Joann besuchte aber damals die Kirchspiele Ober-Canadas und predigte den Aufruhr, während Johann, der sich jetzt nicht länger verborgen hielt, an der Spitze der Patrioten erschienen war. Sein Name hallte jetzt in allen Grafschaften am St. Lorenzo wieder. So wenig Verbindung das geschlossene Haus auch mit der Außenwelt hatte, war doch dieser Name und mit ihm die Nachricht von dem Siege von St. Denis dahin gelangt, mit dem jener so rühmlich verknüpft war.

Bridget fragte sich, ob Johann nicht auch nach dem Lager bei St. Charles kommen und seiner Mutter einen Besuch abstatten werde; ob er nicht die Thür ihrer Wohnung überschreiten werde, um ihr zu sagen, was er noch zu thun gedenke, und vielleicht um sie zum letzten Male zu umarmen. Das hing natürlich von der Fortentwickelung des Aufstandes ab. Bridget hielt sich deshalb zu jeder Stunde des Tages wie der Nacht bereit, ihren Sohn im geschlossenen Hause aufzunehmen.

Bei der Nachricht von der Niederlage vor St. Denis hatte Lord Gosford, in Befürchtung, daß die Sieger die Patrioten von St. Charles verstärken könnten, Befehl ertheilt, die Colonne Whiterall's zurückzuziehen.

Es war schon zu spät. Die durch Sir John Colborne von Montreal abgesendeten Curiere wurden unterwegs aufgehalten, und statt umzukehren, marschirte die Truppenabtheilung auf St. Charles weiter.[246]

Von jetzt ab lag es in keines Menschen Macht, den Zusammenstoß zwischen den Aufständischen dieses Fleckens und den Soldaten der regulären Armee zu verhindern.

Noch am 24. war auch Johann erschienen, um zu den Vertheidigern des Lagers von St. Charles zu stoßen.

Mit ihm eilten die Herren de Vaudreuil, André Farran, William Clerc, Vincent Hodge und Sebastian Gramont gleichzeitig herbei. Zwei Tage vorher hatte der Farmer Harcher mit seinen fünf Söhnen das Dorf St. Albans verlassen können. Sofort überschritten sie die amerikanische Grenze und begaben sich nach St. Charles, entschlossen, ihrer Pflicht bis zum Aeußersten genug zu thun.

Uebrigens zweifelte Niemand mehr an dem entscheidenden Erfolg des Aufstandes, weder die politischen Anführer der Oppositionspartei, noch Herr de Vaudreuil und seine Freunde, weder Thomas Harcher, Pierre, Remy, Michel, Tony und Jacques, seine tapfern Söhne, noch einer der Bewohner des Fleckens, welche besonders stolz waren bei dem Gedanken, daß dieser letzte gegen die angelsächsische Tyrannei geführte Schlag von ihnen ausgehen sollte.

Vor Eröffnung des Angriffs auf St. Charles hatte der Oberstlieutenant Whiterall an Brown und dessen Gefährten das Angebot ergehen lassen, daß ihnen nichts geschehen sollte, wenn sie sich unterwerfen wollten.

Dieser Vorschlag wurde von den Waffengefährten Brown's einstimmig zurückgewiesen. Wenn die Königlichen mit demselben hervortraten, so geschah das ihrer Meinung nach nur, weil sie sich nicht in der Lage befanden, das Lager mit Gewalt zu nehmen. Nein, man wollte sie auf keinen Fall herein lassen, um dort vielleicht blutige Vergeltung zu üben; sobald die Colonne Whiterall's näher kam, sollte sie zurückgeschlagen und versprengt werden. Das war eine neue Niederlage, welche den Königlichen drohte – und dieses Mal eine vollständige Niederlage, welche den endlichen Sieg schon sicherstellen mußte.

So dachte man in den Reihen der Patrioten.

Man würde sich übrigens sehr täuschen mit der Annahme, daß die Vertheidiger des Lagers sehr zahlreich gewesen wären – nur eine handvoll Leute, dafür aber die besten der Partei. Führer und eigentliche Kämpfer berechnet waren ihrer höchstens zweihundert, bewaffnet mit Sensen, Aexten, einfachen Knütteln und Steinschloßgewehren; während sie der königlichen Artillerie nur zwei – noch dazu kaum dienstfähige Kanonen entgegenzustellen hatten.


Ein erster Schuß traf zwei Canadier (S. 244.)
Ein erster Schuß traf zwei Canadier (S. 244.)

Während die Insurgenten sich nun vorbereiteten, die Colonne Whiterall's zu empfangen, marschirte diese trotz der Hindernisse, welche der Winter dieser Gegend ihr in den Weg legte, rasch auf ihr Ziel los. Das Wetter war kalt, der Erdboden steinhart und trocken. Die Mannschaften hielten einen scharfen Schritt[247] ein und die beiden Feuerschlünde rollten über den harten Weg hin, ohne durch Schneehaufen oder aus Wegaushöhlungen geschleppt werden zu müssen.

Die Reformer erwarteten die Truppen. Begeistert durch ihren letzten Sieg und elektrisirt durch die Anwesenheit ihrer Führer, wie Brown, Desrivières,


Johann ohne Namen hatte sich wie ein Löwe geschlagen. (S. 253.)
Johann ohne Namen hatte sich wie ein Löwe geschlagen. (S. 253.)

Gauvin, Vincent Hodge, de Vaudreuil, Amiot, A. Papineau, Marchessault und Maynard, vorzüglich aber durch die Johanns ohne Namen, hatten sie, wie wir wissen, den Vorschlag des Oberstlieutenant Whiterall ohneweiters zurückgewiesen. Seine Aufforderung, sich zu ergeben und die Waffen zu strecken, waren sie bereit mit Flintenschüssen, mit Sensenhieben und Axtschlägen zu beantworten.

Das an dem einen Ende des Fleckens errichtete Lager bot jedoch einige Nachtheile, zu deren Beseitigung es jetzt an der nöthigen Zeit fehlte. War es auch auf der einen Seite durch den Fluß gedeckt und auf der anderen durch ein Baumdickicht, welches das Haus Debartzeh's umgab, vertheidigt, so wurde es von der Rückseite doch von einem Hügel beherrscht.

Die Insurgenten nun waren an Zahl zu schwach, um diesen Hügel besetzen zu können. Gelang es den Königlichen, auf demselben Stellung zu nehmen, so gab es gegen deren Feuer keinen anderen Schutz mehr als das Debartzeh'sche Haus, welches aus Vorsorge schon mit Schießscharten versehen worden war. Immerhin blieb es sehr fraglich, ob dasselbe einem Sturme würde widerstehen können, und ob Brown und seine Gefährten die Macht besitzen würden, den Angreifern darin hinreichenden Widerstand entgegenzusetzen.

Etwa um zwei Uhr Nachmittags ertönte aus der Ferne ein verworrenes Geschrei, und bald bemerkte man in derselben Richtung ein auffallendes Getümmel. Das rührte von einer Menge Frauen, Kinder und alter Leute her, welche quer über das Feld nach St. Charles zu entflohen.

Es waren Landleute, die hier Schutz suchten. In weiterer Ferne stiegen schwärzliche Rauchsäulen von den längs der Straße in Brand gesetzten Häusern auf – so weit man sehen konnte, brannten die Farmen. Inmitten von Ruinen und grausamen Metzeleien, welche ihren Weg bezeichneten, drangen Whiterall's Colonnen vor.

Brown gelang es, diejenigen der Flüchtlinge, welche noch kampffähig schienen, zum Stehen zu bringen, und nach Ueberlassung des Oberbefehls an Marchessault jagte er jetzt selbst auf die Landstraße hinaus, um die Schwachen und Hilflosen zu holen. Nachdem Marchessault alle Maßregeln zur Verlängerung des Widerstandes getroffen, ließ er seine Mannschaft unter dem Schutze der Hecken, welche das Lager umschlossen, antreten.

»Hier, Ihr Leute, sagte er, hier wird sich das Schicksal des Landes entscheiden! Hier müssen wir dasselbe vertheidigen!...

– Bis zum Tode!« antwortete Johann ohne Namen.[251]

In diesem Augenblicke krachten die ersten Schüsse in der Nähe des Lagers, und jeder sah wohl ein, daß die königlichen Truppen von Beginn des Gefechts an die Vortheile auf ihrer Seite hatten.

Sich dem Feuer der Insurgenten, welche längs der Hecken standen und die ihm schon einige Leute getödtet hatten, auszusetzen, das wäre seitens des Oberstlieutenants Whiterall ein kaum zu verzeihender Fehler gewesen. Mit seinen aus drei- bis vierhundert Fußtruppen und Reitern bestehenden Streitkräften, welche noch zwei Feldgeschütze unterstützten, war es ihm ja ein Leichtes, die Vertheidiger des Lagers von St. Charles, wenn er eine das letztere beherrschende Stellung einnahm, zu vernichten. So ertheilte er denn auch Befehl, die Verschläge zu umgehen und den im Rücken der feindlichen Stellung gelegenen Hügel zu besetzen.

Diese Bewegung vollzog sich ohne Schwierigkeiten; die beiden Kanonen wurden auf die Höhe geschleppt, nebeneinander aufgestellt und der Kampf begann nun mit einer auf beiden Seiten gleich großen Entschlossenheit. Das geschah Alles mit solcher Schnelligkeit, daß Brown, der noch dabei war, die sich über das Land zerstreuenden Flüchtlinge zu sammeln, nicht mehr ins Lager zurückkehren konnte und bis nach St. Denis verschlagen wurde.

Trotz ihrer nur sehr mangelhaften Deckung vertheidigten sich die Patrioten mit bewundernswerthem Muthe. Marchessault, Herr de Vaudreuil, Vincent Hodge, Clerc, Farran, Gramont, Thomas Harcher und seine Söhne, sowie Alle, welche mit Gewehren bewaffnet waren, erwiderten Schuß für Schuß das Feuer der Angreifer. Johann ohne Namen trug schon durch seine Anwesenheit allein dazu bei, ihren Muth zu erhöhen. Ihm fehlte hier aber eins, ein eigentliches Kampfesfeld für ein Handgemenge, um die Tapfersten mit sich fortzureißen und sich Mann an Mann auf den Feind zu stürzen. Bei diesem Kampfe auf größere Entfernung erlahmte seine Thatenlust.

Der Kampf dauerte nichtsdestoweniger an, so lange die Hecken noch einigermaßen Schutz gewährten. Wenn die Vertheidiger des Lagers mehr als einen Rothrock hingestreckt hatten, so blieben doch auch ihnen empfindliche Verluste nicht erspart. Von Kanonen- oder Flintenkugeln getroffen, waren ein Dutzend von ihnen gefallen und entweder todt oder doch kampfunfähig gemacht. Unter den ersteren befand sich Remy Harcher, der, von einer Kartätschenkugel mitten durch die Brust getroffen, in seinem Blute schwamm. Als seine Brüder ihn aufhoben, um ihn hinter das Haus zu tragen, war er nur noch eine Leiche.[252]

Hier lag auch schon André Farran mit zerschmetterter Schulter. Herr de Vaudreuil und Vincent Hodge waren, nachdem sie ihn aus dem Feuerbereiche geschafft, wieder an ihren Platz zurückgekehrt.

Bald machte es sich aber nöthig, die erste Deckungslinie zu räumen. Die von den Kanonenkugeln zerrissenen Hecken eröffneten den Feinden Zugang zum Lager, so daß der Oberstlieutenant Whiterall Befehl gab, die Belagerten mit dem Bajonnet anzugreifen. Das wurde zur »wirklichen Schlächterei«, wie die Berichte über diese blutige Episode der franco-canadischen Insurrection sich ausdrückten.

Hierbei fielen tapfere Patrioten, welche nach Erschöpfung ihrer Munition sich nur noch mit Kolbenschlägen wehrten, hier wurden die beiden Hébert getödtet, welche minder glücklich waren als A. Papineau, Amiot und Marchessault, denen es gelang, sich durch die Angreifer nach wüthendem Einzelkampfe durchzuschlagen. Hier unterlagen andere Parteigänger der nationalen Sache, deren Anzahl niemals bekannt geworden ist, da der Fluß eine Menge Leichen hinwegschwemmte.

Unter denjenigen, welche im engeren Zusammenhange mit unserer Erzählung stehen, zählte man ebenfalls einige Opfer. Wenn Johann ohne Namen sich wie ein Löwe geschlagen, wenn er, immer in der ersten Reihe der Seinigen und im dichtesten Handgemenge, heute denen, die mit und die gegen ihn waren, offen gegenüberstand, so war es ein wirkliches Wunder zu nennen, daß er ohne jede Verwundung davon kam, während so viele Andere minder glücklich waren. Nach Remy wurden noch zwei seiner Brüder, Michel und Jacques, von Kartätschensplittern schwer verwundet, von Thomas und Pierre Harcher aus dem Lager weggetragen und damit dem wilden Gemetzel entzogen, mit dem die Königlichen ihren Sieg krönten.

William Clerc und Vincent Hodge hatten sich ebenfalls nicht geschont. Zwanzigmal hatte man sie, Flinte und Pistole in der Hand, sich mitten unter die Belagerer stürzen sehen. Während des hitzigsten Gefechtes waren sie Johann ohne Namen bis zu der auf der Höhe des Hügels befindlichen Batterie gefolgt. Da wäre Johann getödtet worden, wenn Vincent Hodge nicht den Schlag abgelenkt hätte, den ein Unterofficier des Geschützes nach ihm führte.

»Ich danke, Herr Hodge! sagte Johann zu ihm. Vielleicht haben Sie aber doch Unrecht gethan!... Jetzt wäre dann Alles vorbei!«

In der That wäre es vielleicht besser gewesen, wenn Simon Morgaz' Sohn hier auf dem Platze blieb, da die Sache der Unabhängigkeit auf dem Schlachtfelde von St. Charles unterliegen sollte.[253]

Schon hatte Johann sich wieder in das Getümmel geworfen, als er am Fuße des Hügels Herrn de Vaudreuil im Blute schwimmend auf der Erde liegen sah.

Der tapfere Freund seines Vaterlandes war von einem wuchtigen Säbelhiebe getroffen worden, als die Reiter Whiterall's über das Lager hereinsprengten, um die Vernichtung der Aufständischen zu vollenden.

In diesem Augenblick erschien es Johann, als ob eine innere Stimme ihm zurief: »Rette meinen Vater!«

Gedeckt vom Pulverdampfe – schlich sich Johann zu dem bewußtlosen, vielleicht schon gestorbenen Herrn de Vaudreuil hin; er nahm ihn auf die Arme und trug ihn längs der Verschanzungen hin; dann gelang es ihm auch, während die Reiter die Rebellen scharf verfolgten, inmitten der brennenden Häuser den höher gelegenen Theil von St. Charles zu gewinnen und mit seiner Last in die Vorhalle der Kirche zu flüchten.

Es war jetzt um fünf Uhr Abends. Der Himmel wäre schon dunkel gewesen, wenn nicht aus den Ruinen des Fleckens züngelnde Flammen emporstiegen.

Der bei St. Denis siegreiche Aufstand war vor St. Charles niedergeworfen worden, und man konnte nicht einmal sagen, daß das einander ausgeglichen hätte. Nein, diese Niederlage mußte schlimmere Nachtheile für die nationale Sache haben, als der Sieg ihr wirkliche Vortheile gebracht hatte. Da dieselbe auch dem ersteren nachfolgte, vernichtete sie alle Hoffnungen, welche die Reformisten vorher etwa gehegt hatten.

Die Kämpfer alle, welche nicht das Schlachtfeld bedeckten, mußten so eilig flüchten, daß es gar nicht möglich wurde, ihnen einen Befehl zur Wiedersammlung zu ertheilen.

William Clerc sah sich gezwungen, in Begleitung des nur leicht verwundeten André Farran quer hinein ins Land zu entweichen. Nur unter tausend Gefahren gelang es beiden Männern, welche nicht das Mindeste von dem Schicksal de Vaudreuil's und Vincent Hodge's wußten, die Grenze zu überschreiten.

Und was sollte aus Clary de Vaudreuil werden in jenem Hause von St. Denis, wo sie auf Nachrichten wartete? Hatte sie von den Repressalien der Loyalisten nicht Alles zu fürchten, wenn es nicht auch ihr gelang zu entfliehen?

Das waren die Gedanken Johanns, als er sich im Hintergrunde der kleinen Kirche verbarg. Hatte Herr de Vaudreuil auch das Bewußtsein noch[254] nicht wieder so erlangt, fühlte man doch den, wenn auch schwachen Schlag seines Herzens. Bei sorgsamer Pflege konnte er wohl gerettet werden, doch wo und wie würde er diese finden?

Hier galt kein Zögern, er mußte den Verletzten noch diese Nacht nach dem geschlossenen Hause schaffen.

Letzteres lag nicht weit entfernt, höchstens einige hundert Schritte, wenn er die Hauptstraße des Fleckens hinunterging. In der Dunkelheit, wenn die Soldaten Whiterall's St. Charles wieder geräumt, oder wenn sie Nachtquartier bezogen haben würden, wollte Johann ihn aufnehmen und in dem Hause seiner Mutter unterbringen.

Seiner Mutter!... Herr de Vaudreuil bei Bridget!... Bei der Gattin Simon Morgaz'!... Und wenn er nun jemals hörte, unter wessen Dach er ihn geschafft hatte...

Und doch, war er, der Sohn Simon Morgaz', nicht Gast der Villa Montcalm gewesen?... Er nicht der Waffengefährte des Herrn de Vaudreuil geworden?... Hatte er diesen nicht aus den Klauen des Todes gerettet?... War es denn wirklich so schlimm für Herrn de Vaudreuil, sein Leben der Pflege einer Bridget Morgaz zu verdanken?

Er sollte das übrigens nicht erfahren und Niemand das Incognito errathen, in welches sich die unglückliche Familie hüllte.

Nachdem er seinen Beschluß gefaßt, hatte Johann nur noch die gelegene Zeit zur Ausführung – einige Stunden später – abzuwarten.

Dann flogen seine Gedanken nach dem Hause in St. Denis, wo Clary die Niederlage der Patrioten erfahren sollte und, wenn sie ihren Vater nicht wiederkehren sah, vermeinen mußte, daß auch dieser gefallen sei. Doch würde es wohl möglich sein, sie zu benachrichtigen, daß Herr de Vaudreuil nach dem geschlossenen Hause geschafft worden war, und sie selbst den Gefahren zu entziehen, die ihr in jenem der Rache der Sieger preisgegebenen Flecken drohten?

Derlei Befürchtungen lasteten gar schwer auf Johann, neben der Qual, welche der letzte, für die nationale Sache so schreckliche Vorfall ihm bereitete. Jede Hoffnung, die man nach dem Siege bei St. Denis zu hegen berechtigt schien, Alles, was derselbe unmittelbar zu bewirken versprach, nämlich die Erhebung der Grafschaften, die Ausbreitung des Aufstandes über das Thal des Richelieu und des St. Lorenzo, die Brachlegung der königlichen Truppen, die Wiedererlangung[255] der Unabhängigkeit, wobei Johann das Unrecht, welches der Verrath seines Vaters dem Lande zugefügt, wieder gut zu machen geglaubt hatte... Alles war verloren... Alles!

Alles?... Gab es denn keine Möglichkeit, den Kampf noch einmal aufzunehmen? Wäre der Patriotismus im Herzen der französischen Canadier getödtet gewesen, weil wenige Hundert Patrioten bei St. Charles schon mit dem Leben gezahlt hatten?... Nein! Johann konnte sein Werk nicht aufgeben... Er mußte kämpfen bis zum Tode.

Obgleich es schon recht dunkel war, erscholl in dem Flecken doch noch immer das Hurrah der Soldaten und tönte der Schmerzensschrei der Verwundeten durch die von den Flammen erhellten Straßen; nachdem die Feuersbrunst das Lager zerstört, hatte sie sich nämlich den benachbarten Gebäuden mitgetheilt, ohne daß Jemand hätte sagen können, wo sie wieder erlöschen würde. Wenn sie nun bis zum Ausgang des Fleckens weiterfraß... Wenn auch das geschlossene Haus zerstört und Johann weder seine Mutter noch deren Wohnstätte wieder fand?...

Diese Angst drohte ihn fast zu lähmen. Er selbst konnte ja durch das Land entfliehen, konnte die Waldmassen der Grafschaft erreichen und während der Nacht entkommen. Vor Tagesanbruch würde er für seine Person in Sicherheit sein. Doch was sollte dann aus Herrn de Vaudreuil werden? Wenn dieser in die Hand der Königlichen fiel, war er verloren, denn selbst die Verwundeten fanden bei dieser blutigen Affaire keine Schonung.

Gegen acht Uhr schien in St. Charles jedoch einige Ruhe einzutreten. Entweder waren die Einwohner nun vertrieben oder sie hatten sich nach Abzug der Whiterall'schen Colonne in die von dem Brande verschont gebliebenen Gebäude gerettet. Jetzt waren die Straßen menschenleer – jetzt galt es davon zu Nutzen zu ziehen.

Johann näherte sich vorsichtig der Thür der Kirche. Diese halb öffnend, warf er einen prüfenden Blick über den kleinen Platz vor dem Gotteshause und stieg die Stufen der Vorhalle hinab.

Kein Mensch befand sich auf dem von den entfernten Flammen hell erleuchteten Platze.

Johann kehrte zu Herrn de Vaudreuil zurück, der ausgestreckt neben einem Pfeiler lag. Er hob ihn auf und nahm ihn die Arme. Doch selbst für einen so muskelstarken Mann wie Johann bildete der Körper eine sehr schwere Last,


Herr de Vaudreuil wurde von einem Säbelhiebe getroffen. (S. 254.)
Herr de Vaudreuil wurde von einem Säbelhiebe getroffen. (S. 254.)

wenn er diese bis nach der Biegung der Landstraße,[256] wo das geschlossene Haus stand, tragen sollte.

Johann überschritt den Platz und glitt über die nächste Straße hin.

Es war die höchste Zeit. Kaum hatte er einige zwanzig Schritte zurückgelegt, als er laute Rufe vernahm, während der Erdboden von Pferdegetrappel wiederhallte.

Die Reiterabtheilung war es, welche nach St. Charles zurückkehrte. Ehe diese zur weiteren Verfolgung der Flüchtlinge aufbrechen sollte, hatte der Oberstlieutenant[257] Whiterall ihr Befehl gegeben, zur Nachtruhe in den Flecken zurückzukehren, wo sie bis Tagesanbruch verweilen sollte, und gerade die Kirche war zur Unterkunft der Leute ausersehen worden.

Kaum eine Minute nachher hatten sich die Reiter unter dem Schiff derselben eingerichtet, doch nicht ohne sich durch geeignete Maßregeln vor feindlicher Ueberrumpelung zu schützen. Aber nicht die Mannschaften allein machten es sich im Innern der Kirche bequem, nein, auch die Pferde waren in dieser mit untergestellt worden. Da ist es wohl kaum nöthig, auf die Profanationen hinzuweisen, denen sich die wilde Soldateska, von Blut und Gier berauscht, in diesem, dem katholischen Cultus geweihten Gebäude hingab.

Johann ging die verlassene Straße weiter hinunter und machte nur dann und wann Halt, um einmal Athem zu schöpfen. Immer quälte ihn die Furcht, je mehr er sich dem geschlossenen Hause näherte, nur dessen Ruinen wiederzufinden.

Endlich erreichte er die Straße und blieb vor der Wohnung seiner Mutter stehen. Die Feuersbrunst hatte sich nach dieser Seite hin nicht ausgebreitet. Das Haus war unversehrt, im Schatten verloren. Durch seine Fenster drang nicht die Spur eines Lichtstrahls.

Herrn de Vaudreuil tragend, stand Johann jetzt vor der Gitterthür, welche den kleinen Vorhof abschloß; er stieß dieselbe auf, schleppte sich bis zur Hausthür und gab das verabredete Zeichen.

Einen Augenblick später waren Herr de Vaudreuil und Johann im Hause der Bridget Morgaz in Sicherheit.

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 238-258.
Lizenz:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Lotti, die Uhrmacherin

Lotti, die Uhrmacherin

1880 erzielt Marie von Ebner-Eschenbach mit »Lotti, die Uhrmacherin« ihren literarischen Durchbruch. Die Erzählung entsteht während die Autorin sich in Wien selbst zur Uhrmacherin ausbilden lässt.

84 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon