Achtes Kapitel.
Das Korallenmeer.

[115] Etwa vierzehnhundert Seemeilen trennen die Insel Norfolk von Neuirland. Nach Zurücklegung der ersten fünfhundert Meilen mußte der »James-Cook« als erstes Land die französische Besitzung Neukaledonien in Sicht bekommen, an das sich die kleine Gruppe der Loyalitätsinseln anschließt.

Begünstigten Wind und Wasser die weitere Fahrt der Brigg, so mußten für den ersten Teil der Reise fünf und für den zweiten zehn Tage völlig ausreichen.

Das Leben an Bord ging seinen gewohnten Gang. Regelmäßig vollzog sich die Ablösung der Wachen in der Eintönigkeit günstig verlaufender Seefahrten, die deshalb aber ihres Reizes nicht entbehren. Seeleute und Passagiere pflegen sich ja für den geringsten Zwischenfall zu interessieren... für jedes vorüberkommende Schiff, für eine Vogelschar, die gelegentlich die Takelage umflattert, oder für eine Gruppe von Cetaceen, die sich im Kielwasser des Fahrzeuges tummelt.

Sehr häufig saßen die Gebrüder Kip auf dem Hinterdeck im Gespräch mit Hawkins, woran sich auch der Kapitän und sein Sohn gern beteiligten. Die Holländer gaben dabei auch ihrer Besorgnis wegen der Lage des Geschäftshauses in Groningen unverhohlen Ausdruck und betonten, wie dringend notwendig es sei, daß Pieter Kip die Leitung der vielleicht schon in ihrem Kredit erschütterten Firma baldigst übernehme. Weder der eine noch der andere verhehlte seine Befürchtungen, wenn sich beide mit dem Reeder über dieses Thema unterhielten.

Hawkins bemühte sich, ihnen guten Mut zuzusprechen. Die beiden Brüder würden schon Kredit finden, und die Geschäftsauflösung – wenn sie sich nicht umgehen ließe – würde ohne Zweifel unter günstigeren Verhältnissen verlaufen, als sie es jetzt befürchteten. Die sorgenvolle Unruhe Karl und Pieter Kips war freilich nur allzu gerechtfertigt durch die Verzögerung ihrer Heimreise infolge des Schiffbruches der »Wilhelmina«.[115]

Der Leser erinnert sich wohl des Eindruckes, den Karl und Pieter auf Vin Mod gemacht hatten. Daß auf ihre Mithilfe zur Ausführung seiner verruchten Pläne nicht zu rechnen war, lag ja auf der Hand. Die Schiffbrüchigen waren keine gewissen- und skrupellosen Abenteurer. Geistig und moralisch der Klasse, aus der die Matrosen gewöhnlich hervorgehen, überlegen, machte ihre Anwesenheit an Bord schon jeden Versuch einer Meuterei fast unmöglich.

Danach kann man sich auch leicht vorstellen, welche Gedanken Flig Balt und Vin Mod bei ihrem ersten Gespräche, an dem auch Len Cannon teilnahm, über die veränderte Sachlage austauschten.

Bezüglich der Gebrüder Kip ging die Ansicht des Bootsmannes dahin, daß sie sich gegebenen Falles auf die Seite des Reeders und des Kapitäns stellen würden.

Len Cannon dagegen, der andere gern nach sich selbst beurteilte, schien dieser Meinung nicht zu sein.

»Weiß man denn genau, entgegnete er, wer und was diese Holländer sind?... Hat jemand ihre Papiere gesehen? Nein... nicht wahr?... Und warum ihnen dann aufs Wort glauben? Da sie beim Schiffbruche obendrein alles, was sie besaßen, verloren haben, haben sie ja nur alles zu gewinnen!... Ich habe mehr als einen gekannt, der wie ein waschechter Biedermann aussah, und sich doch als etwas ganz anderes entpuppte, wenn sich die Gelegenheit zu einem vorteilhaften Handstreiche bot.

– Wirst du es unternehmen, sie dazu zu bestimmen? fragte Flig Balt achselzuckend.

– Nein... ich natürlich nicht, antwortete Len Cannon. Matrosen können ja nicht mit Passagieren in nähere Verbindung treten, und Passagiere sind sie nun einmal, die uns quer über den Weg gelaufen sind.

– Len hat recht, bestätigte Vin Mod, weder er noch ich kann etwas derartiges unternehmen.

– So?... Dann fiele es wohl mir zu? fragte der Bootsmann.

– Nein, auch dir nicht, Flig Balt.

– Und wem denn sonst?...

– Dem neuen Kapitän des ›James-Cook‹.

– Wie?... Dem neuen Kapitän? rief Flig Balt verwundert.

– Was verstehst du darunter, Mod? fragte Len Cannon.[116]

– Nun, sehr einfach, erwiderte Vin Mod, daß man mindestens Kapitän sein muß, um mit den schönen Herren Kip zu verhandeln. Dazu wird es natürlich nötig... und solange das noch nicht geschehen ist...

– Ja, was denn? rief Flig Balt ungeduldig über dieses Zaudern des Matrosen.

– Es ist dazu eins nicht zu umgehen, fuhr Vin Mod ebenso zögernd fort, ja, ich komme immer auf meinen ersten Gedankengang zurück. Nehmen wir an... Gibson stürzt ins Meer... in der Nacht... ein unglücklicher Zufall... Wer soll dann an Bord befehligen?... Offenbar der bisherige Bootsmann Balt. Der Reeder und der junge Mensch verstehen nichts von der Seefahrt, und statt daß wir die Brigg dann nach Port Praslin führen oder gar damit nach Hobart-Town zurücksegeln... nun ja, wer weiß denn, was später geschieht...«

Ohne seine Gedanken jetzt noch weiter auszuführen und im Grunde entschlossen, auf den ersten Plan nicht zu verzichten, fuhr der Matrose ablenkend fort:

»Wahrlich, das nennt man doch starkes Pech haben! Zuerst jener Aviso, der uns nicht von der Seite weicht, zweitens Hawkins und Nat Gibson, die in Wellington an Bord kommen, und drittens auch noch die zwei Holländer, die als Passagiere aufgenommen werden... das macht vier Männer mehr! Gerade so viele, wie wir in der Dunediner Schenke zu den ›Three-Magpies‹ glücklich gewonnen hatten. Das sind ja alles brauchbare Burschen. Jene zählen nun acht gegen uns sechs... ich wünsche ihnen aber acht haltbare Strickenden an den Hals!«

Flig Balt hörte mehr zu, als daß er sprach. Die Aussicht, den Befehl über das Schiff zu bekommen, war ja geeignet, ihn noch weiter in Versuchung zu führen. Einen Unfall herbeizuführen, wobei Gibson von der Bildfläche verschwand, das erschien ihm ratsamer als ein offener Kampf gegen die Passagiere des »James-Cook« und gegen die Hälfte seiner Mannschaft.

Len Cannon warf dagegen jedoch ein, daß sechs entschlossene Männer doch mit achten fertig werden müßten, die sich keines Angriffes versähen, wenn man nur so rasch über sie herfiele, daß sie sich über den Vorgang gar nicht erst klar werden könnten. Zunächst würde es ja genügen, sich zweier von ihnen, gleichviel welcher, zu entledigen, dann stünde die Partie gleich u. s. w.

»Das muß nun aber, schloß er seine Worte, in der kommenden Nacht geschehen. Stimmt Meister Balt dem zu, so werde ich die anderen vorbereiten, und morgen... morgen fährt die Brigg hinaus in die Weite...[117]

– Nun, Balt, was meint Ihr dazu?« fragte Vin Mod.

Der Bootsmann verhielt sich auch dieser Aufforderung gegenüber noch schweigend.

»Heraus mit der Sprache!... Also einverstanden?«... bedrängte ihn Len Cannon.

In diesem Augenblicke rief Gibson, der sich auf dem Hinterdeck befand, Flig Balt zu sich, und dieser folgte der Aufforderung anscheinend recht gern.

»Er will also nicht mitmachen? wendete sich Len Cannon an Vin Mod.

– O doch, antwortete der Matrose, und wenn nicht in der nächsten Nacht, so doch, wenn sich die passende Gelegenheit bietet.

– Und wenn sich eine solche nicht bietet?...

– Dann werden wir sie herbeizuführen wissen, Cannon!

– Jedenfalls, erklärte der Matrose, muß das vor dem Eintreffen in Neuirland sein. Meine Kameraden und ich, wir haben auf der Brigg nicht Heuer genommen, um unter dem Befehl des Kapitäns Gibson zu fahren, und das versichere ich dir, Mod: wenn die Sache nicht von hier bis dahin ausgeführt ist, laufen wir euch in Port Praslin davon.

– Einverstanden, Len...

– Also abgemacht, Mod! Wir bringen den ›James-Cook‹ auf keinen Fall nach Hobart-Town zurück, denn dort müßten wir auch nur sofort die Beine unter die Arme nehmen!«

Vin Mod fühlte sich im Grunde doch etwas beunruhigt wegen der Zögerung Flig Balts. Er kannte dessen vorsichtige Natur, die ihn mehr schlau als kühn handeln ließ. Er hatte sich auch schon längst vorgenommen, ihn gelegentlich so fest zu engagieren, daß er nicht mehr zurückweichen könnte. Dabei begriff er recht wohl, daß ein glücklicher Erfolg des schwarzen Planes nur dann in Aussicht stand, wenn die Führung des Schiffs in die Hand des Bootsmannes überging. Übrigens versprach er sich, Len Cannon im Zaume zu halten, da dessen Ungeduld die ganze Sache zu gefährden drohte.

Die Fahrt verlief in günstigster Weise weiter. Am Tage blieb es windig bis zur frischen Brise, und gegen Abend wurde es stiller, die Nächte waren so schön und so erquickend nach der Hitze des Tages, die in gleichem Verhältnisse zunahm, wie die Brigg sich dem Wendekreise des Steinbocks näherte. Hawkins, Gibson mit seinem Sohne, und Karl und Pieter Kip blieben deshalb auch plaudernd und rauchend immer sehr lange, zuweilen bis zum ersten Morgengrauen,[118] auf dem Deck bei einander sitzen. Auch die meisten Matrosen gaben, selbst wenn sie keine Wache hatten, der freien Luft den Vorzug vor der erstickenden Atmosphäre des Volkslogis. Unter diesen Verhältnissen wäre es unmöglich gewesen, Hobbes, Burnes und Wickley zu überrumpeln, denn alle drei wären im Augenblicke zur Abwehr fertig gewesen.

Der Wendekreis wurde am Nachmittage des 7. Novembers erreicht. Fast gleichzeitig damit kamen die Pinieninsel und die Höhen von Neukaledonien in Sicht.

Die große Insel Bolade oder Baladea – kanakische Namen für Neukaledonien – hat von Südosten nach Nordwesten nicht weniger als zweihundert Seemeilen Länge und fünfundzwanzig bis dreißig Seemeilen Breite. Zu ihr gehören der Lage nach die Pinieninseln, Beaupré, Botanique und Hohohana, an der Ostseite die Gruppe der Loyalitätsinseln, deren südlichste die Insel Britannia ist.

Der neukaledonische Archipel gehört bekanntlich zu dem Kolonialbesitze Frankreichs. Er bildet einen Deportationsort, wo sehr viele Verbrecher gegen das gemeine Recht ihre Strafe verbüßen. Obwohl einzelne Entweichungen von hier vorgekommen sind, ist es doch sehr schwierig, aus diesem Gefängnis bei den Antipoden zu entfliehen. Dazu bedarf es der Hilfe von außen, jedenfalls eines zu diesem Zwecke bereit liegenden Schiffes, auf welche Weise auch wirklich schon einige Deportierte (politische Strafgefangene) entwichen sind. Sind solche Flüchtlinge aus Mangel an Booten gezwungen, nach einem Schiffe hinaus zu schwimmen, so sind sie auch noch den Zähnen der furchtbaren Haifische ausgesetzt, von denen es zwischen den Klippen wimmelt.

Übrigens ist es, mit Ausnahme des Hafens von Numea, der Hauptstadt der Insel, kaum möglich, an diesem Archipel zu landen, der durch madreporische Bänke und die daran anstürmende, wilde Brandung dagegen geschützt ist.

Sich auf einem nördlichen Kurse haltend, segelte der »James-Cook« ein gutes Stück seitwärts von der Küste der Insel hin. Bei der zwei bis drei Seemeilen betragenden Entfernung traten die Einzelheiten der Landmasse jedoch noch deutlich sichtbar hervor, vor allem die amphitheatralisch aufsteigenden Hügel an der Küste, die so kahl und dürr aussehen, daß sie zu dem Glauben verleiten, die ganze Gruppe müsse stark an Unfruchtbarkeit leiden. Auch der Kapitän Cook hatte sich 1774 hierdurch täuschen lassen, als er diese neuen Inseln[119] entdeckte, deren hydrographische Aufnahme der französische Admiral d'Entrecasteaux erst 1792 und 1793 vervollständigte.

Die Verhältnisse liegen hier aber ganz anders. Die auf sechzigtausend Seelen geschätzte Bevölkerung Neukaledoniens sieht ihre Bedürfnisse bequem durch die Produkte des reichen Inselbodens gedeckt, denn dieser erzeugt in großer Menge Yamswurzeln, Zuckerrohr, Taro, Hibiskus, Pinien mit eßbaren Früchten, Bananen, Orangen, Kokospalmen, Brod- und Feigenbäume, sowie Zimtbäume, und das Innere ist erfüllt mit ausgedehnten Urwäldern, worin die Bäume oft eine erstaunliche Größe erreichen.

Im Laufe des 9. Novembers konnten Hawkins, Nat Gibson und die beiden Brüder hinter dem Uferlande die hohe Bergkette betrachten, die das Skelett der Insel bildet. Von Bergbächen zerrissen, wird sie von einzelnen Gipfeln noch weiter überragt, darunter vom Mont Kogt, Mont Nu, Mont Arago und vom Homedebua, der über fünfzehnhundert Meter emporsteigt. Brach dann die Nacht herein, so sah man nichts weiter als die – auch allmählich erlöschenden – Feuer der im Hintergrunde vieler Buchten siedelnden Kanaken.

Auch Flig Balt, Vin Mod, Len Cannon und dessen Kameraden hielten den Blick auf die Insel geheftet, freilich mit anderen Gedanken als die übrigen. Sie konnten ja nicht vergessen, daß sich hier mehrere hundert Verurteilte aufhielten, von denen sie gern ein halbes Dutzend noch an Bord genommen hätten.

»Da drüben, bemerkte Vin Mod, gibt es einen ganzen Haufen tüchtiger Kerle, die mit Freuden dabei wären, sich eines guten Schiffes zu bemächtigen und damit den Großen Ozean zu befahren. Hätten nur wenigstens einige darunter den Gedanken, heute Nacht zu entfliehen!... Wenn dann ihr Boot an der Brigg anlegte, wenn sie sich dann auf das Deck schwängen, ohne Hawkins und den Kapitän darum um Erlaubnis zu fragen... wie schnell würden wir uns mit ihnen verständigen...

– Gewiß, meinte Cannon, es wird nur keiner kommen.«

Er sollte damit recht behalten. Gegebenen Falles aber wären Flüchtlinge von Numea, wenn sie nicht unbemerkt an Bord gelangten, gewiß nicht in gleicher Weise aufgenommen worden, wie die Schiffbrüchigen von der »Wilhelmina«. Ein ehrbares Schiff begünstigt niemals die Flucht von Verbrechern.

Als am nächsten Tage, am 8., von Neukaledonien noch der nördliche Teil in Sicht war, segelte der »James-Cook« am Nachmittage noch an denletzten, gegen hundert Seemeilen nach Norden hinausreichenden Klippen der Insel vorüber und schlug dann einen Kurs quer durch das Korallenmeer ein.

Bei günstigem Winde konnte die Brigg die Strecke von neunhundert Seemeilen, die Neukaledonien von Neuirland trennt, binnen zehn Tagen zurücklegen.

Dieses Korallenmeer ist nach dem Urteil der Kapitäne eines der gefährlichsten Fahrwässer der Erde. Über zwei volle Breitengrade hin ist es über und unter seiner Oberfläche mit madreporischen Spitzen durchsetzt, vielfach von Korallenbänken versperrt und von unregelmäßigen, wenig bekannten Strömungen durchflossen.


Das ruhige Meer überflutete die Hauptkabine nicht. (S. 126.)
Das ruhige Meer überflutete die Hauptkabine nicht. (S. 126.)

Hier sind auch schon viele Fahrzeuge spurlos zu Grunde gegangen. Es wäre wirklich geboten, dieses Meer ebenso mit Baken zu besetzen, wie das bei vielen Buchten Europas und Amerikas geschehen ist. In der Nacht des 10. Juni 1770 war auch, trotz recht handlichen Windes und klarsten Mondscheins, der berühmte Cook hier nahe daran gewesen, Schiffbruch zu erleiden.

Heute durfte man jedoch hoffen, daß Gibson jede Gefahr zu vermeiden wissen werde, daß der Rumpf seiner Brigg nicht, wie es dem englischen Seefahrer begegnet war, so heftig gegen eine der harten Felsenspitzen stieße, daß es notwendig würde, ein Segel unter dem Kiel hin auszubreiten, um ein Leck wenigstens notdürftig zu schließen. Immerhin mußte die Mannschaft Tag und Nacht scharf Ausguck halten um Klippen aus dem Wege zu gehen. Gegenwärtig konnte man sich schon, dank den neueren, sorgsamen hydrographischen Aufnahmen, auf die an Bord vorhandenen Seekarten verlassen. Übrigens durchsegelte Gibson das Korallenmeer nicht zum ersten Male und war mit dessen Gefahren hinlänglich vertraut.

Auch Karl Kip hatte dieses schwierige Fahrwasser schon besucht, entweder auf der Fahrt nach Osten auf die Torresstraße zu oder wenn er vom äußersten Osten auf dem Rückwege aus dem Haraforas-(Alfuras-)meer kam. An Aufmerksamkeit sollte es an Bord der Brigg gewiß nicht fehlen.

Im allgemeinen begünstigte die Witterung die Reise des »James-Cook«, der bei dem beständigen Wehen der Passate des Großen Ozeans schnell dahinglitt, ohne viele Segelmanöver notwendig zu machen.

Die Meeresgegend hier wird übrigens wenig besucht. In der Richtung auf Europa zu schlagen die Handelsschiffe, wenn sie von den Philippinen, den Molukken, den Sundainseln oder Indo-China kommen, den weit kürzeren Weg durch den Indischen Ozean, den Suezkanal und durch das Mittelländische Meer ein. Die Dampfer vermeiden gern das heimtückische Korallenmeer, wenn[123] sie nicht gerade auf dem Wege nach den Häfen des westlichen Amerika sind. Sonst begegnet man hier nur Seglern, die den Weg um das Kap Horn dem um das Kap der Guten Hoffnung vorziehen, oder denen, die – wie der »James-Cook« – die große Küstenfahrt zwischen Australien, Neuseeland und den nördlich davon gelegenen Inselgruppen betreiben. Es kommt hier also nur selten vor, daß man ein Segel am Horizonte wahrnimmt. Die Fahrt verläuft deshalb meist recht eintönig, und wenn sich die Schiffsmannschaften darum nicht besonders bekümmern, so müssen sich doch die etwaigen Passagiere, denen eine Reise hier kein Ende zu nehmen scheint, wohl oder übel mit diesem Umstande abfinden.

Als Nat Gibson am Nachmittage des 9. Novembers kurze Zeit auf dem Vorderdeck an der Reling gestanden hatte, rief er seinen Vater, der eben aus dem Deckhause trat, heran und wies ihn auf eine schwärzliche Masse hin, die von Backbord aus etwa zwei Seemeilen draußen zu sehen war.

»Sieh dort, Vater, sagte er, sollte das vielleicht ein Riff sein?

– Ich glaube nicht, antwortete Gibson. Erst zu Mittag hab' ich ein gutes Besteck aufnehmen können, und ich bin mir über unsere Lage klar.

– Auf der Karte ist hier kein Riff, keine Korallenbank angegeben?

– Nein, nichts davon, Nat.

– Irgend etwas befindet sich aber doch da draußen«...

Der Kapitän sah durch das Fernrohr hinaus.

»Ich kann leider noch nichts richtig erkennen,« sagte er danach.

Eben traten auch die beiden Brüder und Hawkins zu dem Kapitän und seinem Sohn heran. Aufmerksam betrachteten sie die unregelmäßig gestaltete Masse, die man recht wohl hätte für einen Korallenfelsen halten können.

»Nein, nein, erklärte Karl Kip, nachdem auch er sich des Fernrohrs bedient hatte, ein Riff ist das nicht.

– Die Masse scheint sich ja mit den Wellen zu heben und zu senken«, sagte Hawkins.

In der Tat lag der noch unerkennbare Gegenstand nicht unbeweglich auf dem Meere, sondern folgte dem Auf- und Abwogen des Seeganges.

»Obendrein, bemerkte Karl Kip, sieht man daran keine Brandung anschäumen.

– Ja, man möchte glauben, die Masse triebe langsam weiter,« setzte Nat Gibson hinzu.

Der Kapitän rief jetzt Hobbes, der am Steuer stand, den Befehl zu:[124]

»Leicht anluven, damit wir mehr in die Nähe der Trift kommen!

– Sofort, Herr Kapitän,« antwortete der Matrose, der das Steuerrad schon ein wenig drehte.

Zehn Minuten später lag die Brigg ziemlich nahe an dem Gegenstande der allgemeinen Aufmerksamkeit.

»Das ist eine Seetrift... rief Karl Kip.

– Ja wahrhaftig, eine Trift!« bestätigte Gibson.

Jetzt bestand kein Zweifel mehr, da draußen, seitwärts vom »James-Cook«, schwamm der Rumpf eines Fahrzeugs.

»Sollten das die Überreste der ›Wilhelmina‹ sein?« fragte Hawkins.

Das erschien ja nicht unmöglich. Leute, zwanzig Tage nach dem Zusammenstoß, konnten die Wrackstücke des Dreimasters reckt wohl bis hierher getrieben worden sein.

»Herr Kapitän, begann da Pieter Kip, würden Sie uns gestatten, die Trift näher zu untersuchen? Wenn sie von der ›Wilhelmina‹ herrührt, könnten wir dort vielleicht noch mancherlei finden...

– Und außerdem, fiel Hawkins ein, wär' es ja möglich, daß sich noch Menschen darauf befänden, die zu retten es die höchste Zeit wäre.«

Etwas weiteren bedurfte es nicht: sofort erging der Befehl, in den Wind zu kommen und zwei bis drei Kabellängen von der Trift zu brassen.

Einen Augenblick flatterten die Segel, dann spannten sie sich an und die Brigg glitt einige Minuten in der veränderten Richtung hin.

»Ja ja, rief jetzt Karl Kip, das ist die ›Wilhelmina‹... das sind die Reste des Hinterdecks mit dem Deckhause.«

Flig Balt und Vin Mod, die nebeneinander standen, sprachen gedämpften Tones miteinander.

»Das fehlte uns bloß noch, da von dem Wracke vielleicht noch ein oder zwei Mann aufzunehmen!«

Der Bootsmann begnügte sich mit einem Achselzucken. Es war ja kaum anzunehmen, daß sich noch Schiffbrüchige auf dem Wrack befänden.

In der Tat wurde auch niemand sichtbar. Befanden sich hier noch einzelne Menschen, so hätten sie sich, und selbst wenn sie vor Entbehrung halbtot gewesen wären, jetzt auf jeden Fall gezeigt, hätten der Brigg sich gewiß schon längst durch Signale bemerkbar ge macht... doch nein: hier war keine Seele.

»Das kleine Boot ausgesetzt!« befahl Gibson, der sich an Flig Balt wandte.[125]

Das Boot wurde sofort von seinen Dävits hinabgelassen. Drei Matrosen, Vin Mod, Wickley und Hobbes, nahmen auf den Ruderbänken Platz. Dann stiegen Nat Gibson und die beiden Brüder ein, von denen Karl Kip das Steuer ergriff.

Es war wirklich das Achterdeck der »Wilhelmina«, was man hier vor sich sah, und darauf stand das Deckhaus äußerlich ziemlich unversehrt von dem Schiffsunfalle. Der ganze Vorderteil fehlte; er mochte wohl infolge des Gewichtes der Fracht versunken sein, wenn ihn die Meeresströmung nicht schon weiter weggetragen hatte. Der Schiffsjunge Jim, der bis zum Eselshaupt des Großmastes hinausgeschickt worden war, rief aber herunter, daß auf dem Meere nirgends noch etwas zu sehen wäre.

Am unbeschädigten Heck des Schiffes las man die beiden Namen:

»Wilhelmina. Rotterdam.«.

Das Boot legte an dem Wracke an. Stark nach links geneigt schwamm noch das Deckhaus mit einem Teile des Deckes, auf dem auch die. jetzt gänzlich überflutete Kambüse gestanden hatte. Von dem Besanmast, der mitten durch die gemeinschaftliche Kajüte ging, ragte nur noch ein zwei bis drei Fuß langer Stumpf empor. Der Mast war in der Höhe der Kimpen gebrochen, von wo noch einige Tauenden herabhingen. Vom Giekbaume, der bei dem Zusammenstoße abgerissen wurde, war nichts mehr zu sehen.

Übrigens war es leicht, in das Deckhaus einzudringen. Dessen Tür war aufgesprengt und nur zuweilen wälzte sich ein mäßiger Wasserschwall hinein.

Jetzt galt es also, auf das Wrack zu gelangen, die Kabinen neben der gemeinschaftlichen Kajüte zu durchsuchen, und vorzüglich die der beiden Brüder.

Die Kabinen des Kapitäns und des Steuermannes, die weiter nach vorn zu lagen, erwiesen sich gänzlich zerstört.

Karl Kip steuerte das Boot so, daß es sich längs des Wracks anlegte; von dieser Stelle aus konnte man das Deck erklettern, nachdem Vin Mod ein Seil an einer Schanzkleidstütze des Steuerbords befestigt hatte.

Das augenblicklich ziemlich ruhige Meer überflutete die Hauptkabine nicht, sondern schwabbte nur auf dem Reste des Verdeckes hin und her. Zuweilen hob sich auch der – vollständig entleerte – Rumpfteil hoch aus dem Wasser.

Karl und Pieter Kip, Nat Gibson und Vin Mod überließen das Boot der Obhut der Matrosen und drangen in das Deckhaus ein.[126]

Zunächst mußte hier nachgesehen werden, ob viel leicht noch ein Lebender von der »Wilhelmina« zu finden wäre. Es erschien ja nicht unmöglich, daß einzelne Leute von der Mannschaft in der Deckhütte Zuflucht gefunden hätten, als der andere Teil des Fahrzeugs unterging.

Vergeblich... hier traf man kein lebendes Wesen an. Jedenfalls wurde es auch niemals aufgeklärt, ob der Kapitän und der Obersteuermann ihre Kabinen noch hatten verlassen können, oder ob sich vielleicht gar der Vorderteil des Schiffes mit einem Teile der Mannschaft darauf hatte noch eine Zeitlang schwimmend erhalten können. Höchstwahrscheinlich bildete jedoch das, was der »James-Cook« hier gefunden hatte, alles, was von der »Wilhelmina« noch übrig war.

Der Stoß, mit dem das eine Schiff das andere getroffen hatte, mußte mit furchtbarer Gewalt erfolgt sein. Der trotz des Nebels mit größter Fahrgeschwindigkeit dahineilende Dampfer war gleich einem Riesengeschosse durch den Rumpf des Dreimasters gedrungen, vielleicht sogar ohne ernsthaftere Beschädigungen zu erleiden, die ihn an der Fortsetzung seiner Fahrt gehindert hätten. Ob er hatte stoppen, seine Boote aufs Meer setzen und einige Schiffbrüchige hatte retten können... das blieb eine ungelöste Frage.

Bis zum Knie im Wasser watend, durchsuchten die beiden Brüder nebst Nat Gibson und Vin Mod die gemeinschaftliche Kajüte.

In ihrer Kabine fanden Karl und Pieter Kip noch verschiedene, mehr oder weniger beschädigte Gegenstände, darunter Kleidungsstücke, Leibwäsche, Toilettengeräte und auch zwei Paar Schuhe. Auf ihren übereinanderliegenden Lagerstätten befand sich ferner noch das Bettzeug, das zusammengerafft und nach dem Boote gebracht wurde.

Sehr wünschenswert wäre es gewesen, wenn die beiden Brüder auch ihre Papiere hätten wiedererlangen können, vorzüglich die, die auf das Kontor in Amboina und auf das Geschäftshaus in Groningen Bezug hatten. Der Verlust dieser Schriftstücke erschwerte ja sehr empfindlich die Ordnung ihrer geschäftlichen Angelegenheiten. Leider fand sich davon keine Spur mehr; das Wasser, das ja zeitweise auch hier eingedrungen war, hatte sein Zerstörungswerk schon vollendet. Ebenso war es mit einer Summe von tausend Piastern, die Pieter Kip gehörten, aber verschwunden waren, da der Zusammenstoß das Wandschränkchen, worin sie aufbewahrt waren, völlig zertrümmert hatte.

»Nichts... hier findet sich nichts mehr!« sagte der jüngere Kip.[127]

Während der Durchsuchung der Hauptkajüte durchstöberte Vin Mod, getrieben von seiner raubsüchtigen Natur, schon alle Winkel und war dabei auch in die Kabine der beiden Brüder gekommen.

Da entdeckte er unter der unteren Lagerstatt in einem Schubkasten einen Gegenstand, den die beiden Brüder bei ihrer Nachsuchung übersehen hatten.

Es war ein Dolch, wie ihn die Malaien führen, ein sogenannter Kriß mit Sägezähnen, der bei dem Unfalle zwischen zwei auseinander gewichene Bretter geraten war. Die bei den Bewohnern der pacifischen Inseln sehr verbreitete Waffe hatte übrigens keinen besonderen Wert und hätte höchstens zur Vervollständigung einer Ritterrüstung in der Sammlung eines Liebhabers dienen können.

Ob sich Vin Mod bei der Aneignung dieser Waffe von einem geheimen Gedanken leiten ließ, wer hätte das sagen können? Jedenfalls ergriff er den Kriß, steckte ihn, ohne von jemand beobachtet zu werden, unter seine Jacke mit der Absicht, ihn bei der Rückkehr nach der Brigg in seinem Sacke aufzubewahren.

Hätte er statt dieser Handwaffe Pieter Kips tausend Piaster gefunden, so würde er sie sicherlich ohne Gewissensbisse ebenso entführt haben.

An Bord des verunglückten Fahrzeuges war nun nichts mehr zu bergen. Alle Dinge, Kleidungsstücke, Leibwäsche und Bettausrüstung, wurden in das Boot geschafft. Das Wrack mußte übrigens binnen kurzem gänzlich auseinanderbrechen. Der vom Wasser halb zerstörte Bodenbelag der gemeinsamen Kajüte gab schon unter dem Fuße nach. Nur noch einmal schlimmeres Wetter, und es trieben nur noch formlose Bruchstücke auf dem Meere hin.

Die Brigg lag gegengebraßt seitwärts von dem Wracke, glitt mit der Strömung aber schon langsam weiter. Dazu frischte der Wind etwas auf der Seegang wurde lebhafter, es empfahl sich also, bald an Bord zurückzukehren. Wiederholt hörte man auch das Sprachrohr des Bootsmannes, der die Leute im Boote zur Umkehr antrieb.

»Man ruft uns zu, zurückzukommen, sagte Nat Gibson, und da wir hier alles geholt haben, was noch zu holen war...

– Wollen wir dem Rufe folgen, fiel Karl Kip ein.

– Du arme, arme ›Wilhelmina‹!« murmelte Pieter Kip.

Beide Brüder suchten die Empfindungen, die sie jetzt bestürmten, gar nicht zu verhehlen. Hatten sie vorher noch gehofft, einen Teil von dem, was[128] sie besaßen, wiederzufinden, so mußten sie jetzt auf jede derartige Hoffnung verzichten.

Das Boot warf sein Halteseil los. Nat Gibson setzte sich aus Steuer, während Karl und Pieter Kip, mit dem Gesicht nach rückwärts gerichtet, die Überreste der »Wilhelmina« betrachteten.

Sobald das Boot wieder in seinen Dävits befestigt war, entfaltete die Brigg ihre Segel, und von günstiger Brise getrieben, fuhr sie in nordöstlicher Richtung weiter.


Haus im Hafen von Dori (Neuguinea).
Haus im Hafen von Dori (Neuguinea).

Fünf Tage lang wurde die Fahrt ohne jeden Zwischenfall fortgesetzt, und am Morgen des 14. meldete die Deckwache die ersten sichtbaren Anhöhen von Neuguinea.[129]

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 115-121,123-130.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
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