Neuntes Kapitel.
Durch die Louisiaden.

[130] Am folgenden Morgen, am 15. November, hatte der »James-Cook« seit dem gestrigen Abend nur einige dreißig Seemeilen nach Nordosten zurückgelegt. Als es zu dunkeln angefangen hatte, war die Brise schon wieder fast eingeschlafen. Die Passagiere verbrachten die stille, warme Nacht auf dem Verdeck. In den Kabinen hätte bei der erstickenden Temperatur niemand auch nur eine Stunde schlafen können.

Das Schiff befand sich obendrein jetzt in gefährlichem Fahrwasser, das eine unausgesetzte Wachsamkeit erforderte.

Gibson hatte vor dem Deckhause von den Stützen der Schanzkleidung aus ein Zelt herstellen lassen, unter dessen Schutze alle Mahlzeiten in angenehmerer Weise als in der Kajüte eingenommen wurden.

Am heutigen Morgen drehte sich das Gespräch um die Louisiadeninseln, zwischen denen die Brigg den gefahrvollsten Teil ihrer Fahrt zu überwinden hatte. Gegenwärtig befand sie sich noch etwa vierhundertfünfzig Seemeilen von der Inselgruppe Neuirlands entfernt; nach vier Tagen sollte sie, wenn keine völlige Windstille eintrat – was in der warmen Jahreszeit zwischen dem Wendekreise und dem Äquator freilich keine Seltenheit ist – auf der Reede von Port-Praslin vor Anker gehen.

»Sie haben den Archipel der Louisiaden schon öfters befahren? wandte sich Pieter Kip fragend an den Kapitän.

– Ja, zu wiederholten Malen, wenn ich nach Neuirland ging, um Fracht einzunehmen, antwortete Gibson.

– Ist die Fahrt hier nicht recht schwierig? setzte Karl Kip hinzu.[130]

– Ja freilich, das ist sie, Herr Kip. Sie haben also wohl nie Gelegenheit gehabt, diesen Teil des Großen Ozeans zu besuchen?

– Niemals, Herr Gibson; über die Breite von Papuasien bin ich bisher noch nicht hinaufgekommen.

– Nun, erklärte Gibson, ein Kapitän, der unklugerweise die Augen hier nicht stets offen hielte, liefe Gefahr, mit seinem Schiffe auf den unzähligen Klippen und Bänken dieser Gegend aufzulaufen. Bedenken Sie nur, daß es hier madreporische Bänke gibt, die in der Länge zweihundert und in der Breite fast hundert Seemeilen messen. Ohne die nötige Erfahrung kann man hier sehr leicht seine Rumpfbekleidung, ja das ganze Schiff einbüßen.

– Haben Sie schon einmal an den größten Inseln der Gruppe angelegt? fuhr Pieter Kip fort.

– Nein, noch niemals, erwiderte Gibson. Von Rossel, Saint-Aignan, Trobrïant und Entrecasteaux ist nichts zu holen, wenigstens wenn man seinen Laderaum nicht ausschließlich mit Kokosnüssen füllen will. Auf diesen Inseln gedeihen nämlich entschieden die herrlichsten Kokospalmen der ganzen Erde.

– Wenn Schiffe hier aber auch kaum Fracht erhalten können, bemerkte Hawkins, sind die Louisiaden doch keineswegs unbewohnt...

– Nein, gewiß nicht, lieber Freund, bestätigte Gibson. Hier gibt es aber nur eine wilde, grausame Bevölkerung, die trotz aller Bemühungen von Missionaren wohl gar noch dem Kannibalismus huldigt.

– Sind solche Fälle auch neuerdings vorgekommen? fragte Pieter Kip.

– Leider ja, versicherte der Kapitän, und noch dazu solche recht haarsträubender Art. Ein Schiff, das nicht sorgsam auf seiner Hut ist, läuft gar zu leicht Gefahr, von den Eingebornen überfallen zu werden...

– Und nicht allein von den Bewohnern der Louisiaden, fügte Karl Kip hinzu, sondern auch von denen Neuguineas. Ich halte auch die Papuas für nicht weniger gefährlich...

– Alle diese Wilden geben einander nichts nach, antwortete der Kapitän, sie sind an Rohheit und Blutgier einander gleich! Schon sind drei Jahrhunderte. verflossen, seit diese Länder von dem Portugiesen Serrano entdeckt, dann 1610 von dem Holländer Shouten besucht und 1770 von Cook, den man hier mit Wurfspießen begrüßte angelaufen wurden. Ebenso mußte der Franzose Dumont d'Urville bei Gelegenheit der Fahrt der »Astrolabe«, 1827, sich mit Feuerwaffen der Angriffe dieser kriegerischen Völkerschaften erwehren... und seit jener Zeit[131] hat die Zivilisation unter den Polynesiern eigentlich noch keinerlei Fortschritt gemacht.

– Ganz ebenso, ließ sich Nat Gibson vernehmen, liegen die Dinge im Großen Ozean zwischen Neuguinea und den Salomonsinseln überall. Man braucht sich nur der Reisen Carterets, Hunters und des Amerikaners Morrel zu erinnern, der hier nahe daran war, sein Schiff, die ›Australie‹, zu verlieren. Eine von den Inseln heißt deshalb auch Ile des Massacres (Insel der Schlächtereien), und viele von den anderen verdienten wahrlich denselben Namen.

– Nun, meine Herren Holländer, nahm Hawkins jetzt das Wort, Ihre Aufgabe ist es, diese Eingebornen zu zivilisieren. Ihre Flagge weht ja über den benachbarten Ländern... sie beschützt den Archipel der Molukken, und man wird es Holland immer Dank wissen, dort die Handelsschiffahrt gesichert zu haben.

– O, erwiderte Karl, die Regierung von Batavia hält dieses Ziel auch schon immer im Auge. Es vergeht gewiß kein Jahr, ohne daß ein Schiff nach der Bai von Triton, an der Nordküste Neuguineas, gesendet würde, wo wir ja eine Kolonie begründet haben.

– Und wo die Niederlande versuchen werden, noch andere zu gründen, setzte Pieter Kip hinzu. Das liegt ja in unserem eigenen Interesse, vorzüglich seit Deutschland die Inselgruppen im Norden von Neuguinea in Besitz genommen hat.

– Ja freilich, alle Seemächte hätten Veranlassung, Sie darin zu unterstützen, bemerkte Nat Gibson. Die meisten haben ja in diesem Teile des Großen Ozeans Fuß gefaßt, dafür sprechen doch schon die geographischen Bezeichnungen, wie Neukaledonien, Neuseeland, die Neuen Hebriden, Neuhannover, Neubritannien und Neuirland, ohne von Australien zu reden, das ja anfänglich Neuholland hieß und das gänzlich in Besitz Englands übergegangen ist.«

Dieser Hinweis war ja ganz richtig. Flaggen aller Farben wehen über diesem Kolonialgebiete, wo die Zivilisation eigentlich schnellere Fortschritte gemacht haben sollte.

Ebenso richtig ist freilich, daß das genannte Gebiet bisher noch zu wenig von den Seemächten im Auge behalten worden ist. Zwischen den Salomonsinseln, den Hebriden, Papuasien und den nördlicheren Inselgruppen ist die Schiffahrt noch immer von ernsten Gefahren bedroht.

Es kann unter solchen Umständen nicht wundernehmen, daß der »James-Cook« mit einem kleinen kupfernen Geschütz ausgerüstet war, das fünfzehnpfündige[132] Kugeln sechshundert Meter weit schleuderte, und daß am Gewehrständer im Deckhause ein halbes Dutzend Flinten und Revolver hingen. Damit konnte man schon einige verdächtige Piroguen, die sich etwa heranzuschleichen suchten, erfolgreich abwehren.

Die Papuas oder Papus, eigentlich Negritos, bilden ein Zwischenglied zwischen Malaien und Negern. Sie zerfallen wieder zu den Alfakis, die in den Bergen wohnen, und den eigentlichen Papuas, den Bewohnern des Küstenlandes. Diese Eingebornen, die weder Ackerbau noch Viehzucht treiben, bilden wieder vereinzelt dastehende Stämme unter dem Befehl bejahrter Häuptlinge, die als »Kapitane« bezeichnet werden. Alle bewohnen recht elende Hütten und sind nur höchst notdürftig mit Tierfellen oder Schürzen aus Rindengewebe bekleidet. Übrigens macht auf Neuguinea und den Louisiaden die Lebensführung keine Schwierigkeiten. Nahrungsmittel gibt es in Hülle und Fülle: Schildkröten, Fische, Taros, Yamswurzeln und eßbare Muscheln finden sich hier in ebenso großer Menge wie Zuckerrohr, Bananen, Kokosnüsse, Sago und Palmenkohl. In den prächtigen Wäldern des Innern mit ihrem reichen Bestand an Muskatbäumen, Fächerpalmen, Bambus- und Ebenholzbäumen, tummeln sich Wildschweine, Känguruhs, Kalaotauben und eßbare Holztauben, außerdem als Vertreter der Vogelwelt Kakadus, Papageien, Kukals, Loris, Gimpel, Turteltauben, Gucas, Nikobars, Taucherenten und Leierschwänze. Dazu kommen endlich noch die schönsten Paradiesvögel, acht verschiedene, herrliche Arten, von dem großen Smaragdvogel an bis zur sogenannten königlichen Manucoda, die auf den Märkten Ostasiens alle hoch im Preise stehen. Hieraus erklärt es sich ja, daß ein Reisender diese Weltgegend das Dorado Ozeaniens nennen konnte, dem es weder an kostbaren Holzarten, noch an Gold und wertvollen Perlen fehlt.

Es kam nicht in Frage, daß der »James-Cook« die Hauptpunkte Neuguineas besuchen sollte, wie den Hafen von Dori, den Mac Cluergolf, die Geelwinkbai, die Humboldt- oder die Tritonbai. An der letztgenannten haben die Holländer einige Faktoreien angelegt. Die Brigg sollte vielmehr ohne Aufenthalt das Kap Rodney, an der östlichsten Spitze der großen Insel, umsegeln und sofort, zur Vermeidung der zahllosen Risse der Umgebung, aufs offene Meer hinaussteuern.

Das geschah denn auch im Laufe des 15. Novembers. Während dieser Fahrt wurde die drei- bis viertausend Fuß hohe Astrolabe-Bergkette mit den sie noch überragenden Gipfeln des Simson und des Sucking sichtbar. Unter[133] verminderter, doch leicht zu handhabender Segelfläche, die ebenso schnell weiter eingezogen, wie erweitert werden konnte, fuhr die Brigg nun auf das mit Klippen besäte Meer ein, das sich zwischen den Salomonsinseln und dem langen Landvorsprünge ausbreitet, der von Papuasien weit nach Südwesten hinausreicht.

Hier war kein Schiff in Sicht, kein Boot der Eingebornen zu entdecken.

Die Nacht über wurde von allen Insassen der Brigg scharf Ausguck gehalten. Die oberen Segel waren, trotz des nur schwachen Windes, aufgegeit, und der »James-Cook« trug nur noch die beiden Marssegel, das Fock-nebst einem Klüversegel und das Brigg-(Gaffel-)segel.

Jenseits des Kap Rodney zeigten sich zahlreiche Feuer längs der Küste, sowohl an der Rückseite der papuasiatischen Landspitze, als auch auf der Insel Entrecasteaux, die von jener durch eine nur wenige Seemeilen breite Wasserstraße getrennt ist. Infolge bedeckten Himmels herrschte sonst die tiefste Finsternis, kein einziger Stern leuchtete hernieder. Schon eine Stunde nach Sonnenuntergang war der zunehmende Mond hinter einer Wolkenbank am Horizonte verschwunden.

Zwischen elf und zwölf Uhr glaubten die Leute der Wache einige Piroguen in der Nähe des »James-Cook« zu bemerken, sie konnten das aber nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls wurde es nicht nötig, einen Angriff abzuwehren, die Nacht verlief vielmehr in ungestörter Ruhe.

Hatte sich bei Tagesanbruch auch etwas mehr Wind erhoben, so legte sich dieser doch bald wieder. Das Meer lag vollständig glatt, wie mit einer Ölschicht bedeckt, so weit man sehen konnte. Gegen zehn Uhr zerteilten sich die Wolken, ein Zeichen, daß es bald sehr heiß werden würde, denn das Schiff lag jetzt nur noch zehn Grade vom Äquator entfernt, und der Monat November entspricht hier ja dem Monat Mai auf der nördlichen Halbkugel.

Kurz vor Mittag, als die Brigg backbords nahe der Insel Entrecasteaux lag, meldete die Wache die Annäherung einer Pirogue. Diese kam offenbar von dem großen Lande um die Südspitze der Insel herum, und bewegte sich auf den »James-Cook« zu, der in der Windstille unbeweglich auf dem Wasser ruhte.

»Wenn ich mich nicht irre, begann Karl Kip, als er die Pirogue gesehen hatte, an Hawkins gewendet, hat jenes Boot die Absicht, an der Brigg anzulegen.

– Das glaub' ich auch,« antwortete der Reeder.[134]

Gibson, sein Sohn und Pieter Kip, die eben aus dem Deckhause kamen, begaben sich nach dem Vorderdeck.

Die aus Baumrinde bestehende Pirogue, die auch einen sogenannten Ausleger hatte, war nur klein. Sie kam, von Pagaien getrieben, nur langsam heran, da sie sich zwischen den Felsenköpfen, die im Südosten der Insel Entrecasteaux anfragen, vorsichtig hindurchwinden mußte.

Gibson hatte das Fernrohr darauf gerichtet.

»Es sitzen nur zwei Männer darin, sagte er.

– Nur zwei? wiederholte Hawkins. Nun, wenn diese beabsichtigen, an Bord zu kommen, steht wohl nichts entgegen, es ihnen zu gestatten.

– Mich verlangt es sogar recht sehr, setzte Nat Gibson hinzu, den papuanischen Typus einmal genauer zu betrachten.

– So mögen die Leute kommen, erklärte der Kapitän. Binnen zehn Minuten werden sie mit uns Bord an Bord liegen, und dann wird sich's ja zeigen, was die beiden Eingebornen von uns wollen.

– Doch jedenfalls ein kleines Geschäft machen, meinte Hawkins.

– Und ist auch kein anderes Boot zu sehen? fragte Pieter Kip.

– Kein einziges,« antwortete Gibson, der mit dem Fernrohr die Wasserfläche nach dem offenen Meere zu und dann im Norden und Süden der Insel Entrecasteaux abgesucht hatte.

Näher und näher glitt die Pirogue heran, getrieben von zwei Pagaien, deren Blätter mit großer Regelmäßigkeit ins Wasser ein- und daraus auftauchten.

Als sie nur etwa noch fünfzig Fuß vom »James-Cook« entfernt war, erhob sich einer der Eingebornen und rief mit lauter Stimme:

»Ebura!... Ebura!«

Der Kapitän, der sich über die Schanzkleidung hinausgebeugt hatte, kehrte sich den anderen wieder zu und sagte:

»Das ist ein Wort, das in der Sprache der Bewohner Neuirlands ›Vogel‹ bedeutet, und ich glaube, daß es bei den Papuas von Neuguinea dieselbe Bedeutung hat.«

Gibson täuschte sich hierin nicht. Der Wilde hielt in der rechten Hand einen Vogel empor, der jedenfalls wert war, einer ornithologischen Sammlung einverleibt zu werden.

Es war nämlich ein Paradiesvogel von der Art der Manucoden, ein sogenannter Königs-Paradiesvogel mit rotbraunem, sammetartigem Gefieder,[135] zum Teil orangefarbigem Kopfe mit einem schwarzen Fleckchen nahe dem Augenwinkel, mit bräunlicher, durch eine dunklere und eine metallisch-grüne Linie gestreifter Kehle und im übrigen weißem Leibe, an der Seite mit Federn, die teils rot, teils gelb, an der Spitze aber smaragdgrün aussahen und noch in zusammengebogene Fäden mit seinen, kurzen Seitenfasern ausliefen. Der etwa sechs Zoll lange Vogel gehört – allgemeiner Annahme nach – zu denen, die nirgends nisten, wenigstens wollen die dortigen Eingebornen noch kein Nest von ihm gefunden haben. Er gehört zu den merkwürdigsten und interessantesten Paradiesvögeln des Papuagebietes, wo solche in großer Menge vorkommen.

»Ich wäre wirklich nicht böse, sagte Hawkins, mir einen solchen Paradiesvogel zu erwerben, von dem mir Gibson schon so häufig gesprochen hat.

– Das wird ja nicht schwierig sein, meinte Pieter Kip, denn der Wilde ist doch jedenfalls gekommen, um den Vogel zu verkaufen oder zu vertauschen.

– So mag er an Bord kommen,« sagte der Kapitän.

Einer der Matrosen ließ eine Strickleiter hinunter. Die Pirogue legte daran an und der Eingeborne kletterte, den Vogel in der Hand haltend, gewandt hinaus.

»Ebura!... Ebura!« rief er, oben angelangt.

Sein Begleiter war in der Pirogue geblieben, die an einer Klampe des Schiffes festgelegt worden war, und er musterte aufmerksam die Brigg, ohne auf die Zeichen zu achten, die die Matrosen ihm machten, daß er auch herauskommen sollte.

Der Eingeborne, der sich auf dem Deck befand, zeigte den ausgesprochenen Typus der Rasse der Papua-Malaien, die an den Küsten Neuguineas wohnen: eine mittlere Größe, untersetzte Gestalt und kräftige Konstitution, dabei eine dicke, abgestumpfte Nase, großen Mund mit wulstigen Lippen, eckige Züge, starre, gerade Haare, dunkelschmutziggelbe Haut und harten Gesichtsausdruck, der aber doch eine gewisse Intelligenz verriet.

Der Mann mußte, nach Gibsons Ansicht, ein »Kapitan«, ein Stammeshäuptling sein. Einige fünfzig Jahre alt, ging er fast vollständig nackt und trug nur ein Känguruhsell um die Hüften und ein Stück Rindenzeug auf den Schultern.

Da Hawkins seine Bewunderung des Vogels von Anfang an nicht verhehlt hatte, wendete sich der Eingeborne auch gleich an ihn. Er hob den Paradiesvogel bis in Kopfhöhe empor und drehte und wendete ihn nach allen Seiten, um seine Schönheit zu zeigen.[136]

Hawkins, der die prächtige Manucode auf jeden Fall erwerben wollte, fragte sich nur, was er – als Tauschgeschäft – dafür anbieten könnte. Wahrscheinlich erwies sich der Papua nicht unempfindlich für einen Piaster, dessen Wert ihm jedenfalls bekannt war.

Der Wilde beseitigte jedoch sehr bald selbst die Ungewißheit des Reeders, indem er mit weitoffenem Munde wiederholt. Wobba!... Wobba!« rief.

Dieses Wort übersetzte Gibson mit »Zu trinken!... Zu trinken!«, und er ließ deshalb aus der Kambüse eine Flasche Whisky herbeischaffen.[137]

Der Kapitan ergriff sie, überzeugte sich auch, daß sie mit der weißlichen Flüssigkeit gefüllt sei, die er recht gut kannte, und steckte die Flasche ohne ein weiteres Wort unter den Arm.


Schwer getroffen, ertranken noch mehrere von ihnen. (S. 144.)
Schwer getroffen, ertranken noch mehrere von ihnen. (S. 144.)

Dann ging er ungeniert vom Hinterdeck nach dem Vorderdeck und zurück, musterte dabei aber weniger das Oberschiff und die Takelage, als die Matrosen, die Passagiere und den Kapitän. Es hatte den Anschein, als wollte er sich über die Zahl der an Bord befindlichen Personen genau unterrichten, das vermutete wenigstens Pieter Kip, der es seinem Bruder gegenüber auch aussprach.

Jetzt kam Nat Gibson noch auf dem Einfall, den Wilden zu photographieren. Nicht daß er diesem mit dem Bilde ein Geschenk machen wollte, denn zur Vollendung eines solchen hätte es ihm an Zeit gefehlt... er wünschte nur seine Sammlung mit der Abbildung eines echten Papuas zu bereichern.

»Das ist ein guter Gedanke, sagte Hawkins, wie sollen wir aber den Teufelskerl dazu bringen, hübsch still zu halten?

– Nun, wir wollen es mindestens versuchen,« erwiderte Nat Gibson.

Er faßte dabei den Eingebornen am Arm, um ihn weiter nach dem Hinterdeck zu führen. Dieser begriff natürlich nicht, was man mit ihm vorhatte, und setzte dem jungen Manne daher einigen Widerstand entgegen.

»Assaï!« rief Gibson ihm zu.

Dieses Wort ist in der Papuasprache der Vokativ des Zeitworts »kommen«, und der Kapitan ging darauf hin willig mit nach dem Deckhause zu.

Nat Gibson brachte seinen Apparat auf das Hinterdeck und stellte die Camera auf das Stativ. Ehe er die matte Scheibe auf den Wilden einstellte, suchte er diesem eine geeignete Haltung zu geben, um ein gutes Negativ zu bekommen.

Der etwas verblüffte und sehr aufgeregte Kapitan hielt aber weder Kopf noch Arme still, und es schien unmöglich, ihn dazu zu bringen, sich während der wenigen, zur Aufnahme nötigen Sekunden nicht zu bewegen. Als Nat Gibson aber unter der schwarzen Decke der Camera verschwand, erstaunte er darüber dermaßen, daß er wie erstarrt völlig unbewegt blieb.

Diese kurze Zeit genügte für die Aufnahme, und nach deren Beendigung lief der Kapitan mit der Flasche unter dem Arme schleunigst nach der Falltreppe am Steuerbord.

Als er aber an der Vorderseite des Deckhauses, dessen Tür offen stand, vorüber kam, trat er auf einen Augenblick hinein, wie um nachzusehen, ob sich[138] noch jemand darin befände. Scheinbar dieselbe Absicht führte ihn auch noch nach dem Volkslogis, dessen Treppenkappe aufgeschlagen war. Endlich hafteten die Blicke des Wilden auf dem kleinen Kupfergeschütz am Vorderteile, dessen Wirkung ihm sicherlich nicht unbekannt war, denn er rief dabei laut: »Mera!... Mera!«

Dieses Wort bedeutet in der Sprache der Eingebornen »Donner«, wie das Wort »Ura« den Blitz oder ein blendendes Licht bezeichnet.

Dabei leuchtete das Auge des Kapitans ganz unheimlich auf, diese Flamme erlosch jedoch sofort wieder und sein Gesicht zeigte den gleichgültigen Ausdruck, den man bei den Angehörigen der andamanischen Rasse allgemein beobachtet.

An der Falltreppe angekommen, schwang sich der Papua über die Schanzkleidung, kletterte in die Pirogue hinunter und musterte noch einmal die Brigg vom Bug bis zum Heck. Dann ergriff er die eine Pagaie und sein Begleiter die andere. Bald darauf verschwand das kräftig angetriebene Fahrzeug hinter dem Vorlande der Insel Entrecasteaux auf dem Wege nach dem großen Lande.

»Haben Sie bemerkt, fragte da Karl Kip, wie aufmerksam jener Mann den ›James-Cook‹ und vor allem dessen Mannschaft betrachtete?

– Ja, das ist mir auch aufgefallen,« antwortete Hawkins.

Dem Kapitän Gibson war das Benehmen des Wilden ebenfalls nicht entgangen. Offenbar war der Papua an Bord gekommen, um sich über die Wehrfähigkeit der Brigg zu unterrichten. Er hatte einen Vogel zu verkaufen gehabt, hatte diesen verkauft und war, scheinbar zu seiner großen Befriedigung, dafür mit einer Flasche Whisky bezahlt worden. Dann hatte ihn die Pirogue dahin zurückbefördert, woher er gekommen war. Vor Ablauf einer Stunde – so meinten alle – würde er vollständig berauscht sein und man würde ihn nicht wieder zu Gesicht bekommen.

Das erschien ja möglich; immerhin blieb es recht bedauerlich, daß der »James-Cook« durch die fast vollständige Windstille hier gegenüber der Insel Entrecasteaux festgehalten wurde. Von der Brise war nur zeitweilig ein schwacher Hauch zu spüren. Die letzten Streifchen auf der Meeresfläche glichen sich allmählich aus und das Wasser hob und senkte sich nur in einer sanften, glatten Dünung. Gibson dachte schon daran, ob es nicht geratener sei, mit fünfzig Faden Kette vor Anker zu gehen. Weiter nach der Insel hin mußte sich dafür eine geeignete Stelle finden, wo er das Wiederaufspringen des Südostwindes abwarten könnte.[139]

Er besprach sich darüber mit dem Bootsmanne, der gegen eine solche Absicht auch keine Einwendungen zu erheben wußte.

Flig Balt hatte jedoch seine besonderen Gründe, dem Kapitän zuzustimmen.

»Das Wetter ist trübe, hatte nämlich Vin Mod gegen ihn geäußert, die Nacht wird Regen bringen, einen Regenfall ohne Wind, der dann meist vom Abend bis zum Morgen anhält. Wahrscheinlich begeben sich Hawkins, die beiden Holländer und der junge Gibson zum Schlafen in ihre Kabinen. Auf Deck bleiben dann nur noch der Kapitän und die Leute der Wache. Wenn dann die Reihe an Len Cannon, Sexton, Bryce und Kyle kommt, dann... nun ja, dann findet sich vielleicht die Gelegenheit, an der es uns bisher gefehlt hat... die Gelegenheit, Gibson zu überraschen, uns seiner zu entledigen, und wenn es gelingt, die Brigg in unsere Gewalt zu bekommen, wenigstens Flig Balt als Kapitän zu bekommen...«

Ein ähnliches Gespräch, dem auch Sexton, Kyle und Bryce beigewohnt hatten, hatte schon vorher zwischen Vin Mod und Len Cannon stattgefunden. Ja ja... zuerst nur den Kapitän abtun... das andere würde sich schon finden.

Die Umstände gestalteten sich desto günstiger, wenn die Brigg vor Anker ging, statt daß sie die Nacht über unter Segel blieb. Gibson würde dann jedenfalls allein wach bleiben und wie durch einen Unfall verschwinden.

Vin Mods Pläne wurden jedoch dadurch durchkreuzt, daß der Kapitän Gibson auch noch die Ansicht Karl Kips hören wollte, ob es rätlich sei, bis zum Anbruch des Tages zu ankern oder nicht.

Karl Kip hatte das ohne Zögern verneint.

»Ich an Ihrer Stelle, Herr Gibson, täte das nicht. Die Gegend hier ist zu unsicher und ein Überfall durch Eingeborne stets zu befürchten. Käme es zu einem solchen, so wäre es doch besser, nicht verankert zu liegen, um, wenn etwas Wind aufkäme, sogleich davonfahren zu können, ohne mit der Einholung des Ankers Zeit zu verlieren.«

Der Kapitän erkannte die Berechtigung dieser Gründe an und fügte sich ihnen ohne Gegenrede. Zur großen Enttäuschung des Bootsmannes und seiner Spießgesellen, behielt der »James-Cook« also nach Sonnenuntergang seine Segel für die Nacht bei und blieb zwei bis drei Meilen von der Insel Entrecasteaux entfernt liegen.

Andererseits hielt auch der Regen, der gegen fünf Uhr begonnen hatte, nicht lange an. Ein fernes Gewitter verriet sich durch Wetterleuchten und[140] gelegentliches schwaches Donnerrollen. Die Temperatur war sehr hoch; das Fahrenheitsche Thermometer wies auf neunzig Grad (32°22 Celsius). Da dachten denn auch weder Hawkins, noch Nat Gibson oder Karl und Pieter Kip daran, sich in ihre Kabinen zurückzuziehen. Alle streckten sich, ebenso wie die Matrosen, die keine Wache hatten, auf dem Verdeck aus.

Offenbar hatten Flig Balt, Vin Mod und ihre Parteigänger wiederum Unglück.

Selbstverständlich hatte Gibson Befehl erteilt und geeignete Maßregeln getroffen, die Umgebung der Brigg mit größter Sorgfalt im Auge zu behalten. Auf dem Vorder- und dem Hinterdeck waren einige Leute dazu angewiesen. Was Hawkins auch gesagt hatte, die Anschauung Karl Kips behielt doch die Oberhand. War der Kapitan nur an Bord gekommen, um seinen Paradiesvogel gegen irgend einen anderen Gegenstand zu vertauschen, oder nicht vielmehr, um sich über die Widerstandsfähigkeit des »James-Cook« zu vergewissern?

Vor dem Deckhause drehte sich das Gespräch noch um diese Frage, ging dann aber auf andere Gegenstände über. Das Zeltdach war zusammengerollt worden, um der Luft freieren Zutritt zu lassen. Rings um das Schiff herrschte tiefe Stille. Kein Lichtschein schimmerte weder draußen auf dem Meere, noch von der jedenfalls unbewohnten Insel Entrecasteaux herüber.

Nach und nach schlief das Gespräch ein. Alle Augenlider sanken nieder, und bald hätte gewiß auch die Widerstandsfähigsten der Schlummer besiegt, wenn jetzt nicht ein Ruf erschallt wäre, ein Ausruf Jims, der ausspähend auf- und abwandelte.

»Piroguen!... Piroguen!« rief der Schiffsjunge.

Alle – Kapitän, Passagiere und Mannschaft – waren sofort auf den Füßen und eilten nach dem Backbord.

Von diesem aus hatte Jim nämlich Boote, die auf die Brigg zuhielten, gesehen oder doch zu sehen geglaubt.

Sollte er sich bei der Dunkelheit der Nacht nicht vielleicht getäuscht haben?

Das nahm man noch im ersten Augenblick an, doch eine Wellenbewegung des Wassers, wie sie von Ruderschlägen erzeugt wird, zeigte sehr bald, daß der Schiffsjunge sich nicht geirrt hatte.

»Da... da draußen... Eingebornenboote!« rief jetzt Nat Gibson.

Einer der Matrosen richtete das Strahlenbündel eines Scheinwerfers nach der angedeuteten Stelle, und dadurch konnte man mehrere Piroguen, die kaum[141] noch dreißig Fuß vom Schiffe entfernt waren, deutlich erkennen. Ohne die Aufmerksamkeit Jims wäre die Brigg durch einen plötzlichen Angriff überrascht worden, ohne daß Zeit gewesen wäre, Mittel zur Abwehr zu ergreifen.

»An die Gewehre!... Die Revolver herbei!« befahl Gibson augenblicklich.

Die Matrosen eilten nach dem Deckhause und die Waffen wurden verteilt. Jeder erhielt ein Gewehr oder einen Revolver mit den nötigen Patronen, und alle stellten sich an Backbord längs der Schanzkleidung auf, um die Angreifer zurückzuweisen, die es versuchen sollten, das Verdeck zu erklettern.

Nach der Seeseite, also der der Insel Entrecasteaux entgegengesetzten Seite hin, war nichts Verdächtiges zu bemerken und auch kein Geräusch von Pagaien zu hören. Das Meer lag hier völlig glatt, es war also nicht zu befürchten, daß noch andere Boote von Osten her kämen.

Der Anblick des Scheinwerfers belehrte die Eingebornen natürlich, daß sie entdeckt wären. Eine Überraschung war daher nicht mehr möglich. Dennoch eröffneten die Wilden sofort den Angriff. Eine Wolke von Pfeilen und ein Hagel mit der Schleuder geworfener Steine prasselte gegen die Längswand der Brigg oder flog oben durch das Takelwerk.

Getroffen wurde zum Glück niemand, nach der Menge der Geschosse ließ sich aber annehmen, daß die Angreifer sehr zahlreich sein mußten. In der Tat waren es ihrer sechzig, die etwa zehn große Piroguen füllten. Der Kapitän verfügte dagegen, selbst den Schiffsjungen Jim eingerechnet, nur über fünfzehn Mann.

»Feuer!« kommandierte Gibson.

Sofort knatterten, als Antwort auf den Angriff der Papuas, eine Anzahl auf die Boote gerichteter Gewehre. Ohne Zweifel hatten mehrere Kugeln ihr Ziel getroffen, denn man hörte noch den Aufschrei von Verwundeten, als eine zweite Wolke von Pfeilen auf das Schiff zuschwirrte.

»Haltet jetzt ein, sagte der Kapitän. Schießt nur aus unmittelbarer Nähe auf die ersten der Schufte, die etwa die Schanzkleidung zu erklettern versuchen!«

Das ließ nicht lange auf sich warten. Nach wenigen Augenblicken stießen die Piroguen schon an den Rumpf der Brigg. Sich an den Jungfern der Wanten anklammernd, versuchten mehrere Papuas die Reling zu packen, um sich auf das Deck zu schwingen und hier Mann gegen Mann zu kämpfen.

Einmal an Bord, wären die Eingebornen zwar außer stande gewesen, sich der Bogen oder der Schleuder zu bedienen; sie wären aber trotzdem nicht waffenlos gewesen, denn sie konnten dann eine Art eisernes Hackmesser, in der[142] Sprache der Insulaner »Parang« genannt, benutzen, in dessen Gebrauch als Waffe sie außerordentlich geschickt sind.

Das allein nötigte also schon dazu, die Eingebornen mit Flinten- und Revolverschüssen, sowie mit Seitengewehren zu empfangen und sie ins Meer zu stürzen, ehe sie den Fuß auf das Verdeck setzen könnten.

Wirklich zeigten sich mehrere Papuas in der Höhe der Reling, während sie sich an den Rüsten des Groß- und des Fockmastes festhielten. Sie wurden jedoch sofort zurückgestoßen und fielen wieder in die Piroguen hinunter.

Bei dem Aufleuchten der Schüsse hatte man übrigens einen davon erkannt.

Es war das der Kapitan, der Anführer der ganzen Rotte, der in der Absicht dieses Angriffes an Bord gekommen war.

Die Zahl der Feinde war indes so beträchlich und das Mißverhältnis der Kräfte so bedeutend, daß die Lage der Dinge sich recht ernstlich gestalten konnte. Drangen der Kapitan und die Papuas auf das Verdeck ein, so mußten die Insassen des »James-Cook« trotz der Überlegenheit ihrer Waffen schließlich unterliegen, und waren diese erst genötigt, sich nach dem Deckhause auf dem Hinterdeck zu flüchten, so wurden sie gewiß bald überwältigt. Das kleine Geschütz konnte unter den jetzigen Umständen nicht benutzt werden. So gut es sich bewährte, auf eine noch etwas entfernte Pirogue zu feuern, war es doch unbrauchbar, wo die feindlichen Fahrzeuge wie jetzt ganz dicht an der Brigg lagen.

Die Passagiere und Matrosen des »James-Cook« verteidigten sich ebenso kräftig wie mutig. Anfänglich hatten sich fünf oder sechs Eingeborne bis zu den Deckleisten hinaufschwingen können und schon versuchten sie über die Schanzkleidung zu klettern. Mit Revolverschüssen und Seitengewehrhieben wurden sie aber abgewehrt, wobei einige in die Boote zurück, andere ins Meer stürzten.

Auch auf der Seite der Angegriffenen trugen einzelne freilich Verwundungen davon, darunter Pieter Kip und der Matrose Burnes, die von einem Schlage mit dem Parang, der eine am Arme, der andere an der Schulter, getroffen worden waren. Zum Glück waren die Verwundungen nur leichter Art und verhinderten beide Männer nicht, am Kampfe noch weiter teilzunehmen. Die Feuerwaffen richteten unter den Eingebornen natürlich viel ärgere Verheerungen an.

Der Kampf dauerte nur zehn Minuten, und den Papuas gelang es nicht, sich der Brigg zu bemächtigen. Einen Augenblick hatte es der Kapitan nebst zwei Wilden erreicht, bis nach einer der Rüsten hinauszugelangen, und sie[143] wollten sich schon über die Reling schwingen, während zwei oder drei Piroguen nach dem Achter der Brigg abschwenkten. Karl Kip stürzte sich aber, unterstützt von Nat Gibson, auf den Kapitan und jagte ihm zwei Kugeln in die Brust, während der junge Mann auf die Boote unten feuerte.

Als die Papuas ihren Häuptling fallen sahen, dessen Körper bald im Wasser verschwand, erlahmte ihr Angriff und sie schienen geneigt, ihn ganz aufzugeben. Da sie das Schiff nicht hatten überrumpeln können, mochten sie sich doch wohl sagen, daß sie keinen Sieg erringen könnten, obwohl sie ihrer vier gegen je einen Mann waren. Auch die, die schon nahe daran waren, entweder über den Bug oder über das Hackbord auf das Deck zu springen, wichen jetzt zurück. Da sie nun in die Lage gedrängt waren, sich selbst so gut wie möglich zu verteidigen, bemühten sie sich nur noch, wieder in die Piroguen zu entkommen. Schwer getroffen, ertranken noch mehrere von ihnen. Waren auch noch zwei oder drei Matrosen durch Paranghiebe verletzt worden, so hatte man auf der Brigg doch wenigstens keinen Todesfall zu beklagen.

Kaum ein viertel elf Uhr war es, als die Piroguen sich von der Brigg schon wieder zurückzogen. Solange sie noch sichtbar blieben, wurden ihnen die letzten Kugeln nachgesendet. Da geschah es, daß durch den Fehlschuß eines Ungeschickten – die tiefe Dunkelheit war für ihn ja eine Entschuldigung – eine Kugel so nahe am Kopfe Gibsons vorübersauste, daß dessen Hut davon bis zur Rückseite des Deckhauses geschleudert wurde.

Der Kapitän legte dem Vorfalle kein besonderes Gewicht bei, obgleich das Geschoß ja nahe daran gewesen war, ihm den Kopf zu zerschmettern. Er eilte nur mit seinem Sohne nach dem Vorderdeck, und beide brachten das kleine Kupfergeschütz schnell in die für den Augenblick geeignete Stellung.

Die jetzt eine Kabellänge vom »James-Cook« entfernten Piroguen bildeten noch eine unbestimmte Masse, auf die der Matrose Hobbes das Licht des Scheinwerfers richtete.

Das Geschütz war schnell geladen, mit einer Schlagröhre versehen, und also fertig, durch eine an Backbord aufgeschlagene Stückpforte Feuer zu geben.

Der Schuß krachte... ein Schmerzgeheul antwortete ihm von draußen.

Wenn es auch nicht zu sehen war, so unterlag es doch keinem Zweifel, daß das Geschoß eine der Piroguen getroffen und mit den Insassen versenkt hatte.


Der »James-Cook« nahm noch dieselbe Stelle wie am vorigen Tage ein. (S. 146.)
Der »James-Cook« nahm noch dieselbe Stelle wie am vorigen Tage ein. (S. 146.)

Das Geschütz wurde sofort wieder geladen, nicht um noch einmal zu feuern, sondern vorsichtshalber wegen eines etwa erneuten Angriffes, der jedoch nicht erfolgte.

Beim Absuchen der Gegend im Westen beleuchtete der Scheinwerfer nur eine völlig verlassene Meeres[144] fläche... die Piroguen hatten sich bereits in den Schutz der Insel Entrecasteaux zurückgezogen.

Jetzt hatte der »James-Cook« nichts mehr zu befürchten, mindestens war er außer Gefahr, überrascht zu werden. Dennoch wurde keine Vorsichtsmaßregel[145] versäumt, scharf Wache gehalten, und auch die Waffen blieben bis zum Tagesanbruch bei der Hand.

Inzwischen waren die Verwundungen Pieter Kips, Burnes und die dreier anderer Matrosen untersucht worden. Hawkins, der sich auf dergleichen verstand, konnte die tröstliche Erklärung abgeben, daß sie nicht ernstlicher Natur wären. Die Schiffsapotheke genügte völlig zu einem ersten Verbande, und keiner der Verwundeten dachte auch nur daran, sich in seiner Kabine oder im Volkslogis niederzulegen.

Als Flig Balt und Vin Mod sich dann einmal allein auf dem Vorderteile der Brigg befanden sagte der Matrose gedämpften Tones:

»Gefehlt... man hat ihn verfehlt!«

Antwortete Flig Balt, seiner Gewohnheit nach, hierauf auch nicht, so wußte sich Vin Mod dieses Schweigen doch zu deuten.

»Ja, was denkt Ihr, Balt, setzte er hinzu, in so finsterer Nacht mag der Kuckuck richtig zielen! Übrigens scheint er von der Geschichte kein Aufhebens machen zu wollen. Ein andermal wird's besser ablaufen.«

Sich nach dem Ohre seines Genossen beugend, fügte er noch hinzu:

»Ärgerlich bleibt's auf alle Fälle!... Jetzt könnte sonst Flig Balt schon Kapitän der Brigg und Vin Mod sein Bootsmann sein.«

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 130-146.
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