Drittes Kapitel.
Das letzte Mittel.

[245] Hawkins fühlte sich höchst befriedigt, als er am nächsten Morgen den Besuch Karls und Pieters Kip empfing. Er war glücklich, daß seine Fürsprache bei der Firma Arnemniden Erfolg gehabt hatte. Das war so vielen Dankes gar nicht wert. Er trat ja gern mit all seinem Kredit und persönlichem Einfluß für die beiden Brüder ein, da er sich vielmehr ihnen verpflichtet fühlte. Der vortreffliche Mann beglückwünschte Karl Kip, Obersteuermann des »Skydnam« geworden zu sein, und das mit so herzlicher Wärme, als ob er an dieser Ernennung keinen Anteil gehabt hätte.

Nat Gibson, der sich eben bei Hawkins befand, konnte sich den Glückwünschen des Reeders nur aufrichtig anschließen. Er hatte seine Stellung als Teilhaber des Handelshauses jetzt schon angetreten; trotz seiner Beschäftigung mit den Angelegenheiten der Firma und trotz seines unermüdlichen Fleißes konnte er die traurige Erinnerung an die Vergangenheit aber nicht überwinden. Immer stand ihm das Bild seines Vaters vor Augen, und er kam niemals nach Hause, ohne diesen mit seiner unglücklichen Mutter zu beweinen. Zu seinem Kummer kam noch der tiefe Abscheu gegen die Mörder, die niemand kannte und die wahrscheinlich nicht entdeckt würden und damit ihrer Bestrafung entgingen.

Noch am nämlichen Tage meldete sich Karl Kip, den sein Bruder begleitet hatte, zur Übernahme seiner Obliegenheiten als Obersteuermann an Bord des »Skydnam«, wo der Kapitän Fork beide aufs freundlichste empfing.

Der »Skydnam«, ein Dampfer von zwölfhundert Tonnen, machte regelmäßige Reisen zwischen Hamburg und verschiedenen Häfen der australischen Küste, wobei er Steinkohle brachte und als Rückfracht Getreide einnahm. Seine Ladung war jetzt schon seit einigen Tagen gelöscht. Vorläufig wurden mehrere kleine Ausbesserungen und Einrichtungen im Frachtraume und an dem Deckhause ausgeführt, woneben man die Kessel und die Maschine reinigte und einige Havarien an der Takelage ersetzte.[245]

»Gewiß wird alles, versicherte der Kapitän Fork, zu Ende dieser Woche fertig sein, so daß wir dann mit der Übernahme der Fracht beginnen können. Das wird Sie schon etwas in Anspruch nehmen, Herr Kip.

– Ich werde keine Stunde, keine Minute verlieren, Herr Kapitän, antwortete der neue Obersteuermann, ich bedauere nur, meine Kabine nicht sofort beziehen zu können.

– Das begreif' ich, meinte Fork. Sie sehen aber, daß wir jetzt den Handwerkern, den Tischlern und Malern, den Platz räumen müssen, und gegen zehn Tage brauchen die Leute bestimmt, ihre Arbeit zu vollenden. Vorläufig ist weder Ihre noch meine Kabine imstande uns aufzunehmen.

– Nun, das tut nichts, Herr Kapitän, erklärte Karl Kip. Ich werde mit Sonnenaufgang an Bord eintreffen und bis zum Abend dableiben. An mir soll es nicht liegen, daß der ›Skydnam‹ am vierundzwanzigsten oder fünfundzwanzigsten noch nicht zum Auslaufen bereit wäre.

– Ja ja, das glaub' ich, Herr Kip, sagte der Kapitän Fork. Ich überlasse das Schiff also Ihrer Obhut, und sollten Sie meiner bedürfen, so finden Sie mich meist in den Bureaux der Firma Arnemniden.«

Dieser Vereinbarung nach sollte Karl Kip also alle Tagesstunden an Bord des Dampfers zubringen.

Pieter Kip bemühte sich anderseits, in Hobart-Town Geschäftsverbindungen anzuknüpfen. Er nahm sich vor, gestützt auf die Empfehlungen des Herrn Hawkins die größten Kaufleute der Stadt aufzusuchen. Eine gute Aussaat, die für die Zukunft reiche Ernte versprach.

Die Sache wegen der Meuterer vom »James-Cook« ging inzwischen ihren Gang. Der Referendar des Gerichtes bearbeitete sie nach den besonderen Vorschriften des Seegesetzbuches.

Im Hafengefängnis mit Len Cannon eingeschlossen, wurde Flig Balt doch nicht in Einzelhaft gehalten, er verkehrte vielmehr frei mit den anderen Insassen der Anstalt. Diese diente eigentlich bloß zur Unterbringung von Matrosen, die sich Vergehen gegen die Disziplin oder gegen das gemeine Recht hatten zu schulden kommen lassen, doch wurden dahin für eine Nacht auch betrunkene Seeleute eingeliefert, ebenso wie Raufbolde, die in den Straßen oder Schankstätten dieses Stadtviertels aufgegriffen worden waren, wo es nicht minder lärmend und streitsüchtig zuging als in Dunedin, wo Vin Mod Len Cannon und dessen Genossen angeworben hatte.[246]

Sexton, Kyle und Bryce hatten, so sehr sie es auch wünschten, Hobart-Town noch nicht verlassen. Es widerstrebte ihnen aber, Len Cannon unter einer schweren Anschuldigung der Hand der Justiz ausgeliefert zu wissen. Außerdem aber waren sie in der Angelegenheit des »James-Cook« als Zeugen vorgeladen, und Vin Mod beabsichtigte, ihnen noch im letzten Augenblicke eine möglichst entlastende Aussage in den Mund zu legen. Er traf sie alle Tage, denn sie hatten auch in den Fresh-Fishs, einer elenden Spelunke, Unterkommen gesucht, wo sich Vin Mod, wie wir wissen, unter seinem richtigen Namen eingemietet hatte. Sobald die drei Matrosen den nach der Ankunft der Brigg bezogenen Lohn verzehrt, in der Hauptsache vertrunken hatten, wollte Vin Mod ihnen helfend beispringen und sie aus der Verlegenheit reißen, wie er ja schon dem Wirt des Gasthauses für sie gut gesagt hatte. Sexton, Bryce und Kyle bemühten sich deshalb auch gar nicht, wieder Heuer auf einem Schiffe zu bekommen.

»Wartet nur... geduldet euch nur! hatte Vin Mod ihnen wiederholt zugeredet. Das eilt ja nicht... Was zum Teufel... Freund Balt wird euch ja als Zeugen aufrufen, und dann werden wir denen schon den Schnabel stopfen, die ihn anklagen wollen, ihn und euern Kameraden Len Cannon!... War es denn nicht unser Recht, den verwünschten Holländer als Passagier in seine Kabine zu weisen, die Führung der Brigg wieder dem braven Engländer in die Hand zu geben, der doch einmal der Kapitän des Schiffes war?... Hab' ich recht?... Nicht wahr? Nun, gerade das hat Flig Balt tun wollen, und deshalb sollte man ihn verurteilen? Dasselbe hat Len Cannon beabsichtigt, und ganz dasselbe wir andern! Glaubt mir nur, liebe Freunde, unser früherer Bootsmann wird freigesprochen und Len Cannon verläßt gleichzeitig mit ihm das Gefängnis!

– Droht uns aber, wendete Bryce ein, nicht auch nach die Gefahr, verhaftet und in dasselbe Loch wie Len Cannon eingesperrt zu werden?

– Nein, versicherte Vin Mod, ihr habt ja als Zeugen aufzutreten... nur als Zeugen... und wenn Len Cannon wieder zu Schiffe geht, um nach Neuseeland oder anderswohin zurückzukehren, so werdet ihr euch ihm anschließen. Für ein Schiff, und zwar ein gutes, sorge ich im Verein mit Freund Balt, und dann haben wir vielleicht mehr Glück, als mit dem ›James-Cook‹!«

Mit solchen Reden wußte Vin Mod die Kameraden Len Cannons in Hobart-Town zurückzuhalten, vielleicht auch mit dem Hintergedanken, daß sie[247] in der bevorstehenden Gerichtsverhandlung eine Rolle spielen sollten, die ihm helfen sollte, für den Bootsmann eine Freisprechung zu erzielen.

Und während er unheimliche Pläne schmiedete, die im Fall des Gelingens die Gebrüder Kip ins Unglück stürzen müßten, ahnten die beiden, von ihren Geschäften in Anspruch genommenen Holländer nicht das geringste von dem, was ihnen drohte.

Unter der Leitung Karl Kips ging die Befrachtung des »Skydnam« in regelrechter Weise vor sich, die Reparaturen wurden mit Unterstützung von Handwerkern des Hafenortes vorschriftsmäßig ausgeführt, so daß die Abfahrt voraussichtlich an dem dafür angesetzten Tage stattfinden konnte.

Die Firma Arnemniden erkannte sehr bald den Pflichteifer und die Intelligenz des von ihr erwählten Schiffsoffiziers. Auch der Kapitän Fork sparte nicht mit seinem Lobe, da er sah, daß Karl Kip mit allen Arbeiten, die dem Obersteuermann auf einem Schiffe zufallen, aufs beste vertraut war. Hawkins erntete deshalb so manchen Glückwunsch und herzlichen Dank von dem Handelshause.

»Wenn Ihr Schützling sich in der Schiffsführung ebenso geschickt erweist, sagte eines Tages der Kapitän Fork, so erkläre ich ihn für einen vollendeten Seemann!

– Zweifeln Sie daran nicht, erwiderte der Reeder, nein... zweifeln Sie nicht! Wir haben das ja an Bord des ›James-Cook‹ beobachten können. Hat er dafür nicht vollgültige Beweise geliefert, als er da aus eigenem Antriebe, wie instinktmäßig, die Führung unseres Schiffes in die Hand nahm? Ich habe es keinen Augenblick zu bereuen gehabt, daß ich ihn an die Stelle des elenden Flig Balt setzte, der uns dem Untergange nahe gebracht hatte. Ja gewiß, Karl Kip ist ein richtiger, zuverlässiger Seemann!

– Das werden wir ja sehen, Herr Hawkins, antwortete der Kapitän Fork, und ich bezweifle es ja nicht: Herr Karl Kip wird im Verlaufe der Fahrt schon die gute Meinung rechtfertigen, die wir bereits von ihm gewonnen haben. Die Firma Arnemniden wird das zu schätzen wissen, und damit wäre seine Zukunft gesichert.

– Ja, er wird sie rechtfertigen, versicherte Hawkins überzeugten Tones, das weiß ich voraus!«

Man sieht hieraus, daß der Reeder nicht ohne Grund den beiden Brüdern höchst zugetan war.


Schon seit Mittag rieselte ein feiner, durchdringender Regen nieder. (S. 253.)
Schon seit Mittag rieselte ein feiner, durchdringender Regen nieder. (S. 253.)

Was er von dem älteren dachte, dachte er auch von demjüngeren, da er erkannt hatte, daß Pieter Kip in allen Handelsangelegenheiten bestens erfahren war. Er hegte deshalb auch die Überzeugung, daß er das alte Groninger Haus, dank den mit Tasmanien und Neuseeland angebahnten Verbindungen, bald wieder auf feste Füße stellen werde.

Natürlich fühlten sich die beiden Brüder Herrn Hawkins, der ihnen so große Dienste geleistet hatte, zum aufrichtigsten Danke verpflichtet. Sie kamen mit ihm so häufig wie möglich zusammen und saßen nach vollbrachtem Tagewerk oft mit an seinem Tische. Frau Hawkins teilte die Empfindungen ihres Gatten für die beiden begabten, prächtigen Menschen. Sie liebte es, sich mit ihnen zu unterhalten und über ihre Zukunftspläne zu plaudern. Dann und wann verbrachte auch Nat Gibson den Abend in dem gastfreundlichen Hause. Er interessierte sich lebhaft für alle Schritte, die Pieter Kip unternahm. Nach einigen Tagen sollte der »Skydnam« auslaufen, und ein Jahr würde kaum verstreichen, bis er nach Hobart-Town zurückkehrte. Das sollte ein frohes Wiedersehen werden!

»Und dann, sagte Hawkins, begrüßen mir den Kapitän Kip, den Führer des ›Skydnam‹, mit hoher Befriedigung als solchen. Ja, der gute Fork ist berechtigt, sich nach dem Eintreffen in Europa zur Ruhe zu setzen. Sie, Herr Kip, werden dann an seine Stelle treten, und unter Ihren Händen wird der ›Skydnam‹ ja sein, was der ›James-Cook‹ gewesen ist, ein Schiff unter sicherster Führung!«

Leider erweckte die Nennung des zweiten Namens immer die trübsten Erinnerungen. Hawkins, Nat Gibson und die beiden Brüder sahen sich wieder in Neuirland, in Port-Praslin, in Kerawara, inmitten des dichten Waldes, wo der unglückliche Gibson umgekommen war, und vor dem bescheidenen Friedhofe, in dem der Kapitän seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.

Als jener Name ausgesprochen wurde, überfiel Nat Gibson eine Totenblässe. All sein Blut drängte sich zum Herzen und seine Stimme bebte, als er darauf rief:

»Mein Vater, mein armer Vater! Du wirst also nicht gerächt werden!«

Hawkins sachte ihn zu beruhigen; man müsse doch erst die Nachrichten abwarten, die mit dem nächsten Postdampfer aus dem Bismarck-Archipel kämen. Herr Hamburg oder Herr Zieger hätte die Schuldigen vielleicht schon entdeckt. Freilich beständen keine so häufigen Verbindungen zwischen Tasmanien und Neuirland. Wer könne wissen, ob man die Erfolge der Nachforschungen nicht erst nach mehreren Monaten erführe.[251]

Der 19. Januar war herangekommen. In achtundvierzig Stunden sollte die Angelegenheit der Meuterer vom »James-Cook« vor dem Seeamte zur Verhandlung kommen und würde, wenn keine unerwarteten Zwischenfälle einträten, an demselben Tage zu Ende geführt werden.

Drei Tage darauf sollte der »Skydnam« abdampfen und dann hätten die Gebrüder Kip Hobart-Town auf dem Wege nach Hamburg verlassen.

Am Nachmittage des nächsten Tages hätte man Vin Mod um das Hafengefängnis umherschleichen sehen können. Sehr erregt, obgleich er sich sonst so gut zu bemeistern verstand, ging er raschen Schrittes dahin, bemühte sich unbemerkt zu bleiben und ließ zuweilen, von unruhigen Bewegungen unterbrochen, zusammenhanglose Worte fallen, die zu verstehen gewiß sehr interessant gewesen wäre.

Wer konnte wissen, was er erwartete, als der Schurke wiederholt am Tore des Gefängnisses vorbeistrich? Suchte er vielleicht gar in das Haus zu gelangen, um sich mit Flig Balt ins Einvernehmen zu setzen?... Nein, das konnte er nicht erwarten, denn es würde ihm unmöglich sein, durch das Tor einzudringen.

Vielleicht hoffte er aber, den Bootsmann an einem hochgelegenen Fenster des Gebäudes zu erblicken, dessen oberstes Stockwerk die Umfassungsmauer überragte. Das war jedoch auch unwahrscheinlich, mindestens wenn Flig Balt, dem dann bekannt sein mußte, daß die Verhandlung am nächsten Tage bevorstand, nicht auf den Gedanken kam, daß Vin Mod versuchen könnte, ihm auf irgendwelche Weise wichtige Mitteilungen zu machen. Darüber konnte ja zwischen beiden schon vorher eine Verabredung getroffen worden sein.

Unter den gegebenen Umständen, wo der eine draußen, der andere drinnen war, hätte sich der Verkehr zwischen den beiden Männern freilich auf einzelne Zeichen beschränken müssen, und da blieb es doch fraglich, ob eine Bewegung des Kopfes, eine Geste mit der Hand auch richtig verstanden würde.

Wie dem auch sein mochte, jedenfalls blieb Flig Balt von Vin Mod und dieser von Flig Balt unbemerkt. Nach einem letzten, zu dem hohen Gebäude emporgeworfenen Blicke schlich denn Vin Mod auch im Halbdunkel nach seinem Gasthofe zurück.

»Ja ja, murmelte er, immer tief in Gedanken versunken, das ist der einzige Weg, ihm Nachricht zukommen zu lassen, und wenn der nicht gangbar wäre... Doch gleichviel... ich trete ja als Zeuge auf... ich werde sprechen... und[252] was Flig Balt vielleicht nicht sagt, das sage ich... ja... das werde ich sagen und die Gebrüder Kip werden es empfinden!«

An diesem Abend begab sich Vin Mod nicht nach der Spelunke, den Fresh-Fishs, sondern nach dem Gasthofe zum Great Old Man.

Es war jetzt gegen sieben Uhr. Schon seit Mittag rieselte ein seiner, durchdringender Regen nieder. Die Straßen lagen in tiefer Finsternis, die nur da und dort von dem begrenzten Scheine einer Gaslaterne unterbrochen wurde.

Unbemerkt gelangte Vin Mod nach dem Gange, der zu seinem, eine Treppe hoch gelegenen Zimmer führte. Auf dem Balkon angelangt, lugte er durch das Zimmerfenster der Holländer, dessen Jalousien nicht geschlossen waren.

Da er keinerlei Geräusch aus dem Innern vernahm, schloß er mit Recht, daß das Zimmer augenblicklich leer sei.

Gerade an diesem Abend befanden sich Karl und Pieter Kip zum Abendessen bei Herrn Hawkins und kehrten voraussichtlich vor zehn oder elf Uhr nicht in ihr Zimmer zurück.

Vin Mod sah sich also durch den günstigsten Zufall unterstützt, und es konnte ihm weder an Zeit fehlen, sein Vorhaben auszuführen, noch lief er Gefahr, dabei überrascht zu werden.

Er begab sich jetzt zunächst nach seinem eigenen Zimmer, öffnete hier einen Schrank und entnahm diesem verschiedene Papiere, denen er noch eine gewisse Menge Piaster beilegte, und dazu auch den Kriß, womit Flig Balt den Kapitän ermordet hatte.

Wenige Augenblicke später schüpfte Vin Mod in die Wohnung der beiden Brüder, wozu er nicht einmal gezwungen gewesen war, eine Scheibe einzudrücken, da ein Flügel des Fensters nur angelehnt war.

Die Einrichtung dieses Zimmers kannte er ja ganz genau, hatte er doch oft genug hineingeblickt, wenn er sich bemühte, die Gespräche zwischen Karl und Pieter Kip zu belauschen. Er brauchte nicht einmal Licht anzuzünden, was ihn doch hätte verraten können. Er wußte ja, wie die Möbel standen und wo auf einem Schemel der Reisesack lag, der noch von der »Wilhelmina« geborgen worden war.

Von diesem Mantelsack brauchte er nur die Verschlußriemen zu lösen. Die darin enthaltenen Wäschestücke hoch hebend, steckte er die Papiere, die Piaster und den Dolch darunter und schloß den Sack wieder zu.

»Das wäre geschehen!« murmelte er befriedigt.[253]

Dann stieg er durch das Fenster hinaus, lehnte dessen Flügel wieder an und zog sich über den Balkon hin nach seinem Zimmer zurück.

Nach ganz kurzem Aufenthalte darin schritt Vin Mod jedoch der Treppe zu, trat auf die Straße hinaus und begab sich nach dem Gasthofe zu den Fresh-Fishs, wo ihn Sexton, Kyle und Bryce hatten erwarten sollen.

Es schlug eben halb acht, als er in das gemeinschaftliche Gastzimmer eintrat, wo er seine Genossen fleißig trinkend vorfand.

Sexton und Bryce hatten schon so manche Gläser Whisky und Gin geleert. Wenn auch nicht lärmender und rauflustiger Trunkenheit verfallen, sondern mürrisch gestimmt und eher etwas verdummt, wären sie nicht imstande gewesen, zu begreifen, was Vin Mod ihnen gesagt hätte, wenn er einen von ihnen nötig gehabt hätte.

Kyle dagegen – mit dem er gewohnheitsmäßig überhaupt am liebsten sprach – hatte, wohl auf eine vorherige Warnung Vin Mods hin, die auf dem Tische stehenden Flaschen kaum angerührt.

Als dieser in der Gaststube erschien, ging er ihm sofort entgegen. Vin Mod gab ihm ein Zeichen, jetzt nicht zu sprechen, und beide nahmen nebeneinander Platz.

In dem Raume befanden sich gegen zwanzig zechende Gäste, meist Matrosen, die über ihre Urlaubszeit hinaus unter qualmenden Lampen und in erstickender Luft an einem großen Tische saßen.

Jeden Augenblick taumelten angetrunkene Männer hinaus oder herein. In der Gaststube herrschte ein solcher Lärm, daß man einander getrost etwas ins Ohr raunen konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß andere das verständen.

Der Tisch, den Kyle gewählt hatte, stand überdies in der dunkelsten Ecke des Raumes.

»Du bist schon seit einer Stunde hier? begann Vin Mod, der sich dabei seinem Kameraden zuneigte.

– Ja... habe auf dich der Verabredung nach gewartet...

– Und die anderen konnten der Begierde, zu trinken, nicht widerstehen?

– Nein... bedenke doch... eine volle Stunde...

– Und du selbst?...

– Ich... o, ich habe mir nur einmal mein Glas gefüllt, es steht aber noch unberührt da.[254]

– Das wirst du nicht zu bereuen haben, Kyle, denn es ist nötig, daß du alle Sinne beisammen hast.

– Das kann ich versichern, Mod!

– Nun gut; wenn du noch nichts getrunken hast, so wirst du jetzt trinken.

– Auf deine Gesundheit!« antwortete Kyle, der sein Glas ergriff und es zum Munde führte.

Da packte ihn aber Vin Mad am Arme und nötigte ihn, das Glas wieder auf den Tisch zu stellen, ohne die Lippen benetzt zu haben.

»Du willst mich also doch nicht trinken lassen? fragte Kyle verwundert.

– Nein... du sollst dich nur so stellen, als ob du tränkst oder gar schon zu viel genossen hättest.

– So?... Und warum das, Mod?

– Weil du dich, den Betrunkenen spielend, erheben, durch die Gaststube schwanken und mit dem einen oder dem anderen Streit suchen sollst unter der Drohung, alles kurz und klein zu schlagen, bis der Gastwirt Polizisten herbeiruft, die dich wegführen und ins Gefängnis bringen sollen.

– Ins Gefängnis?...«

Kyle konnte nicht begreifen, worauf Vin Mod hinauswollte. Sich stellen, als ob er tränke, das paßte ihm recht wenig, sich wegen Ruhestörung gar einsperren zu lassen, paßte ihm aber gar nicht.

»Höre mich nur an, sagte Vin Mod. Ich brauche dich in einer Sache, die dir viel einbringen wird, wenn du Erfolg hast und geschickt deine Rolle spielst.

– Wobei nichts zu riskieren ist?...

– Ein paar Püffe sind ja zu riskieren, fünf bis sechs Pfund Sterling aber dafür einzuheimsen.

– Fünf bis sechs Pfund? wiederholte Kyle, dem diese Aussicht recht verlockend erschien.

– Und die anderen? fragte er noch mit einem Hinweis auf seine Kameraden.

– Für die ist das nichts, erklärte Vin Mod. Du siehst ja, sie sind in einer Verfassung, in der sie nichts zu verstehen und nichts zu tun vermögen!«

Wirklich hatte keiner von ihnen Vin Mod nicht einmal erkannt, als dieser sich gesetzt hatte. Sie sahen nichts und hörten nichts. Maschinenartig hoben ihre Arme die Gläser und sanken schwer wieder auf den Tisch zurück. Sexton murmelte, wie die meisten Betrunkenen, unzusammenhängende Worte vor sich[255] hin oder sang mit heiserer Stimme ein Seemannslied, das er mit den in der Luft umherfuchtelnden Armen begleitete. Bryce hatte den Kopf gesenkt, die Schultern eingezogen und die Augen schon halb geschlossen... er war dem Einschlafen näher als dem Wachsein.

Inzwischen wurde es im Zimmer immer lauter, Schreie und Zurufe flogen von einer Gruppe zur anderen, und an Herausforderungen um nichts und wieder nichts fehlte es gelegentlich auch nicht.

Der an Kunden dieses Schlages gewöhnte Gastwirt ging überall umher und schenkte fleißig seine abscheulichen Getränke ein.

»Nun also, nahm Kyle, näher an seinen Kameraden heranrückend, wieder das Wort, um was handelt sich's eigentlich?

– Ich habe dem Freunde Flig Balt ein paar Worte mitzuteilen, antwortete Vin Mod, und da Flig Balt im Gefängnisse ist, muß ihn einer dort aufsuchen.

– Diesen Abend?...

– Noch diesen Abend, denn morgen tritt das Gericht zusammen und dann wär' es zu spät. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren und ich rechne darauf, daß du den Betrunkenen spielen wirst.

– Ohne etwas genossen zu haben?

– Keinen Tropfen, Kyle! Die Sache ist ja nicht so schwierig. Du stehst auf, fängst an zu schreien, zu brüllen, bändelst mit andern Zechern Streit an, selbst auf die Gefahr hin, den kürzeren zu ziehen...

– Und wenn ich gehörige Schläge bekomme?...

– So verdopple ich die Belohnung!« versprach Vin Mod.

Diese Zusicherung schien bei Kyle jedes Zögern niederzuschlagen, so daß es ihm auf einige Püffe mehr oder weniger nicht mehr ankam. Er erhob nur noch einen einzigen Einwand.

»Wenn es unbedingt erforderlich ist, mit Flig Balt zu sprechen, sagte er, warum soll ich es unternehmen, zu ihm zu kommen. Warum tust du es nicht selbst?

– Nicht so viele Worte, Kyle! erwiderte Vin Mod, dem schon die Geduld auszugehen drohte. Ich muß unbedingt frei bleiben, muß zur Stelle sein, wenn Flig Balt abgeurteilt wird. Einmal im Loche, kommt man vor achtundvierzig Stunden nicht wieder an die Luft, und ich wiederhole dir, ich muß unbedingt da sein...«[256]

Als letztes Hilfsmittel griff Vin Mod in die Tasche seiner Jacke, holte ein Goldstück heraus und ließ es dem Matrosen in die Hand gleiten.

»Als Anzahlung, sagte er, das übrige folgt, wenn du wieder herauskommst.

– Und wenn man mich entlassen hat, wo werd' ich dich dann finden?

– Hier... jeden Abend.

– Abgemacht, rief Kyle. Nun aber wenigstens ein Glas Gin, damit ich in Zug komme. Dann spiel' ich den Betrunkenen desto besser.«

Er erhob das mit dem brennend scharfen Branntwein gefüllte Glas und leerte es in einem Zuge.

»Es ist Zeit, die höchste Zeit, drängte Vin Mod, also passe gut auf! – Was ich Flig Balt mitzuteilen habe, hätte ich ja aufschreiben können und du brauchtest ihm dann nur ein Blättchen Papier zu überbringen. Wenn man das aber bei dir fände, wäre die ganze Geschichte verfehlt. Übrigens handelt es sich nur um sehr wenige Worte, die du dir gewiß merken kannst. Sobald dich die Polizei in die Hast abgeliefert hat, bemühe dich, mit Flig Balt zusammenzutreffen. Gelingt dir das nicht heut Abend, so muß es morgen geschehen, ehe man ihn nach dem Seegerichte abholt.

– Ganz recht, Mod, antwortete Kyle, und was soll ich ihm sagen?

– Du wirst ihm sagen, daß die Sache geschehen sei und er könne ohne Bedenken die Anklage vorbringen...

– Gegen wen denn?

– Das weiß er schon.

– Und weiter nichts?

– Nein... weiter nichts.

– Gut, Mod, erwiderte Kyle, und nun wirst du mich betrunken sehen, als wäre ich der schlimmste Zechbruder von den Untertanen Ihrer Majestät!«

Kyle erhob sich dabei schwerfällig, schwankte im Fortgehen, fiel einmal hin und richtete sich mit Mühe wieder auf, indem er sich an den ersten besten Tisch anklammerte. Er bedrohte die Zecher, die ihn mit kräftiger Faust zurückstießen. Dann schimpfte er auf den Wirt, weil dieser ihm nichts mehr zu trinken geben wollte und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, daß der Mann durch die offen stehende Tür bis zur Straße hinaustaumelte.

Ganz – hier in doppeltem Sinne – außer sich, rief der Gastwirt um Hilfe. Zwei bis drei Polizisten kamen herbeigeeilt und fielen über Kyle her, der nur schwachen Widerstand leistete, um sich schmerzhafte Schläge zu ersparen.[257]

Schließlich wurde er leicht gefesselt, mitten durch einen gröhlenden Haufen abgeführt und im Hafengefängnis eingesperrt.

Vin Mod war ihm nachgefolgt, und als er sah, daß sich das Tor der Anstalt hinter Kyle geschlossen hatte, kehrte er befriedigt nach dem Gasthofe zu den Fresh-Fishs zurück.

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 245-249,251-258.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
Die Gebrüder Kip
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