Sechstes Kapitel.
Das Urteil.

[286] Die Untersuchung neigte sich dem Ende zu. Die Gebrüder Kip waren verhört und mit dem Bootsmann, ihrem hauptsächlichsten, oder richtiger: bisher einzigen Ankläger konfrontiert worden, dem einzigen, der in ihrer Kabine auf dem »James-Cook« das sie so zweifellos belastende Beweisstück entdeckt hatte, dem sie nur einen bestimmten Widerspruch entgegenstellen konnten. Da ihnen aber ein Alibinachweis unmöglich war, der zu ihren Gunsten gesprochen hätte, wie konnten sie sich gegen so schwere Beschuldigungen rechtfertigen, wo greifbare, gar nicht abzuleugnende Beweise bezüglich des Verbrechens vorlagen?

Außerdem hatten sie gar keine Gelegenheit, sich über ihre Verteidigung zu besprechen, so wenig wie den Trost, einander aufrecht zu erhalten, Mut zuzusprechen oder in den langen Stunden der Gefängnishaft überhaupt miteinander zu verkehren.

Einer von dem anderen getrennt, standen sie nur durch den ihnen zugewiesenen Verteidiger miteinander in Verbindung. Auch als der Untersuchungsrichter sie verhörte, kamen sie selbst in dessen Beisein nicht zusammen und sollten sich erst wiedersehen, wenn ihre Angelegenheit vor dem Kriminalgerichte zur Entscheidung kam.

Der Brief Ziegers und die ihn begleitende Sendung waren jetzt allgemein bekannt. Die Tageszeitungen von Hobart-Town hatten darüber berichtet. Es bestand nun kein Zweifel mehr, daß der in dem Reisesacke gefundene Dolch die Waffe wäre, deren sich die Mörder bedient hatten, und damit erhielt die gegen[286] die Gebrüder Kip erhobene Anklage ihre sichere Begründung. Der Wahrspruch der Jury konnte also nur auf ein Schuldig, und in Berücksichtigung der erschwerenden Umstände, unter denen das Verbrechen ausgeführt worden war, auf ein Todesurteil hinauslaufen.

Je näher aber der Tag der Entscheidung heranrückte, desto beunruhigter fühlte sich der Reeder Hawkins. Er erinnerte sich so vieler Vorkommnisse aus der letzten Zeit. Wie?... Die beiden Männer, die ihm soviel Sympathie eingeflößt hatten, sollten diese abscheuliche Freveltat begangen haben?... Nein! Sein Gewissen verbot ihm, das zu glauben... sein ganzes Innere empörte sich gegen einen solchen Gedanken!... Er sah in der Angelegenheit noch dunkle, unaufgeklärte und vielleicht unaufklärbare Punkte. Er... er zweifelte, freilich nur gestützt auf rein moralische Gründe, während sich die bei der Untersuchung hervorgetretenen Tatsachen vor ihm wie eine Mauer auftürmten, die er nicht übersteigen konnte.

Hawkins vermied es übrigens, mit Nat Gibson von der Sache zu sprechen, denn dessen Überzeugung hätte doch nichts zu erschüttern vermocht. Nur ein- oder zweimal, bei einem Besuche bei Frau Gibson, hatte er sich nicht enthalten können, einige Andeutungen bezüglich der Schuldlosigkeit der Gebrüder Kip fallen zu lassen und die Hoffnung auszusprechen, daß es ihnen noch gelingen werde, ihre Unschuld zu beweisen. Frau Gibson hüllte sich ohne jede Antwort in tiefes Schweigen, offenbar teilte sie die Anschauungen ihres Sohnes. Sie hatte ja auch nicht. wie Hawkins, Gelegenheit gehabt, die beiden Holländer schätzen zu lernen, etwas von der Vergangenheit der Schiffbrüchigen von der »Wilhelmina« zu erfahren und sich für deren Zukunft zu interessieren. Die arme Witwe konnte in ihnen nur Verbrecher erblicken, die beschuldigt waren, den Kapitän des »James-Cook« ermordet zu haben.

Frau Hawkins dagegen hegte natürlich großes Vertrauen zu dem rechtschaffenen Sinne und zu dem sicheren Urteil ihres Gatten. Da er nicht überzeugt war, konnte sie es auch nicht sein, und so teilte sie vollkommen seine Zweifel... denn nur von Zweifeln konnte hier die Rede sein. Wahrscheinlich standen sie damit in Hobart-Town jedoch allein.

In ihrem Gefängnis konnten die Angeklagten gar nicht ahnen, wie sehr die öffentliche Meinung zu ihren Ungunsten umgeschlagen war, und die Zeitungen unterließen es auch nicht, die Bewohnerschaft durch überaus heftige Artikel noch mehr aufzuhetzen.[287]

Am 17. Februar sollte die Hauptverhandlung stattfinden. Da seit dem Zusammentreten des Seegerichtes, vor dem Flig Balt die Anklage gegen Karl und Pieter Kip erhob, schon fünfundzwanzig Tage verflossen waren, hielt es Vin Mod nicht mehr für nötig, seinen Aufenthalt im Gasthofe zum Great Old Man noch weiter zu verlängern. Er räumte also das von ihm unter dem Namen Ned Pat bisher bewohnte Zimmer und beglich die Rechnung des Wirtes. Da er nun auch keiner Verkleidung mehr bedurfte, teilte er von jetzt ab in der Schenke zu den Fresh-Fishs die Wohnung des Bootsmannes. Von hier aus wollten die Schurken den Verlauf ihres so geschickt eingefädelten Streiches verfolgen, dessen voraussichtliche Folgen ihnen volle persönliche Freiheit gewährleisten mußte.

Die übrigen Matrosen vom »James-Cook« hatten bei Schlafbasen der Nachbarschaft Unterkommen gefunden und bemühten sich, wieder Heuer zu finden.

Die Verhandlung der Angelegenheit begann also am Morgen des 17. Februar vor dem Kriminalgericht von Hobart-Town. Der Gerichtshof bestand aus einem Vorsitzenden, zwei Richtern und einem Attorney-General (Kronanwalte). Zur Jury gehörten zwölf Geschworene, die nicht eher auseinandergehen durften, als bis sie über ihren Ausspruch – »schuldig« oder »nicht schuldig« – einig waren.

Im Sitzungssaale drängte sich die Volksmenge ebenso wie in den Straßen der Umgebung. Drohende Rufe empfingen die Angeklagten, als diese das Gefängnis verließen. Auch jetzt hatten sie sich kaum die Hand drücken können, denn die Gerichtsdiener hielten sie möglichst getrennt und mußten sie sogar bis zum Betreten des Gerichtsgebäudes beschützen. Sie empfanden es recht wohl, daß sie von der öffentlichen Meinung nichts zu erwarten hatten.

Die verschiedenen Zeugen, die schon vor dem Seegericht erschienen waren, befanden sich jetzt auch hier: Herr Hawkins, Nat Gibson und die Matrosen vom »James-Cook«. Die Anklage baute sich nur auf die Aussagen Flig Balts auf, und das Interesse aller Anwesenden richtete sich nur darauf, was die Gebrüder Kip diesen wohl entgegenhalten würden.

Karl und Pieter Kip hatten einen offiziellen Verteidiger, dem hier freilich eine schwere Aufgabe zufiel, denn den auf greifbaren Beweisen ruhenden Behauptungen des Bootsmannes konnte er nur einen schwachen Widerspruch entgegenstellen.[288]

Den englischen Gesetzen entsprechend, begnügte sich der Vorsitzende zunächst, die Angeklagten zu fragen, ob sie sich schuldig bekennten oder nicht (Guilty or not guilty).

»Nicht schuldig!« antworteten sie, einander die Hand drückend.


Trohende Rufe empfingen die Angeklagten, als diese das Gefängnis verließen. (S. 288.)
Trohende Rufe empfingen die Angeklagten, als diese das Gefängnis verließen. (S. 288.)

Im weiteren Verlauf konnten sie nur die bei der ersten Verhandlung abgegebenen Aussagen wiederholen. die sich in der Hauptsache auf ihr Verhalten bezogen und alles seit ihrer Errettung von der Insel Norfolk bis zur Ausschiffung in Hobart-Town umfaßten.

Sie versicherten, daß der an Bord der Brigg gebrachte Reisesack nur etwas Leibwäsche und einige Kleidungsstücke enthalten habe. Den malaiischen Dolch hätten sie auf dem Wrack nicht gefunden und wüßten auch nicht, wie er wieder in ihren Besitz gekommen sei. Der Behauptung Flig Balts, daß in dem erwähnten Reisesacke die Schiffspapiere und das Geld des Kapitäns Gibson verborgen gewesen wäre, setzten sie den entschiedensten Widerspruch entgegen. Der Bootsmann täusche sich entweder, oder er entstelle die Wahrheit geflissentlich.

»Und warum das? fragte der Vorsitzende.

– Um uns ins Verderben zu stürzen, antwortete Karl Kip, und um sich zu rächen!«

Diese Erklärung rief unter den Zuhörern ein mißfälliges Murmeln hervor.

Jetzt kam die Reihe an den Attorney-General, einen einfachen Rechtsanwalt, der die Obliegenheiten eines freiwilligen Advokaten der Königin vertrat, die Zeugen abzuhören, ihre Aussagen zu prüfen, und nach ihm fiel es dem Verteidiger zu eine Gegenprüfung vorzunehmen.

Flig Balt, der zuerst aufgerufen wurde, gab folgendes zu Protokoll: Er sei bei der Rückreise einmal in die gemeinschaftliche Kajüte gekommen, da warf eine heftigere Schiffsbewegung den Reisesack durch die eben offenstehende Tür der Kabine der Herren Kip... sofort rollte eine Anzahl Goldstücke über den Fußboden hin, und gleichzeitig glitten die Schiffspapiere aus dem Reisesacke, dieselben Schriftstücke, die seit der Ermordung des Kapitäns verschwunden waren.

Hatte Flig Balt nicht auch von dem Dolche gesprochen, so erklärte das sich damit, daß er ihn nicht gesehen hätte. Ja er wußte nicht einmal, daß diese Waffe den Angeklagten gehörte. Jetzt wundere er sich nicht mehr darüber, daß die Polizei ihn in dem betreffenden Fremdenzimmer des Great Old Man gefunden habe, da ja Harry Gibson damit umgebracht worden sei. Wie die Gebrüder Kip übrigens gar nicht anständen, zuzugeben, daß sie ihn auf den[291] Molukken, in Amboine, gekauft hätten, so erklärten sie auch, daß er bei dem Schiffbruche der »Wilhelmina« abhanden gekommen wäre. Ebenso behaupteten sie, daß ihn weder der eine noch der andere nach dem »James-Cook« wieder mitgenommen hätte, und sie könnten sich auf keine Weise erklären, wie er in ihren Reisesack gekommen sei.

»Auf den melanesischen Inseln, begnügte sich Karl Kip einzuwenden, gibt es derartige Krisse in großer Menge, und kaum ein Eingeborner dürfte ohne einen solchen zu finden sein... es ist das ihre gewöhnliche Handwaffe... Danach erscheint doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der, den man als die Mordwaffe bezeichnet, gar nicht der unsrige wäre, denn alle die Krisse von malaiischer Herkunft ähneln sich aufs genaueste!«

Diese Antwort rief wieder ein Gemurmel hervor, das der Präsident unterdrücken mußte. Dann bemerkte der Kronanwalt, daß gerade dieser Dolch der sei, mit dem das Verbrechen ausgeübt worden wäre, da die ihm fehlende und von Herrn Zieger eingeschickte Zwinge vollkommen daran passe.

»Ich muß noch hinzufügen, nahm Pieter Kip wieder das Wort, daß niemand an Bord diese Waffe jemals in unseren Händen gesehen hat, und wenn wir sie auf dem Wrack gefunden hätten, würden wir sie doch wohl Herrn Hawkins oder Herrn Nat Gibson gezeigt haben.«

Er sowohl wie sein Bruder empfanden es jedoch, daß diese Darlegungen nicht besonders ins Gewicht fielen. Unzweifelhaft war der Dolch ihr Eigentum, unzweifelhaft rührte die Todeswunde von seiner gezahnten Klinge her, und endlich war es unzweifelhaft, daß seine Zwinge auf dem Schauplatze des Verbrechens in Kerawara gefunden worden war.

Schließlich erhob sich Karl Kip noch zu folgender, letzter Erklärung:

»Mein Bruder und ich sind die schuldlosen Opfer von Umständen, die wir nicht zu erklären vermögen. Wir... wir sollen den Kapitän Gibson getötet haben... den Mann, dem wir unsere Erlösung, unsere Rettung verdankten?... Nun, diese Beschuldigung ist ebenso widerlich wie ungerecht, und wir verweigern darauf jede weitere Antwort!«

Dieser Satz wurde mit lauter und offenbar unbewegter Stimme ausgesprochen und verfehlte auch einen gewissen Eindruck auf die Zuhörer nicht. Die Anschauung der Leute stand aber einmal fest, und niemand wollte in jener Antwort mehr als einen kühnen Verteidigungsversuch erblicken. Und wenn die Gebrüder Kip sich weigerten, später an sie gerichtete Fragen zu beantworten,[292] so läge das, meinte man, doch nur daran, daß es ihnen eben unmöglich wäre.

Von den übrigen Zeugen wurde jetzt Nat Gibson aufgerufen. Der junge Mann konnte sich kaum fassen. Auch er überhäufte die Gebrüder Kip mit den schwersten Anschuldigungen, und wenn diese etwas dazu gesagt hätten, hätten ihre Worte nur gelautet:

»Wir verstehen Ihren Schmerz, armes Kind, und sind deshalb nicht imstande, Ihnen zu zürnen!«

Als Herr Hawkins an die Schranke herantrat, verriet seine Haltung, daß viele Erinnerungen sein Inneres erregten. Konnte er denn annehmen, daß die Schiffbrüchigen von der »Wilhelmina«, die Gäste des »James-Cook«, den Edelmut, die Güte des Kapitäns mit einem so abscheulichen Verbrechen gelohnt haben sollten? Sie, die dem Ermordeten erst ihr Leben verdankten, sie sollten diesen getötet haben... nur um ihn zu berauben, wo sie doch wußten, daß Harry Gibson und er sich erboten hatten, sie in jeder Hinsicht zu unterstützen! Ja freilich... es lagen gegen sie scheinbar sehr beweiskräftige Ergebnisse der Untersuchung vor. Hawkins konnte sich die Verhältnisse nicht erklären... konnte sie nicht begreifen, und vor Erregung fast zusammenbrechend, war es ihm unmöglich, noch mehr auszusagen.

Das, was die Matrosen vom »James-Cook«, Hobbes, Wickley und Burnes, anzugeben wußten, und ebenso, was Len Cannon, Sexton, Kyle, Bryce und Koa aussagten, erwies sich als völlig bedeutungslos.

Was Vin Mod betraf, erschienen dessen, dem Attorney gegebene Antworten bezüglich Flig Balts sehr bestimmt und logisch begründet. Einige Tage vor dem Ausbruche des Meutereiversuches an Bord der Brigg war ihm der Bootsmann schon wie eine Beute mühsam unterdrückter Wut vorgekommen. Ob die Ursache davon nur die gewesen sei, daß Karl Kip in der Führung der Brigg an seine Stelle getreten war, wußte er freilich nicht; Vin Mod hatte vielmehr geglaubt, daß dazu noch ein anderer, sehr ernster Beweggrund vorhanden gewesen sein werde.

»Er hat darüber aber nichts gegen Sie geäußert? fragte der Kronanwalt.

– Gar nichts,« versicherte Vin Mod.

Immerhin blieb noch ein Umstand übrig, der zu Gunsten der Angeschuldigten sprach: Die Gewißheit, daß während der Fahrt niemand den Dolch in ihren Händen gesehen hatte. Das wurde ja auch durch die Erklärung Flig[293]

– Ja... ich erkenne ihn wieder.

– Und du versicherst, ihn schon an Bord gesehen zu haben?

– Jawohl.

– Wo?

– In der Kabine der Herren Kip.

– In deren Kabine?...

– Ja, gewiß.

– Und wann?

– Als der ›James-Cook‹ zum ersten Male in Port-Praslin angelegt hatte.«

Jim erzählte nun unbefangener, unter welchen Umständen er die Waffe gefunden und wie sie seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Da habe er sie auch in die Hand genommen und dann schnell wieder an die Stelle gelegt. wo sie vorher lag.

Der Leser entsinnt sich wohl, daß Vin Mod den Dolch in die Kabine, und zwar wenige Augenblicke vorher dahin gelegt hatte, ehe Jim von Flig Balt dahinunter geschickt worden war. Jim sollte ihn ja gerade sehen, und gleich danach versteckte ihn Vin Mod wieder in seinem Matrosensacke.

Die Erklärung des jungen Menschen hatte eine außerordentliche Wirkung, und dabei eine Erregung zur Folge, der sich der Richter und die Geschwornen ebensowenig wie die vielen Zuhörer zu entziehen vermochten. Jetzt konnte ja niemand mehr einen Zweifel aufrechthalten. Die Gebrüder Kip behaupteten, daß der Kriß niemals an Bord gebracht worden sei, und nun hatte ihn da doch einer gesehen und er war obendrein in ihrem Reisesack im Gasthofe zum Great Old Man wiedergefunden worden.

»Befand sich an dem Kriß noch die Zwinge, als du ihn in der Hand hattest? fragte der Kronanwalt weiter.

– Ja, antwortete Jim, es fehlte damals nichts daran.«

Hieraus ergab sich mit Bestimmtheit, daß die Zwinge sich beim Ringen der Mörder mit dem Kapitän Gibson abgelöst haben mußte, da sie kurze Zeit darauf im Walde von Kerawara gefunden worden war.

Auf die Aussage Jims war nichts zu entgegnen, und die Angeklagten schwiegen dazu auch still.

Bis auf Herrn Hawkins schien allen die Sache nun erschöpft. Wer hätte noch glauben können, daß die Gebrüder Kip in eine von Vin Mod vorbereitete Falle geraten wären, daß dieser Elende den Dolch an Bord gebracht und ihn[295] den Schiffsjungen einen Augenblick sehen gelassen hätte, indem er ihn in die Kabine der Angeklagten legte, ehe er zu der Mordtat gebraucht wurde... wer hätte geahnt, daß die Mörder des Kapitäns Gibson sein Helfershelfer Flig Balt und er selbst gewesen wären, die sich zu dieser verabscheuungswürdigen Freveltat und zu dem heimtückischen Verhalten verbündet hätten, um zwei Unschuldige zu verderben!

Jetzt meldete sich Nat Gibson nochmals ums Wort. Er wollte die Aufmerksamkeit der Jury auf einen Vorfall hinlenken, von dem er noch nicht gesprochen hätte und der jetzt bei der Hauptverhandlung doch wohl Erwähnung verdiente.

Der Präsident erteilte ihm sogleich das Wort.

»Meine Herren Richter, meine Herren Geschworenen, begann er, Ihnen ist noch nicht bekannt, daß der ›James-Cook‹ auf der Fahrt von Neuseeland nach dem Bismarck-Archipel auf der Höhe der Louisiaden einen Überfall durch Papuas zu erleiden und abzuwehren hatte. Offiziere, Passagiere und Mannschaften, alle beteiligten sich an der Verteidigung der Brigg. Mein Vater stand dabei in der ersten Reihe. Da, während des heftigsten Kampfgewühls, wurde – ich weiß nicht von wem – ein Schuß abgefeuert und eine Kugel streifte fast schon den Kopf des Kapitäns Gibson. Bisher, meine Herren, hab' ich das ja für einen unglücklichen Zufall gehalten, der bei der damals herrschenden Finsternis und in der Hitze des Gefechtes recht leicht möglich sein konnte. Jetzt bin ich anderer Ansicht. Ich habe nicht nur Ursache zu glauben, nein, ich glaube sogar bestimmt, daß es sich dabei um einen überlegten Angriff auf meinen Vater gehandelt hat, dessen Tod beschlossen war, und von wem, wenn nicht von denen, die ihn später ermordeten?«

Unter der Wucht dieser neuen Beschuldigung sprang Karl Kip flammenden Auges noch einmal auf.

»Wir... wir! rief er mit zornbebender Stimme. Nat Gibson... das wagen Sie auszusprechen!«

Der ältere Kip war ganz außer sich. Sein Bruder nahm ihn aber an der Hand, um ihn zu besänftigen, und so setzte er sich schluchzend und mit hochwogender Brust wieder nieder.

Im ganzen Saale war wohl niemand, den dieser ergreifende Zwischenfall nicht tief erschüttert hätte, und aus Hawkins' Auge stahl sich eine Träne hervor.[296]

Vin Mod stieß den Bootsmann heimlich mit dem Knie und sah ihn verstohlen an, als wollte er sagen: »Nun wahrlich... daran hatt' ich gar nicht mehr gedacht... er, der Sohn des Kapitäns, hat es aber noch nicht vergessen!«

Die Aufgabe des Anklägers gestaltete sich also immer leichter. Den Geschworenen wurden die früheren Verhältnisse der Gebrüder Kip bekannt gegeben, ihre jetzige bedrängte Lage, sowie die Liquidation, die das Groninger Handelshaus bedrohte. Alles, was sie noch besaßen, war ihnen bei dem Schiffbruche der »Wilhelmina« verloren gegangen, auch das Geld, das sie noch von Amboine mitbrachten.


Der See Wakativu auf Neuseeland, im hintergrunde die Earnslawgletscher.
Der See Wakativu auf Neuseeland, im hintergrunde die Earnslawgletscher.

Ohne Zweifel hatten sie das auf dem Wrack nicht wiedergefunden, da sie davon gegen niemand gesprochen hatten, wohl aber den Dolch, dessen sie sich einige Wochen später bedienten. Dann hatten sie den bedauernswerten Kapitän um die paar tausend Piaster beraubt, die in ihrem Reisesacke wiedergefunden worden waren. Wer weiß auch, ob sich Karl Kip nicht schon vorher mit dem Gedanken getragen hatte, jenem in der Führung des »James-Cook« zu folgen, was ja später eintraf.

Unter welchen Verhältnissen das Verbrechen begangen worden war, das glaubten die Geschworenen zu wissen. Als Harry Gibson von der Brigg wegging, um sich zu Herrn Hamburg zu begeben, waren die beiden Brüder schon nicht mehr an Bord. Sie erwarteten ihn, spähten ihn aus, folgten ihm durch den Wald von Kerawara, überfielen ihn dann, schleppten ihn vom Fußwege fort und plünderten ihn schließlich aus. Nach ihrer Rückkehr auf den »James-Cook« konnte natürlich noch kein Verdacht gegen sie aufkommen. Auch am nächsten Tage scheuten sie sich nicht, sich dem Trauerzuge anzuschlietzen, der den Kapitän nach seiner letzten Ruhestätte geleitete, und hier weinten sie ihm, wie sein Sohn, sogar noch heiße Tränen nach.

Der Ankläger verlangte von der Jury, solchen Übeltätern gegenüber kein Mitleid walten zu lassen... es gäbe nur ein Urteil, das hier am Platze wäre... ein Todesurteil über Karl und Pieter Kip.

Jetzt ergriff noch der Verteidiger das Wort, der sich seiner Aufgabe reckt geschickt entledigte. Konnte er aber hoffen, daß seine Bemühungen erfolgreich wären?... Empfand er es nicht selbst, daß die Anschauung der Richter und des Volkes ebenso schon festständen?... Was hätte er den vorgebrachten greifbaren Beweisen entgegenhalten können?... Nur moralische Hinweise, die auf der Wage der irdischen Gerechtigkeit kaum ins Gewicht fielen. Er sprach von dem Vorleben seiner Klienten, von ihrem ehrbaren Verhalten, das von allen, die mit[299] ihnen in Beziehung getreten wären, rückhaltlos anerkannt werde. Daß das Groninger Handelshaus in Verlegenheit gekommen sei, daß sie bei dem Schiffbruche der »Wilhelmina« ihre Hilfsmittel eingebüßt hätten, sei ja leider nur zu wahr.

Doch um sich eine so verschwindend kleine Summe, zwei- oder dreitausend Piaster, anzueignen, sollten sie dem Kapitän Gibson nach dem Leben getrachtet, sollten sie ihren Wohltäter getötet haben?... Nein, das sei unglaublich!... Die Gebrüder Kip seien das Opfer unerklärlicher Vorkommnisse. Es sprächen noch so viele Zweifel zu ihren Gunsten, daß sie für »nicht schuldig« erklärt werden müßten.

Die Verhandlung war hiermit zu Ende und die Geschworenen zogen sich ins Beratungszimmer zurück.

Den Kopf in die Hände gestützt, blieb Nat Gibson auf der Zeugenbank zurück. Der Advokat der Angeschuldigten hatte an seiner Überzeugung freilich nicht zu rütteln vermocht... nein, für ihn waren und blieben Karl und Pieter Kip die Mörder seines Vaters.

Hawkins hielt sich mehr beiseite; ihm wollte das Herz brechen beim Anblick des jetzt leeren Platzes, den die Angeklagten nun wieder einnehmen sollten, ihr Urteil zu vernehmen. Da näherte sich ihm der Schiffsjunge Jim.

»Herr Hawkins, sagte dieser mit zitternder Stimme, ich konnte doch nicht anders sprechen, nicht wahr?

– Nein, mein Kind, das konntest du nicht!« antwortete der Reeder betrübt.

Die Beratung der Geschworenen zog sich etwas in die Länge, als ob diesen die Schuld der Holländer doch nicht ganz bewiesen erschiene. Vielleicht billigte ihnen die Jury mildernde Umstände zu infolge der würdigen Haltung der beiden Brüder im Laufe der Verhandlung, einer Haltung, die ja nicht ohne einigen Eindruck bleiben konnte.

Inzwischen vermochten zwei Männer ihre Ungeduld kaum noch zu zügeln: Flig Balt und Vin Mod, die dicht nebeneinander saßen und nicht einmal ein paar Worte mit leiser Stimme zu sprechen wagten. Sie brauchten aber auch die Sprache gar nicht, sich zu verstehen, ihre Gedanken auszutauschen. Was sie erhofften, was sie brauchten, sich erst völlig sicher zu fühlen, das war ein Todesurteil, war die Hinrichtung der Gebrüder Kip. Erst mit deren Tode war die Sache wirklich zu Ende. So lange sie noch lebten, und wäre es selbst innerhalb der Mauern eines Bagno, würden sie doch ihre Unschuld beteuern,[300] und wer konnte denn wissen, ob nicht ein Zufall die Behörden noch auf die Spur der wirklichen Schuldigen führte.

Nach einer Beratung von fünfunddreißig Minuten ertönte die Glocke der Jury wieder. Sofort nahmen die Geschworenen ihren Platz im Verhandlungssaale wieder ein, sie hatten sich also über ihren Spruch geeinigt.

Sich drängend, stoßend, hoch erregt und unter großem Lärm stürmten die Zuhörer wieder herein.

Auch die Richter erschienen sogleich wieder an ihrem Tische und der Vorsitzende verkündigte die Fortsetzung der Verhandlung.

Der Obmann der Geschworenen wurde aufgefordert, deren Entscheidung mitzuteilen.

Diese lautete auf »Schuldig« in jeder Hinsicht und ohne Empfehlung mildernder Umstände.

Jetzt wurden auch Karl und Pieter wieder hereingeführt. Sie gingen nach ihrem Platze, vor dem sie stehen blieben.

Der Präsident und die Beisitzer berieten einige Augenblicke über die Auswerfung der Strafe für das Verbrechen des Mordes, d. h. der Tötung mit Überlegung.

Die Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, und bei der Verkündigung dieses Urteils machten sich einige Zeichen des Beifalls bemerkbar.

Nach einem schmerzerfüllten Blicke nahmen sich die beiden Brüder an der Hand, ihre Arme öffneten sich, und ohne ein Wort zu äußern, drückten sie einander innig ans Herz.

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 286-289,291-297,299-301.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
Die Gebrüder Kip
Die Gebrüder Kip

Buchempfehlung

Apuleius

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der goldene Esel. Metamorphoses, auch Asinus aureus

Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.

196 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon