Neuntes Capitel.
Bei Kamtschatka.

[120] Kamtschatka, die lange, von dem gleichnamigen Strome bewässerte Halbinsel, dehnt sich zwischen dem Ochotskischen Meere und dem arktischen Eismeere aus. Es hat bei vierhundert Kilometern Breite eine Länge von nicht weniger als dreizehnhundertfünfzig Kilometern.

Zu Rußland gehört die Provinz seit dem Jahre 1808. Anfänglich dem Gouvernement Irkutsk zugeschlagen, bildet sie jetzt eine der acht großen Abtheilungen, in die Sibirien in administrativer Hinsicht zerlegt ist.

Kamtschatka hat verhältnißmäßig eine schwache Bevölkerung, kaum eine Seele auf ein Quadratkilometer, und offenbar nimmt die Bevölkerung auch nicht weiter zu. Der Erdboden erscheint für die Cultur recht ungeeignet, obgleich die Mitteltemperatur hier nicht niedriger ist, als in manchen anderen, blühenderen Theilen Sibiriens. Die Erde ist aber mit Lavastücken übersät, mit porösen Steinen und mit Asche, die alle von vulcanischen Ausbrüchen herrühren. Von Norden nach Süden und mehr in der Nähe des östlichen Ufers durchzieht das Land eine große, vielfach zerrissene Bergkette mit einzelnen, ziemlich hohen Gipfeln. Die Bergkette endet eigentlich nicht an dem an der Südspitze gelegenen Cap Lopatka, denn die Gruppe der Kurilen ist bis nach Japan hin als ihre natürliche Fortsetzung anzusehen.


Im Hafen von Petropawlowsk ging der »Saint Enoch« vor Anker. (S. 120.)
Im Hafen von Petropawlowsk ging der »Saint Enoch« vor Anker. (S. 120.)

Von der Landenge aus, die Kamtschatka mit der Hauptmasse Asiens verbindet, fehlt es an der Ostküste nicht an Häfen; da liegen: Karajinsk, Chalwesk, Swaschink, Chaljulinsk und Osernowsk, außer dem unzweifelhaft bedeutendsten, dem Hafen von Petropawlowsk, der etwa zweihundertfünfzig Kilometer vom Cap Lopatka entfernt ist.

Hier ging der »Saint Enoch« am 4. October Nachmittag fünf Uhr vor Anker. Er legte sich so nahe an das Land, wie es sein Tiefgang gestattete, und zwar in der Bai Avatcha, die geräumig genug ist, alle Flotten der Erde aufzunehmen.

Auch der »Repton« war hier bereits eingetroffen.[120]

Hatte der Doctor Filhiol jemals davon geträumt, die Hauptstadt von Kamtschatka zu besuchen, so konnte er das jetzt unter den günstigsten Bedingungen wahr machen. Bei dem hiesigen, heilsamen Klima mit sehr reiner, feuchter Luft ist der Himmel freilich selten völlig klar. Als das Schiff aber heute in die Bai Avatcha einlief, konnte man das lange Profil des prächtigen Bergpanoramas zufällig recht gut überblicken.

Die Kette enthält zahlreiche Vulcane, wie den Schiwelusch, den Schiwelz, den Kronosker, den Kortazker, den Asatchinska und endlich, hinter der so malerisch eingerahmten Ortschaft, den schneebedeckten Korialski, dessen Krater mit Flammen vermischte Rauchwolken ausstieß.

Die Stadt selbst, die damals sozusagen noch in den Kinderjahren war, bestand nur aus einer Anhäufung von hölzernen Häusern am Fuße der Berge. Man hätte glauben können, ein Kinderspielzeug vor sich zu sehen, dessen Häuschen ohne jede Ordnung aufgestellt wären. Von den bescheidenen Bauten war der merkwürdigste eine kleine, dem griechischen Cultus geweihte Kirche mit zinnoberrothen Wänden und grünem Dache, deren Glockenthurm fünfzig Schritt weit von ihr aufragte.

Zwei Seeleute, der eine ein Däne, der andere ein Franzose, sind in Petropawlowsk durch Denkmäler verewigt, nämlich Behring und der Commandant Lapérouse, dem ersten hat man hier eine Säule, dem zweiten ein achteckiges, mit Eisenplatten belegtes Bauwerk errichtet.

Dem Ackerbau dienende Gehöfte von einiger Ausdehnung hätte der Doctor Filhiol in dieser Provinz nicht finden können. Dank der stets feuchten Luft, ist der Boden dagegen reich an Weiden und Wiesen, die dreimal im Jahre abgemäht werden können. Getreide giebt es nur wenig, und Gemüsearten gedeihen auch nur mittelmäßig, mit Ausnahme des Blumenkohls, der sich zu ungeheurer Größe entwickelt. Man findet sonst nur Gersten- und Haferfelder, die vielleicht etwas mehr Ertrag liefern, als in anderen Theilen des nördlichen Sibiriens, weil das Klima hier zwischen den beiden, die Halbinsel umspülenden Meeren weniger rauh ist.

Bourcart wollte sich in Petropawlowsk nicht längere Zeit aufhalten, als er zur Beschaffung seines Bedarfes an frischem Fleische brauchte. Die Frage, wo der »Saint Enoch« überwintern sollte, war thatsächlich noch nicht entschieden.

Darüber sprach der Kapitän einmal mit dem Obersteuermanne, da es doch nothwendig wurde, einen endgiltigen Beschluß zu fassen.

Bourcart äußerte sich dabei in folgender Weise:[123]

»Ich glaube auf keinen Fall, daß wir den Winter im Hafen von Petropawlowsk zubringen sollten, obgleich ein Schiff hier vom Eise nichts zu fürchten hat, da die Bai Avatcha selbst bei strengster Kälte stets offen bleibt.

– Doch sollten Sie nicht daran denken, lieber nach Vancouver zurückzukehren?

– Ja freilich, und wär' es nur, um den Thran zu verkaufen, den wir in den Fässern haben.

– Höchstens eine Drittelladung! antwortete der Obersteuermann.

– Das weiß ich wohl, Heurtaux, doch warum sollten wir nicht aus dem hohen Preise dafür Nutzen ziehen, zumal da man nicht wissen kann, ob dieser übers Jahr noch besteht?

– O, der wird schon nicht heruntergehen, Kapitän, wenigstens dann nicht, wenn die Walfische, wie es den Anschein hat, aus diesen Gegenden des nördlichen Stillen Oceans verschwinden.

– Das ist freilich eine ganz unerklärliche Erscheinung, meinte Bourcart, und vielleicht haben die Walfänger bald gar keine Veranlassung mehr, das Ochotskische Meer ferner aufzusuchen.

– Wenn wir aber nach Victoria zurücksegeln, wird der »Saint Enoch« dann den Winter über dort liegen bleiben?

– Das läßt sich erst später entscheiden. Die Fahrt von Petropawlowsk nach Victoria wird, wenn sie ohne Hindernisse verläuft, sechs bis sieben Wochen in Anspruch nehmen, und wer weiß, ob wir nicht unterwegs Gelegenheit finden, zwei oder drei Spritzwale abzufangen. Irgendwo müssen die Burschen doch sein, da man sie weder im Ochotskischen Meere, noch in der Bai Marguerite antrifft.

– Vielleicht haben sie sich nach der Behringstraße zurückgezogen, Kapitän.

– Das wäre wohl möglich, Heurtaux, die Jahreszeit ist aber zu weit vorgeschritten, als daß man sich in so hohe Breiten wagen könnte. Wir würden bald vom Packeis aufgehalten werden. Nein, wir wollen lieber während der Reise versuchen, noch einige Harpunen auszuwerfen.

– Wäre es übrigens, bemerkte der Obersteuermann, nicht noch rathsamer, nach Neuseeland zurückzukehren, als in Victoria zu überwintern?

– Daran hab' ich auch gedacht, antwortete Bourcart. Jedenfalls müssen wir mit der Entscheidung aber warten, bis der »Saint Enoch« in Vancouver eingetroffen ist.

– Von einer Rückkehr nach Europa ist also wohl keine Rede?[124]

– Nein, nicht eher, als bis wir im nächsten Jahre die ganze Fangzeit abgewartet haben.

– Wir werden also, schloß Heurtaux seine Rede, Petropawlowsk wohl sehr bald wieder verlassen?

– Sobald unsere Verproviantierung beendet ist,« antwortete Bourcart.

Die Mannschaft nahm diese vorläufige Entscheidung mit sichtlicher Befriedigung auf... mit der einzigen Ausnahme des Böttchers.

Als ihn dann noch an demselben Tage der Meister Ollive in einer der Schänken des Ortes bei einer Flasche Vodka zurückhielt, fragte er:

»Na, Alterchen, was meinst Du denn zu dem Beschlusse des Kapitäns?

– Meine Ansicht ist, antwortete Jean-Marie Cabidoulin, daß der »Saint Enoch« besser thäte, nicht nach Vancouver zurückzukehren.

– Und warum das?

– Weil der Weg dahin nicht sicher ist.

– Du würdest also lieber in Petropawlowsk überwintern?

– Nein, das auch nicht.

– Ja, was dann?

– Das beste wäre, nach Süden zu steuern und nach Europa heimzukehren.

– Das meinst Du?

– Ja, das ist mein Gedanke... und der ist gut und richtig!«

Der »Saint Enoch« hatte, abgesehen von der Ausbesserung einiger unbedeutender Schäden, nur seine Vorräthe an frischen Nahrungsmitteln und an Brennmaterial zu erneuern. Das letztere war eine unumgängliche Arbeit, die die Mannschaft ohne Zögern in Angriff nahm.

Man bemerkte übrigens, daß der »Repton« dasselbe that, was bei ihm also ähnliche Absichten voraussetzen ließ. Wahrscheinlich segelte der Kapitän King sogar schon in den nächsten Tagen ab. Wohin? Das hatte Bourcart nicht erfahren können.

Der Doctor Filhiol widmete die Mußestunden des hiesigen Aufenthaltes, ebenso wie in Victoria, dem Besuche der Umgegend, nur in noch mehr als da beschränktem Kreise. Bezüglich der Hilfsmittel zum Fortkommen stand Kamtschatka doch noch weit hinter der Insel Vancouver zurück.

Seine Bevölkerung zeigte einen, von dem der Indianer, die in Alaska und dem britischen Columbien siedeln, sehr abweichenden Typus. Die Eingebornen hier haben sehr breite Schultern, hervortretende Augen, eckige Kiefer, wulstige[125] Lippen und schwarzes Haar. Sie sind ein kräftiger Menschenschlag, doch eigenartig häßlich. Wie weise ist aber die Natur gewesen, ihnen so wenig wie möglich Nase zu verleihen, wo hier die in der freien Luft verfaulenden Ueberreste von Fischen einen empfindlichen Geruchsnerven so schwer beleidigen.

Die Männer haben eine gelblichbraune, die Frauen – soweit man sich davon überzeugen kann – eine weiße Gesichtsfarbe. Gewöhnlich bedecken die koketten Geschöpfe das Gesicht nämlich mit aufgeklebten Goldschlägerhäutchen und schminken sich mit einer aus Varec gewonnenen rothen Farbe, die mit Thran gemischt aufgetragen wird.

Was die Kleidung betrifft, so besteht diese aus Fellen, die mit Weidenrinde gelb gefärbt sind, aus leinenen, von Rußland oder Buchara eingeführten Hemden, und aus Beinkleidern, deren sich beide Geschlechter bedienen. Alles in allem ähneln die Kamtschadalen in dieser Beziehung den Bewohnern des hochnördlichen Asiens.

Ueberdies sind die örtlichen Sitten und überhaupt die Lebensweise dieselben wie in Sibirien unter der strengen moskowitischen Verwaltung, sowie sich die Bevölkerung auch zur orthodoxen (griechischen) Religion bekennt.

Erwähnung verdient wohl auch, daß die Kamtschadalen, dank dem heilsamen Klima, sich einer vortrefflichen Gesundheit erfreuen, wie überhaupt im Lande nur wenige Krankheiten vorkommen.

»Hier würden die Aerzte auch nicht reich werden!« mußte sich der Doctor Filhiol sagen, wenn er die kraftstrotzenden Männer und Frauen sah, die auch in Folge ihrer fortwährenden Thätigkeit eine auffällige Gewandtheit der Bewegungen zeigen und vor dem sechzigsten Jahre niemals ergrauen.

Uebrigens erwies sich die Bevölkerung von Petropawlowsk recht freundlich und gastfrei; höchstens könnte man ihr den Vorwurf machen, daß sie gar zu vergnügungssüchtig sei.

Wozu sich aber mit schwerer Arbeit abmühen, wenn man seinen Lebensunterhalt mit so wenigen Kosten bestreiten kann? Fische, vor allem Lachse, von den Tümmlern gar nicht zu reden, giebt es an der Küste in Ueberfluß, und sogar die Hunde ernähren sich davon fast ausschließlich. Die zwar mageren, doch kräftigen Hunde benutzt man zum Ziehen der Schlitten. Ein sicherer Instinkt gestattet ihnen, auch in den hier so häufigen heftigen Schneestürmen den richtigen Weg zu finden. Die Kamtschadalen betreiben nämlich nicht allein den Fischfang, sie widmen sich auch der Jagd auf die zahlreichen Vierfüßler des Landes, wie[126] auf Zobel, Hermeline, Ottern, Renthiere, Wölfe und wilde Schafe. Schwarze Bären kommen ebenfalls häufig in den Berggegenden der Halbinsel vor. Sie sind ebenso gefährlich, wie ihre Verwandten an der Bai von Ochotsk, und man muß vor ihnen immer auf der Hut sein, denn wenn man sich nur wenig von Petropawlowsk entfernt, hat man von den Thieren immer einen Angriff zu befürchten.

Die Hauptstadt von Kamtschatka zählte jener Zeit nicht mehr als elfhundert Einwohner. Unter Nicolaus I. wurde sie mit Befestigungen umgeben, die die vereinigten englisch-französischen Flotten im Kriege von 1855 theilweise zerstörten. Die Befestigungen werden aber jedenfalls wieder hergestellt werden, denn Petropawlowsk ist ein wichtiger strategischer Punkt und es verlohnt sich, die prächtige Bai von Avatcha vor jedem Angriff sicher zu stellen.

Im Hinblick auf eine lange Ueberfahrt, bei der vielleicht einmal ein Walfisch erbeutet werden könnte, sorgte die Mannschaft des »Saint Enoch« auch für die Vervollständigung des Holzvorraths. Die Beschaffung des Brennmaterials war freilich an der Küste von Kamtschatka keine so leichte, wie an der des Ochotskischen Meeres.

Die Leute hatten erst drei bis vier Meilen zurückzulegen, ehe sie einen Wald erreichten, der die unteren Abhänge des Vulcans Karoalski bedeckte. Das nöthigte zur Einrichtung eines Verkehrs mittels Schlitten, die von Hunden gezogen wurden, und auf denen das Holz nach dem Schiffe hin befördert wurde.

Am 6. October bestiegen der Meister Cabidoulin, der Zimmermann Thomas und sechs Matrosen, alle mit Sägen und Aexten ausgerüstet, einen Schlitten oder Schleife, den der Kapitän Bourcart gemiethet hatte und den sein eingeborner Führer mit der Geschicklichkeit eines leibhaftigen Musik lenkte.

Von der Stadt aus folgte das Gefährte einem Wege – mehr einem Fußpfade als einer Straße – der sich zwischen Hafer- und Gerstenfeldern hinschlängelte. Dann führte er über ausgedehnte Weidegründe, wo eben der letzte Schnitt beendigt war und die von zahlreichen Bächen bewässert wurden. Die Hunde trabten unermüdlich schnell vorwärts, und gegen halb acht Uhr wurde der Wald erreicht.

Dieser bestand freilich nur aus einem begrenzten Stück Landes mit Fichten, Lärchen und anderen harzigen, immergrünen Bäumen. Ein Dutzend Walfänger hätte sich hier kaum hinlänglich mit Holz versorgen können.[127]

»Entschieden ist es Kamtschatka nicht, sagte in Bezug hierauf der Zimmermann Thomas, das uns die Feuerung für die Schmelzöfen liefert.


Fischer aus der Gegend von Petropawlowsk.
Fischer aus der Gegend von Petropawlowsk.

– O, hier ist mehr Holz vorhanden, als wir verbrennen werden, antwortete Meister Cabidoulin.

– Wieso denn?

– Weil die Walfische zum Teufel gegangen sind, und deshalb ist es recht unnütz, Bäume zu fällen, wenn man unter den Schmelztöpfen kein Feuer zu unterhalten hat.
[128]

Die Fischer wurden durch das Auftauchen eines Meerungeheuers in Schrecken versetzt. (S. 132)
Die Fischer wurden durch das Auftauchen eines Meerungeheuers in Schrecken versetzt. (S. 132)

Die Fischer wurden durch das Auftauchen eines Meerungeheuers in Schrecken versetzt. (S. 132)


– Nun ja, nach Deiner Anschauung, erwiderte der Zimmermann; andere Leute sind aber dieser Ansicht nicht und rechnen vielmehr noch auf einige Harpunenwürfe!«

Nahe bei dem Fußwege war übrigens schon eine andere Mannschaft bei der Arbeit: ein halbes Dutzend Matrosen vom »Repton«, die unter Leitung ihres Obersteuermanns Strock schon am Tage vorher mit dem Fällen der Bäume begonnen hatten. Vielleicht sollte das englische Schiff gar ebenso wie der »Saint Enoch« nach Vancouver segeln?[129]

Wenn sich hier nur gegen hundert Bäume vorfanden, mußten die zwei Walfänger ihren Bedarf an Holz reichlich decken können. Die Leute brauchten sich also um keiner Wurzel und keines Astes willen zu streiten, und weder der Schmelzofen des englischen, noch der des französischen Fahrzeuges würde wegen Mangels an Brennmaterial zu feiern genöthigt sein.

Vorsichtigerweise führte der Zimmermann schon seine Arbeiter nicht nach der Seite, wo die Leute vom »Repton« beschäftigt waren. Hatte man auf dem Wasser zwischen einander jeden Verkehr gemieden, so sollte das auch auf dem Lande dabei bleiben. Bourcart hatte auch mit gutem Grunde angeordnet, daß gegebenen Falls jedes Zusammentreffen der beiderseitigen Mannschaften vermieden werden solle. Die Matrosen vom »Saint Enoch« gingen deshalb am anderen Ende des Fußsiegs an die Arbeit, und am ersten Tage wurden schon zwei Stere (Cubikmeter) Holz an Bord gebracht.

Am letzten Tag blieb es, trotz der Warnungen des Kapitäns Bourcart, doch nicht aus, daß die Mannschaft vom »Repton« und die vom »Saint Enoch« zusammentrafen und wegen eines Baumes in Streit geriethen.

Die Engländer kamen leicht in die Hitze und die Franzosen nicht minder, hier befand man sich auch weder in Frankreich noch in England, sondern auf neutralem Boden.

Bald flogen aufreizende Worte hinüber und herüber, und von einem Wortwechsel bis zu einer Schlägerei ist es zwischen Matrosen verschiedener Nationalität bekanntlich niemals weit. Die Leute vom »Saint Enoch« hatten den Groll gegen die anderen ja schon seit einigen Monaten bewahrt.

Während des Gezänkes, das weder Meister Cabidoulin noch Thomas zu beschwichtigen vermochte, erhielt der Matrose Germinet vom Zimmermann des »Repton« einen heftigen Stoß. Der plumpe, von Gin und Whisky halb berauschte Kerl stieß die ganze Reihe von Schimpfworten hervor, die jedem angelsächsischen Munde so geläufig sind.

Sofort gingen die beiden Mannschaften gegeneinander los. Es schien dabei, als ob der Obersteuermann Strock sich nicht im geringsten bemühte, seine Leute zurückzuhalten, und der Streit drohte deshalb in ein Handgemenge auszugehen.

Zuerst stürzte sich Germinet, der nicht gewillt war, den erhaltenen Puff so ruhig hinzunehmen, mit einem Satze auf den Engländer, riß ihm die Mütze vom Kopfe, trat sie mit Füßen und rief dazu:[130]

»Hat der »Repton« auch den »Saint Enoch« nicht salutiert, so soll doch dieser English wenigstens den Hut vor uns ziehen!

– Gut heimgeleuchtet!« riefen seine Kameraden.

Welche von den beiden an Zahl gleichen Mannschaften bei einem Handgemenge den Sieg davontragen würde, ließ sich von vornherein nicht sagen. Die Matrosen, deren Erregung sichtlich zunahm, hatten sich mit Aexten und Messern bewaffnet. Kam es jetzt wirklich zu einem allgemeinen Zusammenstoß, so wäre dieser ohne Blutvergießen, vielleicht ohne Menschenverlust nicht abgegangen.

Der Zimmermann und der Meister Cabidoulin bemühten sich deshalb, ihre Leute, die schon den Angriff beginnen wollten, zu beruhigen. Auch der Obersteuermann Strock schien jetzt den Ernst der Lage einzusehen, und es gelang ihm schließlich, die Mannschaft vom »Repton« zurückzuhalten.

Es blieb also beim Austausch von Schimpfereien, und die Franzosen machten sich wieder an ihre Arbeit. Das Holzfällen nahm übrigens mit diesem Tage sein Ende, und die Mannschaften hatten deshalb keine weitere Gelegenheit zu einem Zusammenstoße.

Zwei Stunden später waren der Böttcher, der Zimmermann und die übrigen Leute mit dem Schlitten an Bord zurück. Als da Bourcart von dem Vorgefallenen hörte, sagte er befriedigt:

»Zum Glück wird der »Saint Enoch« nun sehr bald abfahren, denn die Sache wäre sonst doch schlimm abgelaufen!«

Thatsächlich wäre ja zu befürchten gewesen, daß die mehr und mehr aufgereizten Leute in den Straßen von Petropawlowsk sich in eine Schlägerei verwickelt hätten und von der russischen Polizei vielleicht gar verhaftet worden wären. Um in den Schänken ein Zusammentreffen der Leute mit seinen unausbleiblichen Folgen zu verhindern, ertheilten der Kapitän Bourcart und der Kapitän King keinen Landurlaub mehr.

Der »Saint Enoch« und der »Repton« ankerten freilich kaum eine Kabellänge von einander und die Spott- und Schimpfreden der Mannschaften waren auf beiden Schiffen zu hören. Das Rathsamste war es also jedenfalls, die Vorbereitungen zur Abfahrt zu beschleunigen, den letzten Proviant einzunehmen und so schnell wie möglich abzusegeln, dann, draußen auf dem Meere, einander nicht zu nahe zu kommen, und vor allem, nicht nach demselben Hafen zu steuern.[131]

Da ereignete sich aber noch ein Zwischenfall, der die Abreise des französischen und des englischen Schiffes verzögern sollte.

Am Nachmittage des 8. October, während einer für den Fischfang recht günstigen Seebrise, sah man zu seiner Verwunderung, daß die kamtschadalischen Schaluppen Hals über Kopf dem Hafen zueilten. Die Flucht der Fischer vollzog sich so schnell, daß mehrere sogar ihre Netze am Eingange der Bai von Avatcha im Stich gelassen hatten.

Die Einwohner von Petropawlowsk sollten den Grund der Verwirrung bald genug erfahren.

Eine halbe Meile seewärts von der Bai war die ganze Fischerflottille durch das Auftauchen eines Meerungeheuers von riesiger Größe in Schrecken gesetzt worden. Das Ungeheuer glitt an der Wasserfläche hin, die es mit dem Schwanze mit unglaublicher Gewalt peitschte. Hierbei mußte man wohl der erregten Phantasie und der sehr natürlichen Angst Rechnung tragen, die sich der einsamen Fischer bemächtigt hatte. Ihrer Rede nach war jenes Thier nicht weniger als dreihundert Fuß lang und von fünfzehn bis zwanzig Fuß dick; sein Kopf sollte eine dichte Mähne haben, der Körper in der Mitte wie angeschwollen und, wie einzelne behaupteten, mit fürchterlichen Scheren, wie eine Crustacee, versehen sein.

War das nicht Jean-Marie Cabidoulin's Seeschlange und lief die ganze Sache nicht auf eine Selbsttäuschung hinaus, so war also – kurz vorher oder noch jetzt – der Meerestheil vor der Bai von Avatcha von einem außerordentlich wunderbaren Thiere heimgesucht, das man nicht wohl ins Gebiet der Fabeln verweisen konnte. Daß es nur eine ungeheure Algenmasse von der Art gewesen wäre, wie der »Saint Enoch« jenseits der Alëuten eine solche angetroffen hatte, das ließ sich wohl kaum annehmen. Es handelte sich gewiß um ein lebendes Wesen, wie die fünfzig oder sechzig in den Hafen geflüchteten Fischer übereinstimmend versicherten. Bei einer solchen Größe müßte ihm aber eine Kraft zukommen, der ein Fahrzeug von der Größe des »Repton« oder des »Saint Enoch« nicht widerstehen konnte.

Da fragten sich Bourcart, seine Officiere und seine Leute, ob es nicht die Anwesenheit dieses Ungeheuers im Gewässer des nördlichen Stillen Oceans gewesen sein möge, der die Flucht der Walfische zuzuschreiben wäre, ob nicht dieser Oceansriese sie, wie früher aus der Bai Marguerite, so auch jetzt aus dem Ochotskischen Meere vertrieben habe, derselbe, von dem der Kapitän des »Iving« gesprochen[132] hatte, und der, nachdem er durch diesen Theil des Oceans geschwommen, hier aus dem kamtschadalischen Gewässer gemeldet worden war.

Das fragte sich an Bord des »Saint Enoch« jedermann, und behielt nun nicht Jean-Marie Cabidoulin gegenüber allen recht mit seiner Behauptung, daß es solche ungeheuere Seeschlangen oder andere furchtbare Thiere ähnlicher Art gebe?

In der Messe wie im Volkslogis entspannen sich darüber lange und leidenschaftlich geführte Gespräche.

Hatten die Fischer unter der Herrschaft des Schreckens vielleicht nur zu sehen geglaubt, was sie gar nicht gesehen hatten?

Das war die Ansicht, die Bourcart, der Obersteuermann, der Doctor Filhiol und Meister Ollive vertraten. Die beiden Lieutenants sprachen sich schon weniger bestimmt aus, und was die Mannschaft betraf, wollte deren große Mehrzahl einen Irrthum nicht zugeben. Für sie stand das Auftauchen des Ungeheuers außer allem Zweifel.

»Alles in allem, sagte Heurtaux, halte ich dafür, daß wir, mag die Sache nun richtig oder falsch sein, mag das merkwürdige Thier vorhanden sein oder nicht, unsere Abfahrt nicht verschieben.

– Das meine ich auch, antwortete Bourcart, wir brauchen an unseren Plänen nichts zu ändern.

– Zum Teufel! rief Romain Allotte, das Unthier, und wenn es ein noch so ungeheuerliches Geschöpf wäre, wird den »Saint Enoch« nicht gleich wie der Haifisch eine Speckseite verschlingen!

– Außerdem, bemerkte der Doctor Filhiol, ist es doch schon im Interesse der Allgemeinheit besser, zu wissen, woran man sich hier zu halten hat.

– Ganz meine Ansicht, stimmte ihm Bourcart zu; übermorgen fahren wir ab!«

Der Beschluß des Kapitäns wurde fast von allen gebilligt. Welche Ehre würde es auch für dasjenige Schiff und für diejenige Mannschaft sein, denen es gelänge, das Gewässer hier von einem solchen Ungethüm zu befreien.

»Nun, Alterchen, sagte Meister Ollive zu dem Böttcher, wir fahren trotz alledem ab, und wenn wir das zu bereuen hätten...

– So würde es zu spät sein, fiel ihm Jean-Marie Cabidoulin ins Wort.

– Da sollte man wohl überhaupt nicht mehr draußen umhersegeln?

– Niemals mehr![133]

– Bei Dir ist's wohl da oben nicht ganz richtig... Alter!

– Wirst Du zugeben, daß von uns beiden ich es gewesen bin, der recht gehabt hat?

– Ich bitte Dich... erwiderte Meister Ollive die Achseln zuckend.

– Ich, sage ich Dir... weil sie da draußen ist... die große Seeschlange...

– Das werden wir ja sehen.

– Nein, das ist gar nicht mehr nöthig!«

Der Böttcher schwebte eigentlich zwischen der Furcht, die ihm das Erscheinen des Ungeheuers einflößen mußte, und der Befriedigung, immer an dessen Vorhandensein geglaubt zu haben.

Im Flecken Petropawlowsk herrschte inzwischen eine tödtliche Angst, und man kann sich wohl vorstellen, daß eine so abergläubische Bevölkerung es gar nicht bezweifelte, daß das Thier sich jetzt in die sibirischen Gewässer verirrt habe. Niemand hätte an eine Augentäuschung der Fischer geglaubt. Das hätten keine Kamtschadalen sein können, die sich den unwahrscheinlichsten, den Ocean betreffenden Fabeln gegenüber als Zweifler erwiesen hätten.

Die Einwohner überwachten also unablässig die Bai von Avatcha, immer in der Angst, daß das schreckliche Thier noch in diese eindringen könnte. Bei jeder hohen Welle, die sich im Ocean aufthürmte, war es das Ungethüm, das ihn bis in seine Tiefen aufwühlte, und wenn sich irgendein auffälliges Getöse hören ließ, rührte es von diesem her, indem es mit dem Schwanze in der Luft umherfuchtelte! Und wenn es nun bis in den Hafen vordrang, wenn es gar gleichzeitig eine Ophidie und ein Saurier war, dann verließ die entsetzliche Amphibie wohl auch noch das Wasser und stürzte sich wüthend auf die Stadt. Gewiß zeigte das Ungeheuer sich auf dem Lande nicht minder gefährlich, als auf dem Meere. Doch wie ihm entgehen?

Der »Saint Enoch« und der »Repton« beschleunigten inzwischen ihre letzten Vorbereitungen. Welche Gedanken die Engländer über das apokalyptische Geschöpf auch haben mochten, jedenfalls wollten sie bald, und allem Anscheine nach an demselben Tage wie das französische Schiff, unter Segel gehen. Da aber der Kapitän King und seine Leute abzureisen nicht zögerten, so konnte doch auch der Kapitän Bourcart nicht umhin, ihrem Beispiele zu folgen.

So kam es denn, daß die beiden Schiffe am Morgen des 10. October zur gleichen Stunde die Anker lichteten, da sie die Ebbeströmung benutzen wollten. Die Nationalflagge an der Gaffel und von einem leichten Landwinde getrieben,[134] glitten sie nach Osten zu durch die Bai von Avatcha, als träten sie vereint die neue Fahrt an

Vielleicht konnten sie bei einem oder dem anderen Unfalle, trotz der herrschenden feindlichen Stimmung, sogar in die Nothlage kommen, einander beizustehen.

Die Bevölkerung von Petropawlowsk aber, immer noch eine Beute des Schreckens, nährte als einzige Hoffnung die, daß das Ungeheuer sich, nachdem es seine Wuth am »Repton« und am »Saint Enoch« ausgelassen hätte, aus den sibirischen Gewässern zurückziehen werde.

Quelle:
Jules Verne: Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 120-121,123-135.
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