Vierzehntes Capitel.
Weiter stromabwärts.

[130] Mit dem ersten Tagesgrauen am 27. Juni wurden die Taue gelöst und die Jangada trieb von Neuem mit der Strömung hinunter.

An Bord befand sich jetzt noch eine Person mehr. Woher dieser Torres eigentlich kam, wußte zunächst Niemand; daß er nach Manao wolle, hatte er geäußert.[130]

Torres hütete sich übrigens, von seinem Vorleben und von dem Handwerk, das er bis vor zwei Monaten getrieben, etwas laut werden zu lassen, so daß keinem Menschen auf der Jangada auch nur der Gedanke kam, daß man in Jenem einen früheren Waldkapitän aufgenommen habe. Joam Garral vermied es aus Zartgefühl, sich für den erwiesenen Dienst durch zudringliche Fragen bezahlt zu machen.

Als er den Mann an Bord nahm, folgte er nur einem Gefühle von Menschlichkeit. Jener Zeit, wo noch keine beflügelten Dampfer den Lauf des Stromes pflügten, war es in den menschenarmen Urwäldern der Umgebung schwierig, sichere und schnelle Transportmittel zu finden. Die vorhandenen Fahrzeuge unterhielten keine geregelten Verbindungen, und meist sah sich der Reisende gezwungen, durch die üppigen Wälder zu Fuße zu gehen.

Durch Benitos Schilderung der Umstände, unter denen er Torres zuerst getroffen, war dieser gleichsam legitimirt und eingeführt und befand sich hier etwa in denselben Verhältnissen, wie ein Passagier an Bord eines transatlantischen Dampfers, dem es völlig frei steht, an dem gemeinschaftlichen Leben theilzunehmen, wenn ihm das zusagt, oder sich zurückzuziehen, wenn das seiner Stimmung entspricht.

Während der ersten Tage vermied es Torres augenscheinlich, mit der Familie Garral vertraulicher zu verkehren. Er hielt sich sehr reservirt, gab zwar Antwort, wenn Jemand auf ihn sprach, knüpfte aber selbst ein Gespräch nicht an.

Wenn er sich überhaupt Jemandem etwas näher anschloß, so war das Fragoso. Dem allzeit lustigen Patron verdankte er ja eigentlich die Gunst, jetzt auf der Jangada eingeschifft zu sein. Ihn fragte er zuweilen über die Verhältnisse der Familie Garral in Iquitos und über Minhas Verlobung mit Manoel Valdez, aber auch das geschah nur mit einer gewissen Zurückhaltung. Meist blieb er jedoch, wenn er nicht auf dem Vordertheile der Jangada umherspazierte, in seiner Cabine.

Das Frühstück und das Mittagsessen nahm er zwar mit Joam Garral und dessen Angehörigen ein, betheiligte sich aber kaum an der Unterhaltung und zog sich nach aufgehobener Tafel sofort zurück.

Im Laufe des Vormittages glitt die Jangada an der romantischen Inselgruppe vorüber, welche der weiten Mündung des Javary eingelagert ist. Dieser wichtige Nebenfluß des Amazonenstromes wird in seinem ganzen Laufe von der Quelle bis zur Ausmündung weder von einer Insel noch von Stromschnellen[131] unterbrochen. Die Breite der Mündung beträgt gegen dreitausend Fuß, und letztere befindet sich einige Meilen oberhalb der Stelle, wo ehedem die gleichnamige Stadt lag, um deren Besitz sich Spanier und Portugiesen sehr lange Zeit stritten.

Bis zum Morgen des 30. Juni fiel auf der Fahrt nichts Bemerkenswerthes vor. Zuweilen begegnete man einigen, hinter einander verbundenen Booten, nahe dem Ufer hinziehend, zu deren Führung ein einziger Eingeborner genügt hätte. »Navigar de bubina«, so bezeichnen die Landesbewohner diese Art des Wassertransports, was etwa mit »Vertrauensfahrt« zu verdeutschen wäre.

Bald kam man ferner an der Insel Araria, dem Archipel der Calderon-Inseln, der Insel Capiatu und vielen anderen vorüber, deren Namen zur Kenntniß der Geographen noch nicht gekommen sind. Am 30. Juni meldete der Steuermann am rechten Ufer das Dörfchen Jurupari-Tapera, wo zwei bis drei Stunden lang gehalten werden sollte.

Mauoel und Benito begaben sich in die Nachbar schaft zur Jagd und brachten als Beute etwas Federwild mit, das in der Speisekammer sehr willkommen war. Gleichzeitig hatten die beiden jungen Leute ein Thier gefangen, auf das jeder Naturforscher freilich mehr Werth gelegt hätte als die Köchin der Jangada.

Es war ein dunkelhaariger Vierfüßler, der etwa einem großen Neufundländer ähnelte.

»Ein Ameisenfuchs! rief Benito, als er das Thier auf das Deck des Floßes warf.

– Und ein prächtiges Exemplar, setzte Manoel hinzu, das keinem Museum zur Schande gereichen würde.

– Ist es Euch leicht geworden, dieses merkwürdige Thier zu erlangen? fragte Minha.

– O nein, Schwesterchen, antwortete Benito, und Du warst auch nicht zur Hand, ihm Gnade auszuwirken. Sie haben ein sehr zähes Leben, diese Hunde da, und es bedurfte nicht weniger als drei Kugeln, um dem Burschen hier den Garaus zu machen!«

Der Ameisenfuchs mit seinem langen buschigen Schweife, dem einzelne graue Haare beigemischt sind, sah wirklich prächtig aus; die lange spitze Schnauze zwängt er in Ameisenbauten hinein, deren Bewohner seine Hauptnahrung bilden; er hat ziemlich lange, dünne Pfoten mit fünf Zoll langen, spitzigen Krallen,[132] die er gleich den Fingern einer Hand schließen kann. Und was für eine Hand besitzt dieser Ameisenfuchs! Was diese gepackt hat, kann man nur daraus befreien, wenn man sie gleich abschneidet. Der Reisende Emile Carrey bemerkt ganz richtig, daß »selbst ein Tiger unter der Umarmung dieser Krallenhand umkommen würde«.

Am 2. Juli des Morgens langte die Jangada bei San Pablo d'Olivenza an, nachdem sie an zahlreichen, zu jeder Jahreszeit mit üppigem Grün bedeckten und von herrlichen Bäumen beschatteten Inseln vorübergekommen war, als deren bedeutendste etwa Jurupari, Rita, Maracanatena und Cururu-Sapo zu nennen wären. Wiederholt passirte sie auch die Mündungen verschiedener Iguarapes oder Nebenflüsse mit sehr dunklem Wasser.

Diese Färbung ist eine sehr merkwürdige Erscheinung und findet sich bei verschiedenen großen und kleinen Zuflüssen des Amazonenstromes.

Manoel machte auf die tiefe Färbung dieser Fluthen aufmerksam, welche man sich sehr deutlich von den weißeren Wellen des Hauptstromes abheben sieht.

»Man hat sich vielfach bemüht, sagte er, diese Färbung auf die eine oder andere Weise zu erklären, doch scheint mir, daß es noch keinem Gelehrten gelungen ist, eine befriedigende Lösung des Räthsels zu finden.

– Diese Gewässer sind wirklich fast schwarz mit prächtigen goldenen Reflexen, bemerkte das junge Mädchen, auf die leichten Wellen zeigend, welche sich an der Jangada brachen.

– Ja wohl, bekräftigte Manoel, schon Humboldt hat seinerzeit dasselbe beobachtet. Sieht man jedoch genauer hin, so findet man, daß die Farbe der Sepia am meisten hervortritt.

– Schön, rief Benito, also wieder eine Erscheinung, über welche die Gelehrten nicht einig sind!

– Vielleicht könnte man darüber von den Kaimans Aufschluß erlangen, warf Fragoso ein, oder von den Delphinen und Lamantins (Seekühen), denn das Gesindel hält sich mit Vorliebe in dem schwärzlichen Wasser auf.

– Es ist ganz richtig, antwortete Manoel, daß dieses jene Thiere besonders anlockt, um eine Erklärung dieser Thatsache würde man aber wieder in Verlegenheit sein. Ob die Färbung von einem reichen Gehalte an Kohlenwasserstoff oder davon herrührt, daß das Wasser über Torf- und Moorboden, oder über Steinkohlen- und Anthracitschichten hinfließt, oder ob sie endlich der ungeheueren Menge kleinster pflanzlicher Organismen, welche im Wasser schweben,[133] zuzuschreiben ist, darüber weiß Niemand etwas Bestimmtes.1 Jedenfalls liefern jene Zuflüsse ein ausgezeichnetes Trinkwasser von angenehmer, im Tropenklima desto höher geschätzter Frische, ohne jeden Nachgeschmack und sicher ohne Nachtheil für die Gesundheit. Wir wollen ein wenig von diesem Wasser schöpfen, liebe Minha, koste es einmal, Du kannst es ohne Bedenken versuchen.«

Das Wasser war wirklich klar und erquickend frisch. Es hätte in Europa füglich an jeder Tafel gereicht werden können. Man füllte auch hier damit einige Fässer zum Gebrauche in der Küche.

Die Jangada erreichte also, wie oben erwähnt, frühzeitig am 2. Juli San Pablo d'Olivenza, wo eine Art langer, aus den Schalen des »Coco de piassaba« hergestellter Rosenkränze in großen Massen fabricirt werden, die hier einen geschätzten und gesuchten Handelsartikel bilden. Vielleicht wundert sich Jemand darüber, daß die alten Beherrscher des Landes, die Tubinambas und Tupiniquis darauf gekommen sind, als Hauptbeschäftigung die Herstellung solcher Gebrauchsgegenstände des katholischen Cultus zu betreiben. Man darf hierzu jedoch nicht vergessen, daß die heutigen Indianer nicht mehr die Ebenbilder ihrer Vorfahren sind; statt des früheren Nationalcostüms mit dem Stirnbande aus Arasfedern und der gewöhnlichen, aus Bogen und Blasrohr bestehenden Ausrüstung haben sie z. B. auch amerikanische Bekleidung angenommen und gehen jetzt in weißen Beinkleidern und dem landesüblichen Puncho aus Baumwolle einher, den ihre Weiber, welche darin hervorragende Geschicklichkeit erlangt haben, selbst zu weben pflegen.

San Pablo d'Olivenza, eine verhältnißmäßig nicht unbedeutende Stadt, zählt zweitausend, aus allen Stämmen der näheren und entfernteren Umgebung zusammengewürfelte Einwohner. Jetzt die Hauptstadt des oberen Amazonenstromes, bildete sie früher nur eine einfache, von portugiesischen Carmelitern gegründete, später von jesuitischen Missionären verwaltete Station.

Das Land hierselbst gehörte anfangs den Omaguas, ein Name, der so viel wie »Plattköpfe« bedeutet. Diesen Namen verdankten sie der barbarischen Gewohnheit der Mütter, den Kopf der Neugebornen zwischen zwei Brettern zu pressen, um ihrem Schädel die früher sehr beliebte längliche Form zu geben. Wie jede andere Mode, wechselt auch diese; die Köpfe behielten wieder ihre natürliche Gestalt, und an dem Schädel der hiesigen Rosenkranz-Fabrikanten[134]

würde man vergeblich eine Spur der früheren künstlichen Mißbildung aufzufinden suchen.

Mit Ausnahme Joam Garral's ging dessen ganze Familie an's Land. Auch Torres zog es vor, an Bord zu bleiben, gab wenigstens kein Verlangen nach einem Besuche des ihm scheinbar noch unbekannten San Pablo d'Olivenza zu erkennen.

Wenn den Abenteurer eine auffallende Schweigsamkeit auszeichnete, so war er wenigstens auch nicht neugierig.

Benito wickelte bald die nöthigen Geschäfte ab und führte der Jangada weitere Frachtgüter zu. Seine Angehörigen und er selbst fanden bei den ersten Beamten der Stadt, dem Platzcommandanten und dem Vorstande des Zollamtes, eine sehr zuvorkommende Aufnahme. Ihre amtliche Stellung verhinderte die beiden Herren übrigens keineswegs an der Betreibung ergiebiger Handelsgeschäfte. Sie übergaben dem jungen Kaufmanne sogar auf Treu und Glauben verschiedene Landeserzeugnisse, um diese für ihre Rechnung in Manao oder Belem zu veräußern.

Die Stadt selbst bestand aus etwa sechzig Häusern auf einer Ebene über dem abhängigen Stromufer. Einige derselben waren mit Ziegeln abgedeckt, was in diesen Gegenden eine Seltenheit ist. Dagegen schützte die kleine, den Heiligen Peter und Paul geweihte Kirche nur ein dürftiges Strohdach, das besser auf den Stall zu Bethlehem gepaßt hätte als auf ein kirchlichen Zwecken dienendes Gebäude in streng katholischem Lande.

Der Platzcommandant, sein Stellvertreter und der Polizeichef nahmen eine Einladung, mit der reisenden Familie an Bord zu speisen, an und wurden von Joam Garral mit aller ihrem Range schuldigen Aufmerksamkeit empfangen.

Nach der Tafel wurde Torres auch etwas redseliger als gewöhnlich; er erzählte von einigen seiner Ausflüge in das Innere Brasiliens in beredter Weise, die seine genaue Bekanntschaft mit dem Lande verrieth.


»Du kannst es ohne Bedenken versuchen.« (S. 134.)
»Du kannst es ohne Bedenken versuchen.« (S. 134.)

Mitten unter diesen Schilderungen unterließ es Torres aber nicht, den Commandanten zu fragen, ob er Manao selbst kenne, ob sein College sich jetzt dort befinde, ob der Amtsrichter, der oberste Beamte der Provinz, nicht die Gewohnheit habe, während der heißen Jahreszeit von da wegzugehen. Es schien als ob Torres, als er diese Fragen stellte, immer Joam Garral dabei mit einem Auge beobachtete. Das geschah übrigens auffallend genug, um auch von Benito bemerkt zu werden, dem es überdies vorkam, als lausche sein Vater[135] besonders aufmerksam auf diese etwas gar zu seltsamen Fragen des neuesten Passagiers.

Der Commandant von San Pablo d'Olivenza versicherte dem Abenteurer, daß die Behörden, respective deren Vorstände zu jener Zeit nicht von Manao abwesend seien, und beauftragte sogar Joam Garral, die betreffenden Herren von ihm zu grüßen. Aller Wahrscheinlichkeit nach langte die Jangada binnen höchstens sieben Wochen oder spätestens zwischen dem 20. und 25. August bei jener Stadt an.[136]

Gegen Abend nahmen die Gäste des Fazenders von der Familie Garral Abschied, und am nächsten Morgen, den 3. Juli, setzte die Jangada ihre Fahrt den Strom hinunter wieder fort.

Gegen Mittag ließ man zur Linken die Mündung des Yacurupa liegen. Dieser Nebenfluß ist eigentlich nichts weiter als ein Kanal, denn er ergießt seinen Inhalt in den Iça, der selbst einen linksseitigen Zufluß des Amazonenstromes bildet. Es gehört auch zu den eigenthümlichen Erscheinungen, daß der Strom an manchen Stellen und zu gewissen Zeiten seine eigenen Nebenarme speist.


Leicht wurde eine reichliche Beute eingeheimst. (S. 141.)
Leicht wurde eine reichliche Beute eingeheimst. (S. 141.)

[137] Gegen drei Uhr Nachmittags kam die Jangada an der Mündung des Jandiatuba vorüber, der seine gewaltigen dunklen Wassermassen von Südwesten her dem Hauptstrome durch eine vierhundert Meter breite Pforte zuwälzt, nachdem er vorher die Gebiete der Culinos-Indianer bewässert hat.

Daneben passirte man zahlreiche Inseln, wie Pimaticaira, Caturia, Chico, Motachina u. a. m., die einen bevölkert, die anderen öde, aber alle bedeckt mit herrlicher Vegetation, die vom Ursprunge des Amazonenstromes bis zu dem riesigen Delta, durch das er sich mit dem Atlantischen Ocean vermählt, eine lückenlose Guirlande bildet.

Fußnoten

1 Zahlreiche Beobachtungen neuerer Reisender weichen in diesem Punkte von Humboldt's Ansichten wesentlich ab.


Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 138.
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