Sechzehntes Capitel.
Ega.

[147] Am 26. Juli schon gegen sechs Uhr Morgens machten sich Yaquita, Minha, Lina und die beiden jungen Männer fertig, die Jangada zu verlassen.

Auch Joam Garral, der vorher nicht hatte an's Land gehen wollen, gab den Bitten seiner Gattin und seiner Tochter nach, sich einmal von seiner tagtäglichen Arbeit loszureißen und sie bei diesem Ausfluge zu begleiten.[147]

Torres schien kein besonderes Interesse daran zu haben, nach Ega zu gehen – zu großer Befriedigung Manoels, der mehr und mehr Abneigung gegen den Fremdling empfand und nur auf die Gelegenheit wartete, ihm diese zu erkennen zu geben.

Auch Fragoso bestimmten nicht die nämlichen Gründe, Ega zu besuchen, wie früher Tabatinga, denn letzteres ist nur ein unbedeutender Flecken im Vergleich zu dieser immerhin kleinen Stadt.

Ega mit seinen fünfzehnhundert Einwohnern steht nämlich in dem Range etwa einer Provinz-Hauptstadt, wo alle Behörden einer solchen ihren ständigen Sitz haben; so befand sich hier z. B. ein Militär-Commando, ein Polizeichef, Friedens- und Criminalrichter, nebst den Lehrern einer Art Volksschule und eine Milizgarnison mit den nothwendigen Officieren.

Wo aber so viele Beamte und Angestellte mit ihren Frauen und Kindern wohnen, darf man wohl voraussetzen, daß es auch an einem Haarkräusler und Barbier nicht fehlen werde. Das war auch wirklich der Fall, und für Fragoso also keine Aussicht auf ein lucratives Geschäft.

Der gute Junge beabsichtigte jedoch, obwohl er in Ega nichts zu schaffen hatte, an dem Ausfluge schon deshalb theilzunehmen, weil Lina ihre Herrin begleitete; er verzichtete aber, schon im Begriffe die Jangada zu verlassen, im letzten Augenblicke noch darauf, weil Lina selbst ihn darum ersuchte.

»Herr Fragoso! begann sie, ihn beiseite führend.

– Was befehlen Sie, Fräulein Lina? antwortete er.

– Mir scheint, Ihr Freund Torres will davon absehen, uns nach Ega zu begleiten.

– Ja wohl, er wird an Bord bleiben, Fräulein Lina; Sie würden mich aber verpflichten, wenn Sie jenen nicht ferner als meinen Freund bezeichneten.

– Gerade Sie aber haben ihm zugeredet, sich um einen Platz auf dem Floße zu bewerben, bevor er selbst daran dachte.

– Ja, damals freilich; doch fürchte ich, um ganz offenherzig zu sein, damit eine große Dummheit begangen zu haben.

– Und wenn ich Ihnen ebenso offen antworten soll, muß ich gestehen, daß mir der Mann ganz und gar nicht gefällt, Herr Fragoso!

– Mir gewiß auch nicht, Fräulein Lina; es kommt mir übrigens stets so vor, als hätte ich ihn schon irgendwo einmal gesehen. Ich erinnere mich dessen[148] zwar nur sehr unbestimmt, das Eine aber weiß ich, daß der Eindruck von seiner Persönlichkeit alles Andere, denn ein guter war.

– Aber wo und wann könnten Sie Torres begegnet sein? Ist Ihnen das ganz und gar entfallen? Es könnte vielleicht von Nutzen sein zu wissen, was er ist, und vorzüglich, was er gewesen ist.

– Nein... soviel ich suche... wie lange Zeit darüber hingegangen ist, in welcher Gegend es war?... Alles ist meinem Gedächtniß entschwunden.

– Herr Fragoso!

– Fräulein Lina wünschen?

– Sie sollten an Bord bleiben, um Torres während unserer Abwesenheit zu überwachen.

– Wie? rief Fragoso, ich soll Sie nicht nach Ega begleiten und den ganzen Tag lang darauf verzichten, Sie zu sehen?

– Ich ersuche Sie darum.

– Ist das ein Befehl?...

– Nein, aber eine Bitte.

– Ich bleibe hier.

– Herr Fragoso!

– Fräulein Lina!

– Ich sage Ihnen meinen Dank.

– O, danken Sie mir lieber mit einem herzlichen Händedruck, antwortete, Fragoso, das ist mein Opfer wohl werth!«

Lina reichte dem wackeren Burschen die Hand hin, welche dieser einige Augenblicke in der seinen hielt und ihr dabei in das hübsche Gesichtchen blickte. So kam es also, daß Fragoso in der Pirogue nicht mit Platz nahm und, ohne sich das merken zu lassen, Torres aufmerksam im Auge behielt. Ob sich dieser des Widerwillens, den er bei allen Anderen erweckte, bewußt war, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen; jedenfalls aber hatte er seine Gründe, sich das nicht besonders zu Herzen zu nehmen.

Von dem Ankerplatze bis zur Stadt Ega betrug die Entfernung vier Meilen. Acht Meilen, hin und zurück gerechnet, in einer Pirogue mit sechs Personen, und außer diesen mit noch zwei Negern als Ruderer, zurückzulegen, das war eine Fahrt, welche zweifelsohne mehrere Stunden in Anspruch nahm, von der Anstrengung bei der hohen Temperatur zu schweigen, welche jetzt herrschte, wenn den Himmel auch ein leichter Wolkenschleier bedeckte.[149]

Zum Glück wehte eine günstige Brise aus Nordwesten, mit deren Hilfe man, wenn sie anhielt, über den Teffe-See segeln und nach Ega und zurück ziemlich schnell, ohne laviren zu müssen, gelangen konnte.

Am Mast der Pirogue wurde also ein lateinisches Segel gehißt. Benito ergriff die Schoote desselben und das Boot stieß ab, nachdem Lina durch eine bezeichnende Handbewegung Fragoso nochmals an's Herz gelegt hatte, auf der Hut zu sein.

Um nach Ega zu kommen, hatte man dem südlichen Ufer des Sees zu folgen. Zwei Stunden später lief die Pirogue in den Hafen der alten, früher von Carmelitern gegründeten Mission ein, welche 1759 zur Stadt erhoben und von General Gama endgiltig dem Scepter Brasiliens unterworfen wurde.

Die Passagiere gingen an einem sanft abfallenden Ufer an's Land, an welchem neben einander nicht nur die Kähne und Boote der Einwohner, sondern auch einige jener kleinen Goëletten lagen, die an den Küsten des Atlantischen Oceans zu Handelszwecken dienen.

Den beiden jungen Mädchen entlockte schon der erste Schritt nach Ega hinein manchen Ruf der Ueberraschung.

»Ah, diese große Stadt! jubelte Minha.

– Die vielen Häuser – die vielen Menschen! setzte Lina hinzu, deren Augen sich zu erweitern schienen, um besser zu sehen.

– Ei, das will ich meinen, bemerkte Benito lachend, mehr als fünfzehnhundert Menschen und vielleicht ganze zweihundert Häuser, einzelne gar mit einem Stockwerke übersetzt, dazu zwei oder drei Straßen, leibhaftige Straßen, welche die Häusermasse durchschneiden!

– Lieber Manoel, sagte da Minha, bitte, nimm uns gegen meinen Bruder in Schutz! Er macht sich lustig, weil er schon die schönsten Städte der Provinzen des Amazonenstromes und Paras gesehen hat.

– Dann müßte er sich auch über seine eigene Mutter lustig machen, erklärte Yaquita, denn ich gestehe auch, etwas Aehnliches noch niemals gesehen zu haben.

– Nun, nehmt Euch nur in Acht, liebe Mutter und Schwester, denn Ihr werdet in Extase gerathen, wenn wir nach Manao kommen, und vor lauter Verwunderung kein Wort mehr finden können, wenn wir erst in Belem eintreffen.

– O, darüber mache Dir keine Sorgen, entgegnete Manoel lächelnd. Die Damen werden sich durch den Anblick der Städte am oberen Amazonenstrome schon an große Ueberraschungen gewöhnt haben.[150]

– Wie, Manoel, fragte Minha, Du spielst mit meinem Herrn Bruder eine Geige? Du moquirst Dich ebenfalls...

– Nein, beste Minha, ich schwöre Dir...

– Lassen wir den Herren ihr Vergnügen, fiel Lina ein, wir wollen dafür desto mehr sehen, denn hier giebt's Schönes in Hülle und Fülle!«

Schönes? Ein Haufen meist aus Lehm errichteter und höchstens mit Kalt geweißter Häuser, gewöhnlich mit Stroh oder Palmenblättern abgedeckt; einzelne freilich aus Stein oder Holz erbaut, mit Verandas, grün angestrichenen Thüren und Fensterläden, und inmitten eines Gärtchens voll blühender Orangen. Daneben fanden sich auch zwei oder drei öffentliche Gebäude, eine Kaserne und eine, der heiligen Theresa gewidmete Kirche, welche gegenüber der bescheidenen Kapelle von Iquitos freilich ganz gut eine Kathedrale vorstellen konnte.

In der Richtung nach dem See zu bot sich dem Blicke ein reizendes, mit einem Rahmen von Cocosbäumen und Assaïs umschlossenes Panorama, das bis zum Wasser hinabreichte, und drei Meilen, auf der anderen Seite des Sees, lugten die Häuser des pittoresken Dorfes Nogueira aus Olivenhainen am Strande hervor.

Die beiden jungen Mädchen entdeckten aber auch noch andere Gegenstände ihrer Bewunderung, ihres echt weiblichen Interesses, das war die modische Kleidung der eleganten Damen Egas, nicht jener höchst primitive und doch schreiende Staat der Urbewohner vom schwachen Geschlechte, der bekehrten Omaa- und Mura-Weiber, sondern das Kostüm der wirklichen Brasilianerinnen! Die Frauen und Töchter der Beamten und der reichen Handelsherren der Stadt brüsteten sich in der That mit freilich etwas veralteten Pariser Toiletten, hier, fünfhundert Meilen hinter Para, das wiederum selbst einige Tausend Meilen von der Favorit-Residenz des Modeteufels entfernt liegt.


Auf dieser Insel zeigte sich ein Trupp Mura-Indianer. (S. 155.)
Auf dieser Insel zeigte sich ein Trupp Mura-Indianer. (S. 155.)

»Aber sehen Sie doch – sehen Sie nur da die schönen Damen in ihren reizenden Kleidern! raunte Lina ihrer Herrin zu.

– Lina wird noch rein toll! meinte Benito.

– Wenn jene Toiletten getragen würden, wie es sich gehört, antwortete Minha dem Mädchen, möchten sie so lächerlich nicht aussehen.

– Glaube mir, liebe Minha, wandte sich Manoel zu dieser, Du gehst in Deinem einfachen Baumwollenkleide und dem schützenden Strohhute geschmackvoller als alle jene Brasilianerinnen mit ihren aufgebauschten Hüten und mit[151] Volants überladenen Roben, die für unsere Gegend und Verhältnisse einmal nicht passen.

– Wenn ich nur Dir so gefalle, antwortete das junge Mädchen, beneide ich keine Andere um den Flitter.«

Doch, es galt ja im Grunde, die Stadt in Augenschein zu nehmen. Die Gesellschaft lustwandelte also durch die Straßen, welche mehr Krambuden als eigentliche Läden enthielten, besuchte einen öffentlichen Platz, das Stelldichein der vornehmen Welt, wo die Damen ihre europäischen Toiletten zu Schau[152] trugen, und speiste gar in einem Hotel eigentlich mehr in einer Herberge wo Jedermann die ausgezeichnete Tafel der Jangada schmerzlich vermißte.

Nach dem einzig und allein aus verschieden zubereitetem Schildkrötenfleisch bestehenden Diner bewunderte die Familie Garral noch einmal die schönen Gestade des Sees, welche die niedergehende Sonne mit ihren glänzenden Strahlen vergoldete.


Die Jangada legte am Ufer an, um die Nacht über zu halten. (S. 157.)
Die Jangada legte am Ufer an, um die Nacht über zu halten. (S. 157.)

Dann begaben sich Alle nach der Pirogue, vielleicht etwas enttäuscht über die Herrlichkeiten einer Stadt, zu deren Besuche eine Stunde schon bequem hinreichte, auch etwas ermüdet durch dies Gehen in den erhitzten Straßen,[153] welche mit den schattigen Wegen von Iquitos keinen Vergleich aushielten. Keinen gab es, bis auf die leichtempfängliche Lina, dessen Enthusiasmus jetzt nicht merklich abgekühlt war.

Jeder nahm seinen Platz in der Pirogue wieder ein. Der Wind kam noch aus Nordwesten und hatte gegen Abend etwas aufgefrischt. Das Segel wurde gehißt und das Fahrzeug glitt denselben Weg wie am Morgen wieder über den, von dem dunklen Gewässer des Rio Teffe gespeisten See, ein Rio, der nach Aussage der Indianer vierzig Tagereisen weit stromaufwärts schiffbar sein soll. Gegen acht Uhr erreichte die Pirogue den Ankerplatz wieder und legte neben der Jangada an.

Sobald es ihr möglich wurde, nahm Lina Fragoso zur Seite.

»Nun, haben Sie etwas Verdächtiges bemerkt, Herr Fragoso? fragte sie.

– Nichts, Fräulein Lina, antwortete Fragoso. Torres hat kaum seine Cabine verlassen, sondern unausgesetzt gelesen und geschrieben.

– Er wäre nicht in das Haus, nicht in den Speisesaal eingetreten, wie ich befürchtete?

– Gewiß nicht. So lange er sich außerhalb seiner Cabine aufhielt, spazierte er auf dem Vordertheile der Jangada einher.

– Und was trieb er dabei?

– Er hielt ein altes Stück Papier in der Hand, das er aufmerksam zu betrachten schien, und murmelte bisweilen einzelne unverständliche Worte.

– Das erscheint mir Alles nicht so unschuldiger Natur zu sein, wie Sie offenbar glauben, Herr Fragoso. Sein Lesen und Schreiben, jenes alte Papier werden schon ihre besondere Bedeutung haben. Ein Professor der Wissenschaften oder ein Mann des Gesetzes ist er doch gewiß nicht. Meinen Sie nicht auch, Herr Fragoso?

– Sie können wohl Recht haben.

– Also halten wir die Augen auf, Herr Fragoso.

– Ja, seien wir auf der Hut, Fräulein Lina.«

Mit Tagesanbruch am 27. Juli gab Benito dem Piloten das Signal zum Aufbruche.

Durch den schmalen Sund zwischen den Inseln, die an der Bucht von Arenapo liegen, wurde für einen Augenblick die sechstausendsechshundert Fuß breite Mündung des Yapura sichtbar. Dieser große Nebenfluß ergießt sich durch acht Oeffnungen in den Amazonenstrom, als verlöre er sich in einem Meere[154] oder großen Golf. Sein Wasser kommt von weit her, denn es entquillt den Gebirgen der Republik Ecuador und sammelt sich in einem Bette, das erst zweihundert Meilen vor seiner Vereinigung mit dem Riesenstrome durch Wasserfälle unterbrochen wird.

Den ganzen Tag beanspruchte die Fahrt zur Insel Yapura, hinter welcher der nun freier werdende Strom die weitere Reise erleichtern mußte. Die Strömung des Wassers war übrigens nur eine mäßige, so daß man einzelne Holme und Eilande ohne Schwierigkeit vermeiden konnte und das Floß nie einen Stoß erlitt oder den Grund streifte.

Am folgenden Tage glitt die Jangada zwischen ausgedehnten, von hohen, ziemlich steilen Dünen gebildeten Uferstrecken hin, die als Deiche für ungeheuere Weideplätze dienen, auf welchen man die Heerden ganz Europas unterbringen und ernähren könnte. Diese Uferstrecken sollen im Becken des oberen Amazonenstromes am reichsten an Schildkröten sein.

Am 29. Juli des Abends legte man das Floß sorgfältig bei der Insel Catua fest, um hier die Nacht, welche sehr finster und unheimlich zu werden drohte, zu verbringen.

Auf dieser Insel zeigte sich, so lange die Sonne über dem Horizonte stand, ein Trupp Mura-Indianer, Reste eines alten, mächtigen Stammes, der zwischen dem Teffe und dem Madeira früher eine Uferstrecke von über hundert Meilen Ausdehnung bevölkerte.

Hin- und hergehend betrachteten die Eingebornen den schwimmenden, jetzt still liegenden Holzzug. Es mochten gegen hundert bewaffnete Männer sein, mit Sarbacanen (das ist eine Art Blasrohr) aus dieser Gegend eigenthümlichem Schilf, das äußerlich durch den vom Marke befreiten Stengel einer Zwergpalme verstärkt wird.

Joam Garral verließ für einen Augenblick die Arbeit, welche sonst seine ganze Zeit in Anspruch nahm, und empfahl Allen, wohl aufzupassen, aber die Eingebornen auf keine Weise zu reizen. Die Partie stand hier in der That nicht gleich. Die Muras besitzen eine bewundernswerthe Geschicklichkeit, kleine, aber fast unheilbar verwundende Pfeile mittelst ihrer Sarbacanen bis auf eine Entfernung von dreihundert Schritt zu entsenden.

Die Gefährlichkeit dieser, aus den Blättern der Coucourite-Palmen hergestellten, mit Baumwolle befiederten, neun bis zehn Zoll langen und gleich[155] einer Nähnadel spitzigen Pfeile rührt daher, daß dieselben mit »Curare« vergiftet sind.

Das Curare oder »Wourah«, die Flüssigkeit, welche, »alles Gemeine tödtet«, wie die Indianer sagen, wird aus dem Safte einer Euphorbiacee und einer knolligen Strychnosart hergestellt, doch verwenden die Eingebornen dazu auch noch einen Teig einer giftigen Ameisenart und die Giftdrüsen mancher Schlangen.

»Es ist wirklich ein entsetzliches Gift, sagte Manoel, denn es wirkt direct auf das Nervensystem und lähmt sofort diejenigen Nerven, welche der willkürlichen Bewegung vorstehen, während das Herz nicht afficirt wird und ungestört weiter schlägt, bis das Leben überhaupt erlischt. Leider kennt man gegen diese Vergiftung, welche sich zuerst durch Lähmung der Glieder kundgiebt, kein wirksames Gegenmittel.«

Die Muras schritten, trotz ihres ausgesprochenen tödtlichen Hasses gegen alle Weißen, glücklicher Weise nicht zu Feindseligkeiten. Sie besitzen heute auch offenbar nicht mehr den Muth ihrer berüchtigten Vorfahren.

Mit sinkender Nacht erklangen hinter den Bäumen der Insel einige Melodien in Moll von einer fünflöcherigen Flöte. Eine andere antwortete der ersten. Dieser Austausch kleiner Musikstücke währte nur wenige Minuten, dann verschwanden die Muras.

In einer Anwandlung fröhlicher Laune wollte ihnen Fragoso schon durch ein Liedchen antworten; aber Lina beeilte sich, ihm noch rechtzeitig den Mund zu schließen und ihn daran zu hindern, sein bescheidenes Sängertalent, mit dem er überhaupt ziemlich freigebig war, auch bei dieser unpassenden Gelegenheit an den Mann zu bringen.

Am 2. August Nachmittags drei Uhr langte die Jangada zwanzig Meilen weiter bei dem Eingange zum Apoara-See an, der den Fluß gleichen Namens mit seinem düsteren Wasser speist; und zwei Tage später hielt sie gegen fünf Uhr an der Einfahrt nach dem Coary-See an.

Es ist das einer der größten unter den vielen, mit dem Amazonenstrome in Verbindung stehenden Landseen und er dient als Sammelbecken für verschiedene Rios. Er nimmt fünf oder sechs Zuflüsse auf, welche sich darin vermischen und durch einen engen »Furo« nach der Hauptader abströmen.

Nachdem noch der Flecken Tahua-Miri in Sicht gekommen, der, um vor Hochwasser geschützt zu bleiben, auf Pfeilern wie auf Stelzen erbaut ist, was[156] bei dem niedrigen Strande gewiß als nothwendige Maßregel anzuerkennen ist, legte die Jangada am Ufer an, um die Nacht über zu halten.

Man befand sich jetzt gegenüber dem Dorfe Coary, mit einem Dutzend ziemlich verfallener, unter dichten Orangen- und Flaschenkürbisbäumen verstreuter Häuser. Es mag kaum einen wechselvolleren Anblick geben als den dieses Weilers, je nachdem der benachbarte See bei hohem und anderentheils bei niedrigem Wasserstande eine große spiegelglänzende Fläche oder nur einen schmalen Kanal bildet, der nicht einmal Tiefe genug hat, um den Verkehr mit dem Amazonenstrome zu ermöglichen.

Am folgenden Tage, dem 5. August, früh Morgens wurde die Reise wieder fortgesetzt. Man passirte da den Kanal von Yucura, ein Glied des so verwickelten Systems der Seen und Furos des Rio Yapura, und am 6. des Morgens langte man bei dem Eingange zum Miana-See an.

An Bord war nichts Besonderes vorgefallen, und das Leben daselbst verlief mit fast methodischer Regelmäßigkeit.

Fragoso, den Lina immer in Athem hielt, ließ Torres niemals aus den Augen. Mehrmals versuchte er auch, jenem Mittheilungen über seine Vergangenheit zu entlocken; der Abenteurer vermied es aber sorgfältig, auf dieses Thema einzugehen, und zog sich endlich mehr denn vorher von dem Barbier zurück.

Seine Beziehungen zu der Familie Garral blieben immer dieselben. Mit Joam selbst sprach er nur wenig, sondern richtete seine Worte lieber an Yaquita und deren Tochter, scheinbar ohne der letzteren frostiges Benehmen gegen ihn zu bemerken. Beide trösteten sich übrigens mit der Aussicht, daß Torres nach Ankunft der Jangada in Manao diese verlassen und man dann nichts weiter von ihm hören werde. Deshalb befolgte auch Yaquita den Rath des Padre Passanha, der sie ermahnte, sich in Geduld zu fassen; mehr Mühe hatte der gute Padre freilich mit Manoel, der große Neigung verrieth, jenen so unglücklicher Weise auf der Jangada mit eingeschifften Eindringling in die gebührenden Schranken zurück zu weisen.

Der einzige erwähnenswerthe Vorfall im Laufe dieses Abends war folgender:

Auf dem Strome trieb eine Pirogue hinab, welche, von Joam Garral angerufen, an die Jangada herankam.

»Du gehst nach Manao? fragte der Fazender den Indianer, welcher das Fahrzeug führte.[157]

– Ja, antwortete der Indianer.

– Und wirst dort eintreffen?...

– Binnen acht Tagen.

– Dann kommst Du weit eher als wir daselbst an. Würdest Du es übernehmen, einen Brief an seine Adresse zu besorgen?

– Recht gern.

– So nimm dieses Schreiben, guter Freund, und bring' es nach Manao!«

Der Indianer nahm den Brief, den ihm Joam Garral hinabhielt, entgegen und eine Handvoll Reis als Belohnung für die zugesicherte Besorgung.

Von den Mitgliedern der Familie, welche sich eben alle in den Wohnräumen befanden, hatte Niemand etwas hiervon bemerkt. Nur Torres war Zeuge des scheinbar bedeutungslosen Zwischenfalles. Er erhaschte sogar einige Worte von der kurzen Verhandlung zwischen Joam Garral und dem Indianer, und sein plötzlich dunkler gefärbtes Gesicht verrieth, daß die Vorwegsendung jenes Briefes ihm mancherlei zu denken gab.

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 147-158.
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