Erstes Capitel.
Auf den Cooks-Inseln.

[209] Seit sechs Monaten bewegt sich Standard-Island, nach der Abfahrt aus der Madeleinebay, von einem Archipel zum andern, ohne daß ein Unfall die[209] wunderbare Seereise störte. Zu jetziger Jahreszeit sind die Gewässer des Aequatorialgebiets fast immer ganz ruhig, da die regelmäßigen Passate zwischen den Wendekreisen herrschen. Doch selbst wenn einmal stärkere Böen auftreten oder ein wirklicher Sturm sich entfesselt, erleidet der feste Untergrund Milliard-Citys und empfindet man in dessen Häfen, im Park oder auf dem Felde davon keine merkbare Erschütterung. Die Böe braust vorüber, der Sturm legt sich. Kaum wird man derselben auf der Oberfläche der Propeller-Insel gewahr.

Unter diesen Verhältnissen wäre eher eine gewisse Monotonie des Lebens zu fürchten.

Unsre Pariser sind aber die ersten, die freudig anerkennen, daß das nicht zutrifft. Auf der ungeheuern Wasserfläche des Oceans folgt eine Oase der andern – auf die schon besuchten Gruppen der Sandwich-Inseln, der Marquisen, der Pomotou- und der Gesellschafts-Inseln die, die man noch anzulaufen gedenkt, ehe der Curs nach Norden wieder eingeschlagen werden soll, nämlich die Cooks-Inseln, Samoa, die Tonga- und Fidschi-Inseln, die Neuen Hebriden und vielleicht noch andre. Ueberall bietet sich da Gelegenheit, weniger bekannte und ethnographisch hochinteressante Länder zu durchstreifen.

Das Concert-Quartett findet, wenn es sich auch beklagen wollte, gar keine Zeit dazu. Von der übrigen Welt ist es ja gar nicht abgeschieden, da der Postverkehr mit beiden Welten ganz regelmäßig unterhalten wird. Nicht allein führen die Petroleumschiffe ihre Ladung für den Bedarf der Kraftanlagen fast genau am bestimmten Tage zu, sondern es vergehen auch kaum vierzehn Tage, wo die Steamer nicht in dem einen oder dem andern Hafen ihre Fracht von Waaren jeder Art löschten und auch neue Zeitungen u. dgl. brächten, um die geistigen Bedürfnisse der Einwohnerschaft zu befriedigen.

Das den Künstlern zugesicherte Honorar wird mit einer Pünktlichkeit entrichtet, die auf die unerschöpflichen Hilfsquellen der Compagnie einen Schluß ziehen läßt. Tausende von Dollars fallen ihnen in die Tasche, sammeln sich darin an, und jene werden reich, sehr reich sein, wenn dieses Engagement ohne Gleichen einmal abläuft. Noch nie befanden sich ausführende Künstler in so beneidenswerther Lage, und die unsrigen bedauern jetzt die »relativ mittelmäßigen« klingenden Erfolge ihrer Rundreisen durch die Vereinigten Staaten.

»Nun, fragte Frascolin eines Tages den Violoncellisten, bist Du endlich von Deinem Vorurtheil gegen Standard-Island zurückgekommen?

– Nein, erklärte Sebastian Zorn.[210]

– Und doch werden wir einen hübschen Sack voll Geld besitzen, wenn diese Fahrt zu Ende ist.

– Es kommt nicht darauf an, ihn zu besitzen, man muß auch sicher sein, ihn mit hinwegzunehmen!

– Und das erwartest Du nicht?

– Nein!«

Da war nichts mehr zu sagen. Und für genannten Sack war doch gar nichts zu fürchten, da der Ertrag jedes Vierteljahres in Gestalt von Tratten nach Amerika gesendet und in der Bank von New-York niedergelegt wurde. Am richtigsten erschien es also, den Starrkopf seinem sinnlosen Mißtrauen allein zu überlassen.

Die Zukunft scheint jetzt ja mehr als je gesichert. Die Rivalität zwischen beiden Inselgruppen zeigt eine Abnahme, worüber sich Cyrus Bikerstaff und seine Adjuncten beglückwünschten. Der Oberintendant übertrifft sich seit »dem großen Ereignisse auf dem Balle im Stadthause« fast selbst. Walter Tankerdon hat ja mit Miß Coverley getanzt! Darf man daraus schließen, daß die Spannung zwischen beiden Familien nachgelassen hat? Jedenfalls sprechen Tankerdon und seine Freunde nicht mehr davon, aus Standard-Island eine gewerbe- und handeltreibende Insel zu machen. In der hohen Gesellschaft spricht man viel von jenem Vorkommnisse auf dem Balle. Scharfblickende Leute erkennen darin eine Annäherung, ja mehr als diese, eine Vereinigung, die den privaten und öffentlichen Streitigkeiten ein Ende machen wird.

Und wenn das eintrifft, so glauben wir versichern zu können, daß ein junger Mann und ein junges Mädchen, die einander ganz würdig sind, ihren innigsten Wunsch werden in Erfüllung gehen sehen.

Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß Walter Tankerdon sich von den Reizen der Miß Coverley hat fesseln lassen. Das datiert schon von einem Jahr her. Unter den obwaltenden Verhältnissen hat er sich freilich niemand anvertraut. Miß Dy hat aber seine Gefühle errathen, hat ihn verstanden und fühlt sich von seiner Discretion höchst angenehm berührt. Vielleicht ist sie sich über das eigne Herz klar geworden, das dem des jungen Walter entgegen schlägt. Natürlich hat sie das aber verheimlicht. Sie bewahrt die strenge Zurückhaltung, die die weibliche Würde und die Entfremdung der beiden Familien ihr auferlegen.

Ein Beobachter hätte jedoch bemerken können, daß Walter und Miß Dy sich nicht an den Erörterungen betheiligen, die in dem Hôtel der Fünfzehnten[211] und in dem der Neunzehnten Avenue zuweilen vorkommen. Ueberläßt sich der unbeugsame Tankerdon manchmal scharfen Ausfällen gegen die Coverley's, so hängt sein Sohn den Kopf, schweigt und verschwindet. Wenn Nat Coverley über die Tankerdon's wettert, schlägt seine Tochter die Augen nieder, ihr hübsches Gesicht erbleicht und sie sacht, freilich ohne Erfolg, das Gespräch auf andre Gebiete abzulenken. Daß die Familienhäupter gar nichts »merken«, ist das allgemeine Schicksal der Väter, denen die Natur eine Binde um die Augen gelegt hat. Mrs. Coverley und Mrs. Tankerdon dagegen sind – wenigstens nach Calistus Munbar's Behauptung – freilich nicht so blind. Die Mütter haben ihre Augen nicht, um damit nichts zu sehen, und die Herzensangelegenheiten ihrer Kinder machen ihnen schwere Sorgen, da das einzige Heilmittel dafür ausgeschlossen erscheint. Sie fühlen recht gut, daß bei der Feindseligkeit der zwei Rivalen, bei ihrer in der Frage des Vortritts leicht verletzten Eigenliebe, an eine Versöhnung, eine Vereinigung kaum zu denken ist. Walter und Miß Dy lieben einander aber doch – ihren Müttern ist das schon längst kein Geheimniß mehr.

Wiederholt ist dem jungen Manne schon nahe gelegt worden, eine Wahl unter den heiratsfähigen jungen Damen der Backbordhälfte zu treffen, wo es recht hübsche, sein gebildete und auch seinen Vermögensverhältnissen entsprechende Evastöchter giebt, deren Familien eine solche Verbindung mit Freuden begrüßen würden.

Sein Vater und seine Mutter haben ihn, wenn auch letztere nicht drängend, dazu zu veranlassen gesucht. Walter hat es immer mit der Einwendung, keine Neigung zum Heiraten zu verspüren, abgeschlagen. Das paßt aber dem alten Kaufmann von Chicago nicht. Wer mehrere hundert Millionen besitzt, der soll und darf nicht Hagestolz werden. Findet sein Sohn keine ihm zusagende Partie auf Standard-Island, gut, so mag er reisen, mag er nach Amerika oder nach Europa gehen. Mit seinem Namen, seinem Vermögen und seiner äußern Erscheinung wird er nur die Qual der Wahl haben... und selbst wenn er sich um eine königliche oder kaiserliche Prinzessin bewürbe! So drückt sich Jem Tankerdon aus. Doch allemal, wenn sein Vater ihn auf diese Weise an die Mauer gedrückt hat, weigert sich Walter, diese zu übersteigen, um in der Fremde eine Gattin zu sachen. Seine Mutter hat ihm deshalb auch schon öfters gesagt:

»Mein liebes Kind, giebt es denn etwa hier ein Mädchen, die Dir besonders gefiele?

– Ja, liebe Mutter!« lautete dann seine Antwort.[212]

Da Mrs. Tankerdon aber nie so weit ging, ihn zu fragen, wer diese wäre, hat er es nicht für angezeigt gehalten, sie zu nennen.

Ganz ähnlich liegt es bei der Familie Coverley; denn daß der einstige Banquier von New-Orleans seine Tochter mit einem der jungen Herrn, die an den beliebten Empfangsabenden in seinem Hause verkehren, vermählt zu sehen wünscht, unterliegt gar keinem Zweifel. Paßt jener davon keiner, gut, so werden ihre Eltern sie ins Ausland mitnehmen... werden Frankreich, Italien, Deutschland besuchen... dann erklärt indeß Miß Dy stets, sie ziehe es vor, in Milliard-City zu bleiben... sie fühle sich auf Standard-Island besonders wohl... und wünsche es nie verlassen zu müssen. Mr. Coverley wird durch diese Antwort, deren wirkliches Motiv ihm entgeht, nicht wenig beunruhigt.

Mrs. Coverley hat ihrer Tochter übrigens keine so directe Frage gestellt, wie Mrs. Tankerdon ihrem Sohne, auch liegt die Annahme nahe, daß Miß Dy nicht mit der gleichen Freimüthigkeit – nicht einmal ihrer Mutter – zu antworten gewagt hätte.

So liegen zur Zeit die Dinge. Obwohl sie sich über die Natur ihrer Gefühle nicht mehr täuschen können, seitdem sie manchmal einen verständnißinnigen Blick gewechselt haben, ist zwischen den jungen Leuten darüber noch kein Wort gefallen. Sie treffen sich auch nur in den officiellen Salons, bei den Empfängen Cyrus Bikerstaff's oder bei irgendwelcher Feierlichkeit, von der sich die Milliardeser Notabeln ohne Gefährdung ihres gesellschaftlichen Ranges nicht ausschließen können. Bei solchen Gelegenheiten beobachten Walter Tankerdon und Miß Coverley die strengste Zurückhaltung, da jede Unklugheit ihrerseits die unliebsamsten Folgen hervorrufen kann.

Sehr erklärlich erscheint hiernach die verblüffende Wirkung des merkwürdigen Vorfalles auf dem Balle des Gouverneurs, eines Ereignisses, in dem zu Uebertreibungen geneigte Köpfe einen Scandal haben erkennen wollen und von dem am folgenden Tage die ganze Stadt voll ist. Und doch ging die Sache so ungemein einfach zu. Der Oberintendant hat Miß Coverley zwar zum Tanze aufgefordert, sich aber bei Beginn der Quadrille... der abscheuliche Munbar!... nicht rechtzeitig eingefunden; Walter Tankerdon ist deshalb an seine Stelle getreten, und Miß Dy hat ihn doch als Partner annehmen müssen.

Daß diese für die feinere Welt Milliard-Citys so wichtige Thatsache zu den verschiedensten Deutungen Anlaß gab, ist nicht nur wahrscheinlich, sondern sogar gewiß. Mr. Tankerdon hat darüber seinen Sohn und Mr. Coverley seine[213] Tochter ausgefragt. Was die jungen Leute geantwortet, ob sich auch Mrs. Coverley und Mrs. Tankerdon in die Sache eingemischt und welche Erfolge sie dadurch erzielt haben, das hat Calistus Munbar trotz seines Späherblicks und seiner diplomatischen Schlauheit nicht enträthseln können. Auf eine bezügliche Frage Frascolin's antwortet er auch nur mit einem Zwinkern des rechten Auges – was gar nichts sagen will, weil es thatsächlich nichts ist. Doch möchten wir hier einflechten, daß Walter Tankerdon seit jenem denkwürdigen Tage, wenn er der Mrs. Coverley und Miß Dy beim Spazierengehen begegnet, sich höflichst verneigt und das junge Mädchen wie ihre Mutter den Gruß erwidert.

Kann man dem Oberintendanten glauben, so ist damit »ein großer Schritt in die Zukunft« gethan.

Am Morgen des 25. November ereignet sich etwas auf dem Meere, was zu den zwei hervorragendsten Familien der Propeller-Insel in keinerlei Beziehung steht.

Bei Tagesanbruch melden die Wachen des Observatoriums mehrere hochbordige Fahrzeuge, die einen südwestlichen Curs steuern. Sie halten sich unter Beobachtung gewisser Abstände in einer Linie. Offenbar gehören sie einer Schiffsdivision des Stillen Oceans an.

Commodore Simcoë unterrichtet davon telegraphisch den Gouverneur und dieser ertheilt Befehl, sich zum Salutwechsel mit jenen Kriegsschiffen bereit zu halten.

Frascolin, Yvernes und Pinchinat begeben sich nach dem Thurme des Observatoriums, um diesem Austausche internationaler Höflichkeitserweisungen beizuwohnen.

Alle Fernrohre richten sich auf die Fahrzeuge, die vier an der Zahl und jetzt noch fünf bis sechs Meilen entfernt sind. Keine Flagge weht von ihrer Gaffel, so daß ihre Nationalität zunächst unerkennbar bleibt.

»Es deutet also nichts darauf hin, welcher Marine sie angehören? fragt Frascolin einen Officier.

– Nichts, antwortet dieser; höchstens ihrer Bauart nach würde ich glauben, daß es britische Schiffe sind. In hiesiger Gegend trifft man kaum andre, als englische, französische oder amerikanische Geschwader an. Wenn sie eine oder zwei Meilen näher sind, werden wir uns über sie klar sein.«

Die Schiffe nähern sich mit sehr mäßiger Geschwindigkeit, und wenn sie ihren Curs nicht ändern, müssen sie nur wenige Kabellängen von Standard-Island vorbeikommen.[214]

Ein Häuflein Neugieriger sammelt sich an der Rammspornbatterie und verfolgt mit Interesse die Bewegung der Fahrzeuge.

Eine Stunde später sind sie kaum noch zwei Meilen entfernt; es sind Kreuzer von veralteter Bauart mit drei Masten, die jedoch einen weit schönern Anblick gewähren, als die jetzigen Schiffstypen mit nur einem einzigen Signalmaste. Das ihren weiten Schornsteinen wirbeln schwarze Rauchsäulen empor, die der Westwind bis zur Grenze des Horizonts hinträgt.

Als sie bis auf anderthalb Meilen herangedampst sind, kann der Officier versichern, daß sie die britische Division im West-Pacific bilden, wo verschiedne Archipele, wie die von Tonga, Samoa und der Cook's, Großbritannien entweder gehören oder unter dessen Schutzherrschaft stehen.

Der Officier hält sich bereit, die Flagge von Standard-Island zu hissen, deren Fahnentuch mit der goldnen Sonne in der Mitte sich im Winde breit entfalten wird. Man wartet nur auf den ersten Salutschuß vom Admiralschiffe.

Zehn Minuten verstreichen.

»Wenn das Engländer sind, bemerkt Frascolin, so beeilen sie sich nicht gerade, höflich zu sein!

– Ja, was willst Du denn? antwortet Pinchinat. John Bull hat gewöhnlich den Hut auf dem Kopfe festgeschraubt und das Losschrauben macht immer nicht wenig Mühe.«

Der Officier zuckt mit den Achseln.

»Es sind eben Engländer, sagt er. Ich kenne sie, die grüßen nicht.«

In der That steigt an der Hißleine des führenden Schiffes keine Flagge empor. Die Division dampft vorüber, als ob die Propeller-Insel gar nicht vorhanden wäre. Welches Recht der Existenz hat sie denn auch? Warum soll England ihr Aufmerksamkeiten erweisen, da es gegen die Herstellung dieses enormen schwimmenden Bauwerks von jeher Einspruch erhoben hat, vorzüglich, da jenes sich auf die Gefahr von Zusammenstößen hin auf den Meeren fortbewegt und gelegentlich die Fahrstraße versperrt?

Die Division entfernt sich wie ein schlecht erzogner Herr, der sich stellt, als ob er die Leute auf dem Trottoir der Regent-Street oder des Strand nicht kenne, und die Flagge Standard-Islands bleibt also auch unten.

Wie man in der Stadt und in den Häfen auf das hochnäsige England, das perfide Albion, das moderne Karthago zu sprechen ist, läßt sich leicht denken. Jedenfalls beschließt man, niemals einen britischen Salut zu erwidern, wenn[215] ein solcher – was kaum zu erwarten – der Propeller-Insel zu Theil werden sollte.

»Welcher Unterschied gegen unser Geschwader bei dessen Ankunft vor Tahiti! ruft Yvernes.

– Das kommt daher, bemerkt Frascolin, daß die Franzosen immer höflich sind...

Sostenuta con expressione!« fügt Seine Hoheit hinzu, der mit graziöser Hand den Tact schlägt.

Am Morgen des 29. November erblicken die Wachen die ersten Höhen der Cooks-Inseln, die unter 20° südlicher Breite und 160° westlicher Länge liegen. Erst mit dem Namen Mangia- und Herveys-, später als Cooks-Inseln bezeichnet nach dem berühmten Seefahrer, der 1770 hier landete, bestehen sie aus den Inseln Mangia, Rarotonga, Watim, Mittio, Hervey, Palmerston, Hagemeister und andern mehr. Ihre Bevölkerung mahorischer Abstammung ist von zwanzigtausend auf zwölftausend Seelen herabgegangen und besteht aus polynesischen Malayen, die von europäischen Missionären zum Christenthum bekehrt wurden. Die um ihre Unabhängigkeit besorgten Eingebornen haben bisher jeder Unterwerfung Widerstand geleistet. Noch immer glauben sie, die Herren im eignen Hause zu sein, obwohl sie allmählich der Schutzherrschaft des englischen Australiens – und was diese bedeuten will, ist ja bekannt – mehr und mehr verfallen.

Die erste Insel der Gruppe, auf die man trifft, ist Mangia, die wichtigste und bevölkertste von allen, das eigentliche Haupt des Archipels. Für hier ist ein vierzehntägiger Aufenthalt geplant.

Wird Pinchinat in diesem Archipel mit echten Wilden Bekanntschaft machen – mit Wilden, wie Robinson Crusoë, die er auf den Marquisen, den Gesellschafts-Inseln und auf Nuka-Hiva vergeblich gesucht hatte? Wird die Neugierde des Parisers befriedigt werden und er absolut authentische Cannibalen, die sich als solche erprobt haben, zu Gesicht bekommen?


Höflichst verneigt sich Walter Tankerdon. (S. 214.)
Höflichst verneigt sich Walter Tankerdon. (S. 214.)

»Mein alter Zorn, beginnt er eines Tages zu seinem Kameraden, wenn es hier keine Menschenfresser giebt, dann giebt's überhaupt keine mehr!

– Ich könnte Dir antworten: Was geht das denn mich an? antwortet der Stacheligel des Quartetts. Ich will Dich aber lieber fragen: Warum überhaupt keine mehr?

– Weil eine Insel, die sich Mangia (Anspielung auf menger, essen. D. Uebers.) nennt, nur von Cannibalen bewohnt sein kann!«[216]

Pinchinat hat kaum Zeit, einem Klaps auszuweichen, den er für sein abscheuliches Wortspiel verdient.

Ob es auf Mangia Menschenfresser giebt oder nicht, Seine Hoheit (der Bratschist) wird mit ihnen nicht in Berührung kommen können.

Als Standard-Island nämlich noch eine Meile von Mangia lag, erscheint eine aus dessen Hafen ausgelaufene Pirogue am Pier des Steuerbordhafens. Sie bringt den englischen Residenten, einen einfachen protestantischen Geistlichen, der besser als die eingebornen Häuptlinge eine drückende Tyrannei ausübt. Auf dieser, dreißig Meilen im Umfang messenden Insel mit viertausend Einwohnern, die sorgfältig angebaut ist und reiche Taropflanzungen, Arrowroot- und Ignamenfelder hat, besitzt jener Reverend die besten Grundstücke. Ihm gehört die schönste Wohnung in Ouchora, der Hauptstadt der Insel, die an einem mit Brodbäumen, Cocospalmen, Mangobäumen, Bouraos und Pfefferbäumen bedeckten Hügel liegt, ohne von des Mannes Blumengarten zu reden, worin Coleas, Gardenien und Päonien in üppigster Blüthe stehen. Er ist mächtig durch die Mutoïs, jene eingebornen Polizisten, vor denen sich Ihre mangiesischen Majestäten beugen. Diese Polizei untersagt es, auf die Bäume zu klettern, an Sonn- und Festtagen zu fischen oder zu jagen, nach neun Uhr abends auszugehen und irgendwelche Bedarfsgegenstände anders als zu sehr willkürlich festgesetzter Taxe zu kaufen, alles bei einer in Piastern – der Piaster gilt fünf Francs – zu erlegenden Strafe, von der der Löwenantheil in die Tasche des gewissensweiten Geistlichen fließt.

Bei der Landung des kleinen dicken Mannes geht ihm der Hafenkapitän entgegen, und es werden einige Begrüßungen ausgetauscht.

»Im Namen des Königs und der Königin von Mangia, sagt der Engländer, bringe ich die Empfehlung Ihrer Majestäten Seiner Excellenz dem Gouverneur von Standard-Island.

– Ich bin beauftragt, sie dankend anzunehmen, Herr Resident, antwortet der Officier, bis unser Gouverneur sich gestatten wird, seine Ehrenbezeugung persönlich abzulegen.

– Seine Excellenz wird stets willkommen sein,« erwidert der Resident, dessen unansehnliches Gesicht von Geiz und Habsucht versteinert erscheint.

Dann fährt er mit süßlicher Stimme fort:

»Der Gesundheitszustand auf Standard-Island läßt doch wohl nichts zu wünschen übrig?[219]

– Er war nie besser als jetzt.

– Und doch könnte vielleicht einer oder der andre Fall einer epidemischen Krankheit, wie von Influenza, Typhus, Blattern...

– Nicht einmal von Schnupfen, Herr Resident. Stellen Sie uns also gefälligst ein reines Patent aus, und sobald wir uns dann festgelegt haben, wird sich der Verkehr mit Mangia in geregelter Weise entwickeln...

– Das heißt... fährt der Pastor zögernd fort, wenn keine Krankheiten...

– Ich wiederhole Ihnen, daß es davon keine Spur giebt.

– Die Bewohner von Standard-Island gedenken also ans Land zu gehen...

– Ja, wie sie das von den Inselgruppen im Osten her gewöhnt sind.

– Recht schön... recht schön, erwidert das dicke Männchen. Seien Sie überzeugt, daß sie freundlich aufgenommen werden, vorausgesetzt, daß keine Epidemien...

– Keine, versichere ich Ihnen!

– So mögen sie sich ausschiffen... recht viele... die Mangiesen werden ihnen den besten Empfang bereiten, denn sie sind gastfreundlicher Art; nur...

– Nur?...

– Ihre Majestäten haben in Uebereinstimmung mit dem Rathe der Häuptlinge verordnet, daß auf Mangia wie auf den übrigen Inseln alle Fremden einen Eintrittszoll zu zahlen haben...

– Was? Einen Eintrittszoll?...

– Ja. Zwei Piaster. Es ist ja nur wenig... zwei Piaster für jede Person, die die Insel betritt.«

Entschieden ist der Vorschlag hierzu von dem Residenten ausgegangen, der König, die Königin und der Rath der Häuptlinge haben ihn schnellstens angenommen, ein guter Theil des Ertrags fließt aber Seiner Excellenz zu. Da es auf den östlichen Inseln niemals vorgekommen ist, daß ein solcher Zoll erhoben wurde, giebt der Hafenkapitän darüber seiner Verwunderung unverholenen Ausdruck.

»Ist das Ihr Ernst? fragt er.

– Voller Ernst, versichert der Resident, und ohne Erlegung jener zwei Piaster können wir niemand Zutritt gewähren.

– Es ist schon gut!« antwortet der Hafenkapitän.[220]

Er verläßt grüßend Seine Excellenz, begiebt sich nach dem Telegraphenbureau und meldet dem Commodore, was er erfahren hat.

Ethel Simicoë setzt sich mit dem Gouverneur in Verbindung mit der Frage, ob es angezeigt sei, mit der Schraubeninsel bei Mangia zu halten, da ihm jene Forderung ebenso bestimmt wie ungerecht erscheine.

Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten. Nach Verabredung mit seinen Adjuncten weist Cyrus Bikerstaff es ab, sich dieser vexatorischen Abgabe zu unterwerfen, und beschließt, daß Standard-Island weder vor Mangia, noch vor einer andern Insel des Archipels Aufenthalt nehmen soll. Der habsüchtige Pastor bleibt also auf seinem Vorschlage sitzen, und die Milliardeser werden in benachbarten Gegenden minder beutelustige Eingeborne besuchen.

Die Maschinisten erhalten Befehl, ihren zehn Millionen Pferdekräften die Zügel schießen zu lassen, und damit wurde Pinchinat des Vergnügens beraubt, ehrenwerthen Menschenfressern die Hand zu drücken... wenn es solche hier gab. Doch nein; er mochte sich trösten. Auch auf den Cooks-Inseln verzehrt man sich – vielleicht leider! – heutzutage gegenseitig nicht mehr. Standard-Island schlägt nun eine Richtung durch den breiten Meeresarm ein, der sich bis zum Ende der vier, nordsüdlich aneinander gereihten Inseln fortsetzt. Ueberall schwärmen Piroguen umher, die einen sein gebaut und ausgerüstet, die andern plump aus einem Baumstamme hergestellt, alle aber von kühnen Fischern bemannt, die den hier so zahlreich vorkommenden Walfischen nachstellen.

Die Inseln sind sehr fruchtbar, und man begreift, daß England ihnen seine Schutzherrschaft aufgenöthigt hat, natürlich mit dem Hintergedanken, sie später ganz in Besitz zu nehmen. Von Mangia selbst sieht man seine felsigen, von einem Korallenband umrahmten Küsten, seine blendend weißen Häuser, die mit Kalk, der aus Korallen gebrannt wurde, getüncht sind, und seine vom dunkeln Grün der Tropennatur geschmückten Hügel, deren Höhe zweihundert Meter nirgends überschreitet.

Am nächsten Tage zeigt sich das, an seinen bis oben hinauf bewaldeten Höhen erkennbare Rarotonga. In der Mitte nur strebt ein fünfzehnhundert Meter hoher Vulcan empor, dessen kahler Gipfel aus dichtem Gehölz hervorragt. Unter dem Baumdunkel sieht man ein weißes Gebäude mit gothischen Fenstern, die protestantische Kirche. Die großen Bäume mit mächtigen Aesten und unregelmäßig geformtem Stamm erscheinen verworfen, voller buckliger Auswüchse und verdreht, wie alte Apfelbäume der Normandie oder alte Oliven der Provence.[221]

Vielleicht hat der Reverend, der die rarotongischen Gewissen regiert, und zwar im Verein mit der Deutschen oceanischen Gesellschaft, in deren Hand sich der ganze Handel der Insel befindet... vielleicht hat er nicht nach dem Beispiele seines Amtsbruders in Mangia eine Fremdentaxe eingeführt, und vielleicht könnten die Milliardeser ohne den Beutel zu ziehen ihre Ehrerbietung den beiden Königinnen erweisen, die sich hier um die Souveränität streiten und von denen die eine im Dorfe Arognani, die andre im Dorfe Avarua wohnt. Cyrus Bikerstaff hält es aber doch nicht für gerathen, bei dieser Insel ans Land zu gehen, und ihm stimmt der Rath der Notabeln, die überall wie Könige empfangen zu werden gewöhnt sind, widerspruchslos bei. Die von den ungeschickten Engländern beherrschten Eingebornen gehen daher leer aus, während sonst die Piaster in den Taschen der Nabobs von Standard-Island nicht festgenagelt sind.

Gegen Abend erkennt man nur noch den obersten Theil des Vulcans, der einer Riesensäule gleich zum Himmel aufsteigt. Myriaden von Seevögeln haben sich ohne Erlaubniß auf Standard-Island niedergelassen oder flattern darüber hin; mit Anbruch der Nacht aber ziehen alle wieder davon und nach den Eilanden, die im Norden des Archipels von dem Wogenschlage des Großen Oceans gepeitscht werden.

Jetzt wird unter dem Vorsitze des Gouverneurs eine Versammlung abgehalten zur Berathung einer Veränderung der Reiseroute. Standard-Island befindet sich in Gegenden mit vorherrschend englischem Einfluß. Steuerte man, wie vorher festgesetzt war, längs des zwanzigsten Breitengrades nach Westen weiter, so gelangte man nach den Tonga- und den Fidschi-Inseln. Was man an den Cooks-Inseln erlebte, war ja nicht gerade ermuthigend. Da erschien es rathsamer, die Loyalitäts-Inseln und Neucaledonien anzulaufen, wo das Juwel des Stillen Oceans gewiß mit echt französischer Höflichkeit aufgenommen wurde. Nach dem Wintersolstitium wollte man dann direct nach den Aequatorialgegenden zurückkehren. Damit entfernte man sich freilich von den Neuen Hebriden, wohin die Schiffbrüchigen der Ketsch und ihr Kapitän übergeführt werden sollten.

Während dieser Verhandlung über eine neue Reiseroute zeigten sich die Malayen auffallend unruhig, denn wenn jene Veränderung beliebt wurde, erschien ihre Heimkehr nicht wenig erschwert. Der Kapitän Sarol konnte seine Enttäuschung, richtiger seinen Zorn darüber nicht verhehlen, und wer ihn jetzt hätte zu seinen Leuten reden hören, dem würde eine verdächtige Gereiztheit des Mannes nicht entgangen sein.[222]

»Da wollen sie uns nun, wiederholte er häufiger, an den Loyalitäts-Inseln oder in Neucaledonien aussetzen!... Und unsre Genossen, die uns auf Erromango erwarten und aus unserm wohldurchdachten Plane, der nur für die Neuen Hebriden gilt, was wird daraus?... Soll uns dieser Glücksfall aus den Händen gehen?«

Zum Glück für die Malayen, zum Unglück für Standard-Island wurde die vorgeschlagne Aenderung des Weges nicht gutgeheißen. Die Notabeln von Mil liard-City lieben es nicht, an ihren Gewohnheiten gerüttelt zu sehen. Die Reiseroute wird nach dem im voraus dafür entworfnen Programm eingehalten werden, nur entscheidet man sich, statt an den Cooks-Inseln vierzehn Tage liegen zu bleiben, mehr nordwestlich nach dem Samoa-Archipel zu gehen und von da die Gruppe der Tonga-Inseln aufzusuchen.

Beim Bekanntwerden dieses Beschlusses können die Malayen ihre Befriedigung darüber nicht verhehlen.

Am Ende konnte es nichts Natürlicheres geben, als ihre Freude, daß der Rath der Notabeln auf seine Absicht, sie nach den Neuen Hebriden heimzuführen, nicht verzichtet hatte.

Quelle:
Jules Verne: Die Propeller-Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXVII–LXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 209-217,219-223.
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