Drittes Capitel.
Ein Hofconcert.

[238] Seit dem 21. December hat die Sonne, nachdem sie den Wendekreis des Steinbocks erreicht hatte, ihrer scheinbaren Bewegung nach wieder angefangen, sich nach Norden zu wenden. Damit läßt sie für die hiesigen Gegenden den Winter mit seiner Unbill hinter sich und bringt dafür den Sommer der nördlichen Halbkugel der Erde wieder.

Standard-Island befindet sich nur zehn Breitengrade von diesem Wendekreise entfernt, und wenn es nach Tonga-Tabu hinuntersegelt, gelangt es damit zur[238] tiefsten in der Reiseroute vorgesehenen Breite, und will sich von da aus wieder nach Norden begeben, um sich wieder in den günstigsten klimatischen Verhältnissen zu halten. Einer Periode sehr starker Hitze kann es freilich nicht entgehen, wenn die Sonne ihm im Zenith steht; diese Hitze wird aber durch die Seewinde gemildert und wird weiter abnehmen, je nachdem sich die Sonne weiter entfernt.

Zwischen dem Archipel von Samoa und dem von Tonga-Tabu zählt man acht Breitengrade oder etwa neunhundert Kilometer. Ohne sich zu übereilen, wird die Propeller-Insel über das beständig glatte Meer hingleiten, da jetzt Windstöße und Stürme fast ausgeschlossen sind. Es genügt, vor Tonga-Tabu in den ersten Tagen des Januar einzutreffen, dort soll eine Woche gerastet und dann nach den Fidschi-Inseln weiter gefahren werden. Von hier aus soll sich Standard-Island dann nach den Neuen Hebriden begeben, um die malayische Mannschaft ans Land zu setzen, und schließlich soll es, nach Nordwesten hinausgehend, die Breite der Madelainebay wieder erreichen und damit die diesjährige Rundreise vollenden.

In Milliard-City spinnt sich das Leben in ungestörter Ruhe weiter ab – das Leben einer großen amerikanischen oder europäischen Stadt mit seiner beständigen, durch die Dampfer oder die Telegraphenkabel unterhaltenen Verbindung mit der Neuen Welt, den gewohnten gegenseitigen Besuchen der Familien, der offenbaren Annäherung zwischen beiden Inselhälften, mit den Spaziergängen, den Unterhaltungen und den Concerten des Quartetts, die sich des unveränderten Beifalls der Musikliebhaber erfreuen.

Das Neujahr, die den Protestanten wie den Katholiken gleich heilige Christmas, wird mit größtem Prunke im Tempel, ebenso wie in der Saint-Mary Church, doch auch in den Einzelwohnungen, in den Hôtels und in den Häusern der Handelsviertel gefeiert. In der Woche von Weihnachten bis zum ersten Januar schwelgt die Insel in frohen Festlichkeiten.

Inzwischen veröffentlichten die Journale von Stan dard-Island, das »Starboard-Chronicle« und der »New-Herald« alle örtlichen und auswärtigen Neuigkeiten. Vorzüglich eine Neuigkeit aber, die gleichzeitig in beiden Blättern erscheint, giebt zu zahlreichen Commentaren Anlaß.

In der Nummer vom 26. December war nämlich zu lesen, daß der König von Malecarlieu sich zum Gouverneur nach dem Stadthause begeben und dieser ihm eine Audienz bewilligt habe. Niemand wußte, was Seine Majestät mit diesem Besuche bezweckte. In Folge dessen schwirren allerlei Gerüchte durch die[239] Stadt, und diese hätten sich unzweifelhaft mehr und mehr auf ganz unhaltbare Muthmaßungen gestützt, wenn die Journale nicht andern Tages Aufklärung über die Sache gebracht hätten.

Der König von Malecarlieu hat sich um eine Anstellung am Observatorium von Standard-Island beworben und die oberste Verwaltung seinem Gesuche sofort entsprochen.

»Alle Wetter, ruft Pinchinat, um so etwas zu erleben, muß man freilich in Milliard-City wohnen! Ein Souverän mit dem Fernrohr vor den Augen, der die Sterne am Horizont beobachtet!...

– Ein Gestirn der Erde, das mit seinen Brüdern am Firmament in Verbindung tritt!« setzt Yvernes hinzu.

Diese Mittheilung bestätigt sich, und zwar hat den König von Malecarlieu folgender Umstand veranlaßt, um jene Stelle anzuhalten.

Der König von Malecarlieu war ein gutherziger Mann, und die Königin, seine Gemahlin, eine nicht minder gutherzige Frau. Sie bemühten sich, so viel Gutes zu thun, wie das in einem Mittelstaate Europas nur aufgeklärte liberale Geister im Stande sind, ohne deshalb den Anspruch zu erheben, daß ihre Dynastie, wenn sie auch zu den ältesten der Alten Welt gehörte, göttlichen Ursprungs sei. Der König war sehr wissenschaftlich gebildet und liebte die Künste, vorzüglich die Musik. Als Gelehrter und Philosoph verschloß er aber die Augen nicht vor der Zukunft der europäischen Herrscherfamilien und war, wenn sein Volk es verlangte, jeden Augenblick bereit, aus seinem Königreich zu scheiden. Da er keinen directen Erben besaß, beging er damit seiner Familie gegenüber kein Unrecht, wenn ihm die Zeit gekommen schien, seinen Thron zu verlassen und sich der Krone zu entkleiden.

Dieser Zeitpunkt trat vor drei Jahren ein, ohne daß es dabei im Königreiche Malecarlieu zu einer Revolution – wenigstens nicht zu einer blutigen – gekommen wäre. Unter gegenseitiger Uebereinstimmung wurde der Vertrag zwischen Seiner Majestät und deren Unterthanen aufgehoben. Der König wurde wieder ein Mensch, seine Unterthanen Bürger und er ging ohne weitere Umstände ab, wie ein Reisender auf der Eisenbahn, und ließ ruhig die eine Regierungsform an Stelle der andern treten.


Ein König mit dem Fernrohre vor den Augen. (S. 240)
Ein König mit dem Fernrohre vor den Augen. (S. 240)

Mit sechzig Jahren noch außerordentlich kräftig, erfreute sich der König einer Constitution... vielleicht einer bessern, als sein früheres Königreich sich zu geben vermochte. Die schon von jeher wankende Gesundheit der Königin aber[240] verlangte einen Aufenthalt, wo sie vor grellem Temperaturwechsel geschützt war. Eine solche Gleichmäßigkeit der Verhältnisse war aber kaum anderswo als auf Standard-Island zu finden, wenn man der Beschwerde entgehen wollte der guten Jahreszeit in den verschiednen Breitenlagen der Erde immer nachzureisen. Das schwimmende Bauwerk der »Standard-Island Company« bot dagegen alle erwünschten Vortheile.

Das war der Grund, weshalb der König und die Königin von Malecarlieu sich entschlossen hatten, ihren Sitz in Milliard-City zu nehmen. Das wurde[241] ihnen unter der Bedingung zugestanden, daß sie hier als einfache Bürger lebten und jeden Anspruch auf Auszeichnung oder besondre Privilegien aufgaben. Ihre Majestäten dachten natürlich gar nicht daran, anders aufzutreten. In der Neununddreißigsten Avenue der Steuerbordhälfte ermietheten sie ein kleines Hôtel mit einem nach dem großen Park hinausliegenden Garten. Hier wohnten die beiden Souveräne sehr zurückgezogen, ohne sich in die Zwistigkeiten und Intriguen der rivalisierenden Stadthälften einzumischen, unter ganz bescheidnen Verhältnissen. Der König beschäftigte sich mit astronomischen Studien, für die er schon von jeher eine Vorliebe gehabt hatte. Die Königin, eine strenge Katholikin, führte ein fast klösterliches Leben und hatte nicht einmal Gelegenheit zu Werken der Barmherzigkeit, da Elend und Armuth auf dem Juwel des Stillen Oceans unbekannt sind.

Das ist die Geschichte der frühern Herrscher von Malecarlieu, wie sie der Oberintendant unsern Künstlern erzählt hat, unter dem Hinzufügen, daß dieser König und diese Königin die besten Menschen seien, die man nur finden könne, wenn auch ihre Vermögensverhältnisse ziemlich viel zu wünschen übrig ließen.

Sehr gerührt über diesen mit so viel Philosophie und Resignation ertragenen Umschlag der Dinge empfindet das Quartett eine ehrerbietige Theilnahme für die entthronten Souveräne. Statt sich nach Frankreich, der Heimat der exilierten Könige, zu flüchten, haben Ihre Majestäten Standard-Island gewählt, so wie sich reiche Leute aus Gesundheitsrücksichten in Nizza oder auf Korfu niederlassen. Sie sind freilich nicht eigentlich verbannt, nicht verjagt aus ihrem Königreiche und hätten dort wohnen bleiben oder dorthin zurückkehren können... natürlich nur als einfache Bürger wie jeder andre. Das kam ihnen jedoch gar nicht in den Sinn, denn sie fühlten sich in dieser friedlichen Existenz ganz außerordentlich wohl und unterwarfen sich gern den Gesetzen und Anordnungen, die für die Propeller-Insel erlassen waren.

Im Vergleich mit der Mehrheit der Milliardeser und mit den in Milliard-City gewöhnlichen Lebensanforderungen waren der König und die Königin von Malecarlieu freilich nicht reich zu nennen. Mit zweimalhunderttausend Francs Rente ist nicht viel anzufangen, wenn die Wohnung schon fünfzigtausend Francs Miethe kostet. Die Exsouveräne galten indeß schon für nicht vermögend unter den Kaisern und Königen Europas, die wiederum neben den Gould's, den Vanderbilt's, den Rothschild's, den Astor's, den Makay's und andern Finanzgrößen keine hervorragende Rolle spielen könnten. Daß jene sich keinen Luxus, sondern nur das[242] Allernothwendigste gestatteten, schien sie nicht im geringsten zu belästigen. Die Gesundheit der Königin besserte sich hier so befriedigend, daß der König gar nicht daran denken kann, den jetzigen Aufenthalt wieder zu wechseln. Er wünscht jedoch seine Einnahmen etwas aufzubessern, und da eine Stellung am Observatorium frei geworden war, bewarb er sich darum beim Gouverneur. Nach einem Telegrammaustausch mit der Direction in der Madelainebay hat Cyrus Bikerstaff über diese Stellung zu Gunsten des Souveräns verfügt, und so konnten die Journale von Milliard-City also verkündigen, daß der König von Malecarlieu zum Astronomen des Observatoriums von Standard-Island ernannt worden sei.

Das hätte in allen andern Ländern einen unerschöpflichen Redestoff geliefert. Hier spricht man davon zwei Tage, nachher ist die Sache vergessen. Es erscheint jedem ganz natürlich, daß ein König sich bemüht, sich durch Arbeit die Möglichkeit seines fernern Verbleibens in Milliard-City zu sichern. Er ist ein Gelehrter: die Gesammtheit wird davon Nutzen haben, darin liegt doch nichts Ehrenrühriges. Wenn er einen neuen Stern, einen Planeten, Kometen oder Fixstern entdeckt, wird man diesem seinen Namen geben. Und er wird mit Ehren unter den mythologischen Namen figurieren, von denen es in den officiellen Annalen wimmelt.

Im Parke lustwandelnd, unterhielten sich die Künstler über diese Angelegenheit, denn sie hatten an demselben Morgen den König auf dem Wege nach dem Bureau gesehen und waren noch nicht genug amerikanisiert, um darin nicht etwas außergewöhnliches zu erblicken. So verhandelten sie also noch über dieses Thema und Frascolin sagte:

»Wenn Seine Majestät nicht befähigt gewesen wäre, die Functionen eines Astronomen zu erfüllen, so scheint es, hätte er als Musiklehrer auftreten können.

– Ein König, der Privatstunden giebt! ruft Pinchinat.

– Ja, und zu einem Preise, den nur seine reichen Zöglinge hier hätten anlegen können.

– Man sagt wirklich allgemein, daß er ein guter Musiker sei, bemerkt Yvernes.

– Ich bin nicht erstaunt darüber, daß er fast Musiknarr sein soll, setzt Sebastian Zorn hinzu, denn wir haben ihn ja bei unsern Concerten an der Thür des Casinos stehen sehen, weil er einen Salonplatz für sich und die Königin nicht erschwingen konnte.[243]

– He, Ihr Bierfiedler, ich habe eine Idee! sagt Pinchinat.

– Eine Idee Seiner Hoheit, erwidert der Violoncellist, muß allemal eine barocke sein!

– Barock oder nicht, mein alter Sebastian, antwortet Pinchinat, ich bin ganz überzeugt, daß Du sie billigst.

– Na, so wollen wir Pinchinat's Idee einmal hören, sagt Frascolin.

– Ich möchte nämlich vorschlagen, Ihren Majestäten, aber auch ihnen ganz allein, ein Concert in ihrem Salon zu geben und dabei die besten Stücke unsers Repertoires vorzutragen.

– Alle Achtung! ruft Sebastian Zorn, weißt Du, daß das gar kein schlechter Gedanke ist?

– Sapperment, von solchen Gedanken habe ich noch den ganzen Kopf voll, und wenn ich den einmal schüttle...

– Da klingt es wie ein Hagelschauer! fällt Yvernes ein.

– Lieber Pinchinat, nimmt Frascolin wieder das Wort, beschränken wir uns für heute auf Deinen Vorschlag. Ich bin fest überzeugt, daß wir dem guten Könige und der guten Königin ein großes Vergnügen bereiten werden.

– Morgen ersuchen wir schriftlich um eine Audienz, meint Sebastian Zorn.

– Nein, noch besser, sagt Pinchinat. Gleich heute Abend stellen wir uns vor der Königin Wohnung mit unsern Instrumenten ein, wie ein Musikcorps, das ein Morgenständchen bringen will...

– Du willst sagen, eine Serenade, verbessert ihn Yvernes, da es ja spät Abends sein wird...

– Meinetwegen, Du strenge, aber gerechte erste Geige! Doch streiten wir uns nicht um Worte. Ist die Sache abgemacht?

– Abgemacht und besiegelt!«

Ja, sie haben da wirklich eine gute Idee. Gewiß wird der musikliebende König die zarte Aufmerksamkeit der französischen Künstler verstehen und sich glücklich schätzen, sie zu hören.

Mit Eintritt der Dämmerung verläßt also das Quartett, seine Instrumente mitnehmend, das Casino und begiebt sich nach der am Ende der Steuerbordhälfte gelegnen Neununddreißigsten Avenue.

Es ist eine recht einfache Wohnung mit einem kleinen, von grünendem Rasen geschmückten Hofe davor. Das Gebäude besteht nur aus dem Erdgeschoß,[244] zu dem eine Rampe hinausführt, und einem Stockwerk nebst Mansardendach. Links und rechts beschatten zwei prächtige Nußbäume den zweifachen Fußweg, der zum Garten führt. Unter dem Laubdach dieses nur zweihundert Quadratmeter großen Gartens dehnt sich ein zarter Rasenteppich aus. Mit den Hôtels der Coverley's, Tankerdon's und andrer Notabeln läßt sich dieses Häuschen natürlich nicht vergleichen. Es ist die Zufluchtsstätte eines Weisen, der in seiner eignen Welt lebt, eines Gelehrten, eines Philosophen. Abdolonyme hätte sich, als er vom Throne der Könige von Sidon herabstieg, wohl auch damit begnügt.

Der König von Malecarlieu hat als einzigen Castellan seinen Kammerdiener, und die Königin als Ehrendame ihre Kammerfrau. Rechnet man hierzu noch eine amerikanische Köchin, so hat man das ganze Personal der abgesetzten Herrscher, die sich früher mit den Kaisern der Alten Welt »Herr Bruder« nannten.

Frascolin drückt auf einen elektrischen Knopf. Der Kammerdiener öffnet das Gitterthor.

Frascolin meldet, daß er und seine Kameraden, französische Künstler, den Wunsch hegten, Seiner Majestät ihre Ehrenbezeugung darzubringen, und um die Gunst bäten, empfangen zu werden.

Der Diener ersucht sie, einzutreten, und sie bleiben auf der Rampe stehen.

Fast augenblicklich kommt der Mann zurück mit der Meldung, daß der König sie mit Vergnügen empfangen werde. Man führt sie nach dem Vestibule, wo sie ihre Instrumente niederlegen, und dann nach einem Salon, in den auch Ihre Majestäten sofort eintreten.

Das war das ganze Ceremoniell des Empfangs.

Voller Respect vor dem Könige und der Königin haben die Künstler sich verneigt. Die sehr einfach in dunkle Stoffe gekleidete Königin trägt als Kopfschmuck nur ihr reiches Haar, dessen graue Locken ihrem etwas bleichen Gesichte und halbverschleierten Blicke einen ganz besondern Reiz verleihen. Sie nimmt auf einem Fauteuil neben dem Fenster Platz, das nach dem Garten hinausgeht.

Der König erwidert stehend die Begrüßungen seiner Besucher und ersucht sie, sich zu äußern, welche Veranlassung sie nach diesem, an der Grenze Milliard-Citys gelegnen Hause geführt habe.

Alle Vier fühlen sich ergriffen beim Anblick dieses Souveräns, dessen ganzes Wesen eine unaussprechliche Würde athmet. Sein Blick, der durchdringende Blick des Gelehrten, glänzt lebhaft unter den fast schwarzen Lidern hervor. Der[245] wohlgepflegte weiße Bart fällt ihm bis zur Brust herab. Sein Gesichtsausdruck, dessen ernster Charakter durch ein angenehmes Lächeln gemildert wird, erwirbt ihm die Zuneigung aller Personen, die in seine Nähe kommen.

Frascolin ergreift das Wort und sagt, nicht ohne ein leises Zittern der Stimme:

»Wir danken Eurer Majestät für die Gnade, uns empfangen zu haben, uns einfache Künstler, die nur der innige Wunsch leitete, Ihnen ihre Ehrerbietung zu bezeugen.

– Die Königin und ich, antwortet der König, danken Ihnen, meine Herren, und fühlen uns von Ihren Gesinnungen angenehm berührt. Es scheint fast, als hätten Sie nach dieser Insel, wo wir unser vielbewegtes Leben zu beschließen hoffen, etwas von der Luft Ihres schönen Frankreichs mitgebracht. Sie, meine Herren, sind mir übrigens nicht unbekannt, denn wenn ich auch mehr wissenschaftlich thätig bin, so liebe ich doch leidenschaftlich die Musik, die Kunst, der Sie Ihren vorzüglichen Ruf in der Kunstwelt verdanken. Wir kennen die Erfolge, die Sie in Europa wie in Amerika errungen haben, den Beifallssturm, mit dem Sie auf Standard-Island bewillkommnet wurden, und an dem wir – wenn auch etwas aus der Ferne – uns gern betheiligt haben. Zu unserm Bedauern konnten wir Sie nur noch nicht so hören, wie man Sie eigentlich hören muß.«

Der König bietet seinen Gästen Stühle an; dann erst setzt er sich selbst vor den Kamin, dessen Marmor eine herrliche Büste der Königin aus deren Jugendzeit, ein Werk Franquetti's, trägt.

Um zur Sache zu kommen, braucht Frascolin nur an den letzten Satz, den der König aussprach, anzuknüpfen:

»Eure Majestät haben Recht, sagt er, und rechtfertigt sich dieses Bedauern wohl vor allem durch die Art der Musik, die wir vertreten. Die Kammermusik, die Quartetts der berühmten Meister, eignen sich im Grunde nicht für eine zu große Zuhörerschaft. Sie brauchen etwas wie die ruhige Andacht eines Heiligthums...

– Gewiß, meine Herren, fällt hier der König ein, gerade dieser Musik muß man lauschen können, wie den Sphärenklängen himmlischer Harmonie, und deshalb verlangt sie einen geheiligten Ort...

– Möchten der König und die Königin uns doch gestatten, sagt Yvernes, diesen Salon für eine Stunde in ein solches Heiligthum zu verwandeln, und uns vor Ihren Majestäten ganz allein hören zu lassen...«[246]

Yvernes hat seine Worte noch nicht vollendet, da belebt sich die Physiognomie der beiden Souveräne.

»Meine Herren, Sie wollten... Sie wären auf den Gedanken gekommen...

– Das war der Zweck unsers Besuchs...

– Ach, sagte der König, ihnen die Hand bietend, daran erkenne ich französische Musiker, bei denen Talent und Herz sich gleichen! Ich danke Ihnen, meine Herren, im Namen der Königin und in dem meinen. Nichts... wirklich nichts könnte uns eine größre Freude bereiten!«

Und während der Kammerdiener Auftrag erhielt, die Instrumente zu holen und den Salon für dieses improvisierte Concert herzurichten, laden der König und die Königin ihre Gäste ein, ihnen in den Garten zu folgen. Hier plaudern alle und sprechen über Musik, als wären sie die vertrautesten Kunstgenossen.

Der König überläßt sich seinem Enthusiasmus für diese Kunst wie ein Mann, der allen Reiz derselben warm empfindet und alle Schönheiten derselben kennt. Er zeigt zum Erstaunen seiner Zuhörer, wie bekannt er mit den Meistern ist, die er nach einigen Minuten hören soll... er preist das naïve und angeborne Genie Haydn's, erinnert daran, was ein Kritiker über Mendelssohn gesagt hat, über diesen Fürsten der Kammermusik, der seine Gedanken in die Sprache Beethoven's übersetzt... er rühmt Weber's unübertroffene Feinfühligkeit und chevaleresken Geist, der ihm als Meister einen ganz eignen Standpunkt anweise... spricht von Beethoven als dem allerersten in der Instrumentalmusik, in dessen Symphonien sich eine ganze Seele offenbart. Die Werke seines Genius geben an Größe und Werth den Meisterwerken der Dichtkunst und Malerei, der Sculptur und der Architektur nicht das geringste nach... er, ein leuchtender Stern, der in seiner neunten Symphonie noch strahlend erlöscht, wo der Klang der Instrumente sich so ergreifend mit der menschlichen Stimme mischt!

»Und doch hätte er nie nach dem Takte tanzen können!«

Man erkennt leicht, daß es Pinchinat ist, der diese unangebrachte Bemerkung fallen läßt.

»Jawohl, antwortet der König lächelnd, doch das beweist nur, meine Herren, daß das Ohr für den Musiker kein unentbehrliches Organ ist. Er hört mit dem Herzen, mit diesem allein! Hat das nicht Beethoven gerade in der unvergleichlichen Symphonie bewiesen, die ich eben erwähnte, und die er schuf, als ihn die Taubheit irgend einen Ton zu hören hinderte?« Im weiteren Gespräch verbreitet die Majestät sich mit hinreißender Beredtsamkeit über Mozart.[247]

»O, meine Herren, sagt er, lassen Sie mein Entzücken ruhig überschäumen! Es ist so lange her, daß sich meine Seele einmal so entlasten konnte. Sie sind ja, so lange ich auf Standard-Island lebe, die einzigen Künstler, die mich verstehen. Mozart! Mozart! Einer der größten dramatischen Tondichter, meiner Ansicht nach der erste des neunzehnten Jahrhunderts, hat ihm ja unsterbliches Lob gezollt. Ich habe alles gelesen und werde es niemals vergessen! Er hat ausgesprochen, wie Mozart dadurch, daß er jedem Worte den richtigen Ton zu geben versteht, alle zu bezaubern weiß, ohne daß dabei die musikalische[248] Phrase auch nur im geringsten leidet... er hat gesagt, daß die pathetische Wahrheit sich bei ihm mit der plastischen Schönheit vermählt.


Sie schritten mit ihren Instrumenten der einfachen Wohnung des Königs zu. (S. 244.)
Sie schritten mit ihren Instrumenten der einfachen Wohnung des Königs zu. (S. 244.)

Ist Mozart nicht der Einzige, der mit niemals irrender Sicherheit die musikalische Form für alle Empfindungen, für alle Abstufungen der Leidenschaft und des Charakters zu treffen verstand? Mozart ist nicht nur ein König... was hat ein König jetzt noch zu bedeuten? unterbricht sich Seine Majestät, mit dem Kopfe schüttelnd, ich möchte sagen, er ist ein Gott, weil man noch zugiebt, daß ein Gott vorhanden ist, er ist der Gott der Musik!«


Stehend empfing der König die Besucher. (S. 245.)
Stehend empfing der König die Besucher. (S. 245.)

Die Wärme, mit der Seine Majestät seine Bewunderung ausdrückt, ist gar nicht wiederzugeben. Und nachdem er und die Königin nach dem Salon zurückgekehrt und die Künstler ihnen dahin gefolgt sind, er[249] greift er ein auf dem Tische liegendes Buch. Dieses Buch, das er gewiß oft gelesen hat, trägt den Titel : »Don Juan von Mozart«. Er schlägt es auf und liest einige Zeilen von der Feder des Meisters, der Mozart am besten verstanden, am meisten geliebt hat, von dem berühmten Gounod: »O Mozart, göttlicher Mozart! Wie wenig braucht man Dich zu verstehen, um Dich schon zu bewundern! Du, Du bist die ewige Wahrheit und die vollendete Schönheit! Du der Unerschöpfliche! Du immer tief und klar! Du die vollendete Menschlichkeit und kindliche Einfalt! Du, der Alles empfunden und in musikalischer Phrase Alles in einer Weise ausgedrückt hat, die nie übertroffen worden ist und nie übertroffen werden wird!«

Nun ergreifen Sebastian Zorn und seine Kameraden ihre Instrumente und beim milden Schein der elektrischen Hängelampe spielen sie das erste der für dieses Concert erwählten Musikstücke.

Es ist das zweite Quartett in As-dur, Op. 13 von Mendelssohn, dem das königliche Auditorium mit unverholenem Entzücken lauscht.

Diesem Quartette folgt das dritte in C-dur, Op. 75 von Haydn, das heißt, die österreichische Hymne, die mit unvergleichlicher Maestria vorgetragen wird. Niemals erhoben sich ausübende Musiker so nahe bis zur Vollkommenheit, wie in den stillen Räumen dieses Heiligthums, wo unsre Künstler nur zwei entthronte Souveräne als Zuhörer hatten.

Nach Beendigung dieser wahrhaft erhebenden Hymne spielen sie das sechste Quartett in H-moll, Op. 18 von Beethoven, jene »Malinconia« von so düsterm Charakter und so ergreifender Macht, daß die Augen ihrer Majestäten sich mit Thränen füllen.

Hierauf folgt die wunderbare Fuge in C-moll von Mozart, die so vollendet, so frei von aller Gesuchtheit und so natürlich ist, daß sie wie ein klares Wasser dahinzugleiten oder wie ein leichter Wind durch Laubwerk zu wehen scheint. Dieser schließt sich endlich eines der prächtigsten Werke des göttlichen Meisters an, das zehnte Quartett in D-dur, Op. 35, womit diese unvergeßliche Soirée, derengleichen die Nabobs der Milliard-City noch nie zu genießen Gelegenheit fanden, ihr Ende erreichte.

Die Franzosen konnten beim Vortrage der herrlichen Tondichtungen ebensowenig ermüden, wie der König und die Königin, ihnen zuzuhören.[250]

Es ist aber elf Uhr geworden und der König sagt:

»Wir danken Ihnen, meine Herren, und dieser Dank kommt aus tiefstem Herzen. Dank der Unübertrefflichkeit Ihres Vortrags haben wir uns eines Kunstgenusses erfreuen dürfen, dessen Andenken nie in uns erlöschen wird! Es hat uns sehr wohlgethan...

– Wünschen es Eure Majestät, so könnten wir noch...

– Ich danke Ihnen, meine Herren, ich danke Ihnen nochmals. Wir wollen Ihre Gefälligkeit nicht mißbrauchen! Es ist schon spät... und dann... diese Nacht hab' ich noch Dienst.«

Diese Worte aus dem Munde des Königs bringen die Künstler zur Wirklichkeit zurück. Dem Souverän, der so spricht, gegenüber, fühlen sie sich verlegen...

»Nun ja, meine Herren, fährt der König in heiterm Ton fort. Bin ich nicht der Astronom des Observatoriums von »Standard-Island?«... Und, setzt er nicht ohne einige Bewegung hinzu, Inspector der Sterne und der... erlöschenden Gestirne...«

Quelle:
Jules Verne: Die Propeller-Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXVII–LXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 238-251.
Lizenz:

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