Fünfzehntes Kapitel.
Auf einem Grabe.

[214] Es war also abgeschlossen, dieses traurige Kriminaldrama, das die Bevölkerung der baltischen Provinzen so tief erregt und sie am Vorabend, wo sich die Parteien auf dem Wahlkampfplatze messen sollten, nur noch weiter erhitzt[214] hatte. Noch einmal sollte die deutsche Partei, nach dem gewaltsamen Tode des Schildhalters der Slawen, den Sieg davontragen. Der Streit zwischen beiden Lagern loderte aber sicherlich früher oder später von neuem auf, und endete voraussichtlich erst nach der völligen Russifizierung des Landes unter dem Drucke der Regierungsgewalt.

Und Dimitri Nicolef hatte sich nicht allein entleibt, nein, der unter so schrecklichen Verhältnissen verübte Selbstmord erlaubte auch nicht mehr, an seiner Schuld zu zweifeln, seitdem die gestohlenen Kassenbilletts so unerwartet zum Vorschein gekommen waren. Er besaß also, als er Riga auf das Schreiben Wladimir Yanofs hin verlassen hatte, das ihm anvertraute Depot überhaupt nicht mehr. Ob er aber den Sohn seines Freundes aufgesucht habe, um ihm die ganze Wahrheit einzugestehen, oder ob er wegen Mißbrauchs des ihm geschenkten Vertrauens habe flüchten wollen... das war jedenfalls schwierig zu entscheiden. Dagegen konnte man wohl annehmen, daß Nicolef durch das unerwartete Auftauchen des aus den sibirischen Bergwerken entflohenen Verbannten überrascht worden sei und erkannt habe, daß er jetzt in eine Lage gekommen sei, in der seine Ehre für immer auf dem Spiele stand, da er einerseits Wladimir Yanof die ihm von seinem Vater zugefallene Erbschaft ebensowenig ausantworten, wie die bei den Herren Johausen nach wenigen Wochen fällige Schuld bezahlen konnte... hier war ihm jeder Weg zur Rettung verschlossen. Da wäre er denn auf der Reise mit dem Bankbeamten Poch zusammengetroffen, und der Ertrag des Diebstahls hätte es ihm ermöglicht, die früher veruntreute Summe nach Pernau zu bringen. Die eine Schuld wäre ja damit getilgt gewesen, doch um welchen Preis?... Um den eines zweifachen Verbrechens: eines Mordes und eines Diebstahls!

Als sich dann alles aufgeklärt hatte, als es Licht geworden war in der bisher so dunkeln Angelegenheit, als die von Wladimir Yanof vorgelegten Kassenscheine an ihren Nummern als dieselben erkannt worden waren, die sich in der Mappe Pochs befunden hatten, da hatte sich Dimitri Nicolef, der wahre Schuldige, der Raubmörder, mit demselben Messer, womit er sein Opfer getötet hatte, durch einen einzigen Stich ins Herz umgebracht.

Die Aufklärung dieser Angelegenheit gab selbst verständlich dem Schenkwirt Kroff alle Sicherheit wieder. Es war dazu auch die höchste Zeit gewesen: am nächsten Tage schon hätte Kerstorf den Befehl zu seiner Verhaftung ausfertigen wollen. Von der Stunde an, wo sich die Unstatthaftigkeit eines Einschreitens[215] gegen Dimitri Nicolef zu ergeben schien, konnte ein solches nur gegen Kroff in Frage kommen.


Dimitri Nicolef, den Kopf in den Händen, saß an seinem Arbeitstische. (S. 211.)
Dimitri Nicolef, den Kopf in den Händen, saß an seinem Arbeitstische. (S. 211.)

Nicolef oder Kroff, das Gericht konnte nach keinem andern Schuldigen forschen.

Bekanntlich war gegen den Schenkwirt auch schon einiger Verdacht aufgestiegen, als der Kriminalbeamte erfuhr, was im Kontor der Gebrüder Johausen vorgefallen war, und er war nicht einer derer, die am wenigsten darüber erstaunten, daß die Schuldlosigkeit Kroffs und die Schuld Nicolefs anzuerkennen wäre.[216]

Kroff nahm also seine gewohnte Lebensweise im Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' wieder auf, ja er wußte aus den jetzigen Umständen noch recht ansehnlichen Nutzen zu ziehen. Erschien er nicht wie ein später freigesprochener Verurteilter, nachdem man die Ungerechtigkeit seiner Verurteilung erkannt hatte? Kurz, man sprach von der Sache wohl noch einige Tage, doch dann war sie abgetan. Entging jetzt den Bankiers auch die Schuldsumme, die sie von Dimitri Nicolef zu fordern hatten, so waren sie doch wenigstens im Besitz der achtzehntausend Rubel, die ihnen Wladimir Yanof überbracht hatte.[217]

Nach der Beerdigung des Lehrers zogen sich Ilka und Jean, von dessen Rückkehr nach der Universität in Dorpat jetzt keine Rede mehr war, in ihr Haus zurück, dessen Schwelle gar viele der alten Freunde Nicolefs nicht mehr zu betreten wagten. Nur drei verließen sie in ihrem Jammer nicht: Wladimir Yanof, den hier zu erwähnen kaum nötig ist, Herr Delaporte und der Doktor Hamine.


 »Niemals,« entgegnete sie traurig. (S. 222.)
»Niemals,« entgegnete sie traurig. (S. 222.)

Die Geschwister sahen ihre weitere Lebensbahn nicht mehr klar vor sich. Alles erschien dunkel, selbst was Dimitri Nicolef anging, den schuldig zu glauben, gegen die Natur zu streiten schien. Sie gingen so weit, zu glauben, daß sein Verstand unter den wiederholten schweren Schicksalsschlägen gelitten haben werde, daß er sich nur in einem Anfalle von geistiger Umnachtung getötet habe und daß dieser Selbstmord keineswegs beweise, daß er der Urheber des Verbrechens im 'Umgebrochenen Kreuze' gewesen sei.

Es erscheint wohl kaum nötig auszusprechen, daß Wladimir Yanof dasselbe annahm, daß er sich sträubte, auch die erdrückendsten Beweise anzuerkennen. Wie wäre es aber möglich gewesen, daß jene numerierten Kassenscheine in den Besitz Dimitri Nicolefs gekommen wären, wenn dieser sie nicht von dem toten Poch gestohlen hatte?

Wladimir sprach darüber auch mit dem Doktor Hamine, dem ältesten Freunde der Familie.

»Ich will zugeben, sagte dieser mit unwiderlegbarer Logik, zugeben, lieber Wladimir, daß es Nicolef nicht gewesen ist, der Poch beraubt hatte, obgleich die Diebesbeute sich in seinem Besitz befunden hat. ebenso, daß sein Selbstmord kein untrüglicher Beweis für seine Schuld ist, da er wohl in einem Anfall von Geistesstörung, einer Folge der schrecklichen, ihn überwältigenden Prüfungen, Hand an sich gelegt haben könnte... eine Tatsache überwiegt aber doch das alles: Dimitri hat sich mit derselben Waffe umgebracht, mit der Poch getötet worden war, und vor dieser Tatsache muß man sich wohl beugen, so unglaublich, so entsetzlich das Ganze auch erscheint.

– Wenn es an dem ist, antwortete Wladimir als eine letzte Einwendung, so mußte Dimitri Nicolef ein Dolchmesser dieser Art besessen haben, das sein Sohn und seine Tochter bei ihm niemals gesehen hatten... nein, Herr Doktor, weder Sie noch sonst jemand. Hier zeigt sich noch ein unaufgeklärter Punkt...

– Darauf kann ich nur eine Antwort geben, Wladimir: Nicolef muß dieses Messer besessen haben; wie könnte man daran zweifeln, da er sich dessen zweimal, gegen Poch und gegen sich selbst, bedient hat?«[218]

Wladimir ließ den Kopf sinken; er fand hierauf keine Antwort.

Da nahm der Doktor Hamine wieder das Wort:

»Was soll nun aus den unglücklichen Kindern, aus Jean und Ilka werden?

– Nun, wird denn Jean nicht mein Bruder sein, wenn Ilka meine Frau ist?«

Der Arzt ergriff die Hand Wladimirs und drückte sie mit Wärme.

»Haben Sie denn glauben können, Herr Doktor, daß ich davon absehen würde, Ilka zu heiraten, sie, die ich liebe und die mich liebt, ob ihr Vater schuldig sei oder nicht?«

Wenn er immer noch bei seinem Zweifel verharrte, war es doch, nach allem, was der Doktor Hamine gesagt hatte, nur seine Liebe, die ihm die Kraft dazu eingab.

»Nein, Wladimir, antwortete der Arzt, ich habe nie geglaubt, daß Sie sich weigern würden, Ilka zu heiraten. Trifft denn die Unglückliche eine Verantwortlichkeit?

– Nicht die geringste! rief Wladimir eifrig. In meinen Augen ist sie das beste, das edelste Wesen... ist sie der Liebe eines ehrenhaften Mannes würdig. Unsere Verehelichung wird sich freilich verschieben, doch sie wird erfolgen. Sollten wir diese Stadt verlassen müssen, so wird es geschehen.

– Wladimir, ich erkenne Ihr gutes, edles Herz. Sie wollen Ilka heiraten, doch wird Ilka das jetzt auch wollen?

– Wenn sie sich weigerte, wär es ja ein Zeichen, daß sie mich nicht liebte.

– O, Wladimir, könnte es nicht auch ein Zeichen für ihre Liebe sein, einer Liebe, um deretwillen Ilka nicht wünscht, Sie erröten zu sehen?«

Dieses Zwiegespräch veränderte in keiner Weise die Gefühle Wladimir Yanofs; im Gegenteil blieb dieser entschlossen, seine Vermählung mit Ilka eher zu beschleunigen, sie wenigstens stattfinden zu lassen, sobald es die Umstände gestatteten. Darum, was man in der Stadt sagen, was man von ihm denken würde, selbst um den etwaigen Tadel seiner Freunde, kümmerte er sich ja nicht. Nur eines lag ihm schwer am Herzen: seine augenblickliche Lage.

Von dem Depot, das ihm Dimitri Nicolef ausgehändigt hatte, war ihm nach der Zahlung an die Gebrüder Johausen nur sehr wenig, nur ein Rest von zweitausend Rubeln übrig geblieben. Sein Vermögen hatte er ja hingeopfert, als er nach dem Bankhause ging, den Schuldschein Dimitri Nicolefs einzulösen. Nun, wenn ihn damals die Zukunft nicht erschreckte, warum sollte sie ihn dann[219] heute mehr erschrecken? Er würde arbeiten... für sich und seine Gattin. Mit Ilkas Liebe erschien ihm nichts unmöglich.

So vergingen vierzehn Tage; Jean, Ilka, Wladimir und der Doktor Hamine hatten einander sozusagen niemals verlassen. Der Arzt und zuweilen Herr Delaporte waren die einzigen, die ins Haus des Lehrers gekommen waren.

Wladimir hatte bisher noch kein Wort bezüglich der Heirat fallen lassen, sein Dableiben sprach ja genug für ihn. Auch Jean und Ilka hatten noch keines eine Andeutung davon geäußert. Meist verhielten sich der Bruder und die Schwester schweigend und blieben stundenlang allein in demselben Zimmer.

Da entschloß sich Wladimir endlich, der Zurückhaltung, die das junge Mädchen beobachtete, ein Ende zu machen.

»Ilka, begann er eines Tages mit tieferregter Stimme, als er mit ihr allein im Zimmer war, als ich Riga – es ist nun vier Jahre her – verließ, als ich von dir getrennt und nach Sibirien verwiesen wurde, da versprach ich dir, dich niemals zu vergessen. Sprich: habe ich mein Wort gehalten?

– Ganz gewiß, Wladimir.

– Ich habe dir beteuert, dich immer zu lieben. Haben sich meine Gefühle für dich verändert?

– Ebensowenig wie die meinigen für dich, Wladimir, und wenn ich die Erlaubnis dazu hätte erwirken können, wäre ich schon draußen zu dir gekommen und wäre dein Weib geworden...

– Die Gattin eines Verurteilten, Ilka!

– Nein, nur die eines Verbannten, Wladimir«, antwortete das junge Mädchen.

Wladimir empfand zwar die Unterscheidung, die sie in die Worte legte, er vermied es aber, näher darauf einzugehen.

»Jetzt, liebe Ilka, fuhr er fort, bist du aber nicht mehr genötigt, da hinaus zu kommen, um mein Weib zu werden. Die Verhältnisse haben sich geändert: jetzt bin ich gekommen, dein Gatte zu werden!

– Du hast recht, zu sagen, daß die Verhältnisse sich geändert haben, Wladimir... ach ja... doch in schrecklicher Weise.«

Sie sprach die letzten Worte mit einem so schmerzlichen Nachdruck, daß ihr ganzer Körper dabei erzitterte.

»Meine liebste Ilka, sagte Wladimir darauf, welch grausame Erinnerung es auch in dir wachrufen konnte, ich mußte mich gegen dich einmal aussprechen.[220]

Ich will dich nicht länger quälen. Ich kam nur, dich um Einlösung deiner Versprechungen zu bitten.

– Meiner Versprechungen, Wladimir, antwortete Ilka, die die Seufzer, welche ihre Brust erfüllten, nicht mehr zurückhalten konnte... meiner Versprechungen?... Ach, als ich dir diese gab, war ich dazu noch würdig, doch heute...

– Heute, Ilka, bist du würdig, sie zu halten.

– Nein, Wladimir, wir müssen die Pläne vergessen, die wir einst entworfen haben...

– Du weißt doch zu gut, daß ich sie nie vergessen werde. Wären sie nicht schon seit einigen Wochen verwirklicht worden, gehörten wir heute einander nicht unauflösbar an, ohne das Unglück, das sich am Vorabend unserer Verbindung ereignete?

– Ja freilich, antwortete Ilka resigniert, doch Gott sei gelobt, daß es noch nicht dazu gekommen war. Jetzt brauchst du es nicht zu bereuen, brauchst nicht zu erröten, in eine Familie eingetreten zu sein, über die so unsägliche Schmach und Schande gekommen ist!

– Ilka, erwiderte Wladimir ernst, ich würde es nimmer bereut haben, das schwör' ich dir, würde nie darüber errötet sein, als der Gatte Ilka Nicolefs dazustehen, an der ja kein Makel haftet.

– Nun ja, Wladimir... ich glaube deinen Worten, rief das junge Mädchen, der das Herz zu zerspringen drohte. Ich kenne den Edelmut deines Charakters. Du würdest es nicht bereut haben, würdest nicht um meinetwillen errötet sein. Du liebst mich von ganzem Herzen, doch nicht mehr als ich dich!

– Ilka, meine angebetete Ilka!« rief Wladimir, der ihre Hand erfassen wollte.

Ilka zog sie sanft zurück.

»Ja, wir lieben einander, antwortete sie. Unsere Liebe ist für uns das Glück, doch eine Verbindung zwischen uns ist jetzt unmöglich geworden.

– Unmöglich? wiederholte Wladimir. Darüber bin ich doch, muß ich doch der einzige Richter sein. Ich bin kein Kind mehr, Ilka! Mein Leben ist bis jetzt kein so leichtes, kein so glückliches gewesen, daß ich mich nicht daran gewöhnt hätte, reiflich zu überlegen, was ich tun will. Da ich dich liebe und da du mich wieder liebst, schien mir endlich das Glück zu winken. Ich hegte die Hoffnung, du werdest so viel Vertrauen zu mir haben, das für recht zu halten,[221] was ich für recht ansähe, und nicht über eine Sachlage urteilen, die du unmöglich richtig beurteilen kannst.

– Die ich beurteile, wie die Welt sie beurteilen wird, Wladimir!

– Was geht mich die Anschauung der Menschen an, die du die Welt nennst, liebe Ilka? Für mich bist du die Welt, nur du allein, so wie ich es doch auch für dich sein sollte. Wir verlassen diese Stadt, wenn du es wünschest. Jean begleitet uns, und wohin wir auch gehen, werden wir glücklich sein, das schwöre ich dir!... Ilka, meine geliebte Ilka, sage, daß du mein Weib werden willst!«

Wladimir sank vor ihr auf die Knie, er bat, er flehte sie an. Es schien aber, als ob Ilka noch mehr vor sich selbst schauderte, als sie ihn in dieser Lage sah.

»Steh' auf, stehe auf! bat sie ihn. Man kniet nicht vor der Tochter eines...«

Wladimir ließ sie nicht ausreden.

»Ilka, Ilka, rief er immer wieder, halb von Sinnen und die Augen voller Tränen, Ilka, werde mein Weib!

– Niemals, entgegnete sie traurig, niemals wird die Tochter eines Mörders die Gattin Wladimir Yanofs werden.«

Diese Szene hatte beide gebrochen. Ilka zog sich auf ihr Zimmer zurück Wladimir, der sich in seiner Verzweiflung nicht zu fassen vermochte, verließ das Haus, irrte ziellos durch die Straßen und auf dem Lande umher und flüchtete endlich zu dem Doktor Hamine.

Der Arzt erkannte sofort, daß es zwischen den beiden Verlobten zu einer Erklärung gekommen war, zwischen zwei Liebenden, die jetzt ein unüberbrückbarer, von den starren gesellschaftlichen Rücksichten gegrabener Abgrund trennte.

Wladimir schilderte ihm das Vorgefallene und wiederholte, wie er Ilka gebeten, ja angefleht habe, ihren Entschluß zu ändern.

»Ach, mein armer Wladimir, antwortete der Doktor Hamine, ich hatte es Ihnen ja gesagt... ich kenne doch Ilka schon lange, sie wird bei ihrem Entschlusse beharren.

– O, lieber Herr Doktor, rauben Sie mir nicht das letzte Restchen von Hoffnung, das ich mir bewahrt habe!... Sie wird sich meinen Bitten fügen!

– Niemals, Wladimir, bei ihrem so unbeugsamen Charakter. Sie fühlt sich entehrt, und wird nie Ihre Gattin werden, da sie die Tochter eines Mörders ist.[222]

– Wenn sie das aber am Ende doch nicht wäre, rief Wladimir. Wenn ihr Vater jenes Verbrechen doch nicht begangen hätte?«

Der Doktor Hamine wendete den Kopf ab, da er auf diese jetzt ja gelöste Frage nicht antworten konnte.

Wladimir raffte sich zusammen, so daß er alle Selbstbeherrschung wiedergewann, und erklärte fast feierlichen Tones, aus dem ein unverrückbar feststehender Entschluß herausklang:

»Ich habe Ihnen, lieber Doktor, hierüber nur noch eines zu erklären: ich betrachte Ilka als mein Weib vor den Augen Gottes, und ich werde warten...

– Warten? Worauf, Wladimir?

– Daß Gottes Hand noch eingreifen werde.«

Mehrere Monate vergingen ohne jede Veränderung der Sachlage. In den verschiedenen Bevölkerungsklassen der Stadt hatte man sich über den Vorfall allmählich beruhigt. Niemand sprach mehr davon. Die deutsche Partei hatte bei den städtischen Wahlen den Sieg davongetragen. Frank Johausen, der wieder gewählt worden war, gab sich den Anschein, als ob ihn die Familie Nicolef überhaupt nichts anginge.

Jean und Ilka erinnerten sich freilich der Schuldverschreibung, die ihr Vater dem Bankier ausgestellt hatte, und stimmten völlig darin überein, daß es ihre Pflicht sei, sein Andenken wenigstens von diesem Makel zu reinigen.

Das erforderte natürlich einige Zeit. Sie mußten das Wenige, was sie besaßen, zu Gelde machen, das väterliche Haus und die Büchersammlung des Lehrers und überhaupt alles verkaufen, was sich nur veräußern ließ. Wenn sie auch das Letzte opferten, was sie besaßen, reichte es vielleicht hin, die Ehrenschuld zu tilgen.

Was nachher geschehen sollte, würden sie ja sehen. Ilka konnte vielleicht Unterricht erteilen, wenn jemand ihr, wäre es auch in einer anderen Stadt, Vertrauen schenkte, und Jean könnte den Versuch machen, in einem Handelshause Stellung zu finden.

Zunächst galt es freilich, die nötigsten Lebensbedürfnisse zu decken. Ihre Hilfsquellen begannen zu versiegen. Die kleinen Ersparnisse, die Ilka von dem Verdienste ihres Vaters gemacht hatte, gingen von Tag zu Tag mehr zu Ende. Die Veräußerung all ihres Besitzes mußte also schnell erfolgen, und dann wollten Bruder und Schwester überlegen, ob sie in Riga blieben oder nicht.


 »Und der Mörder?...« fragte Jean. (S. 229.)
»Und der Mörder?...« fragte Jean. (S. 229.)

[223] Nach der bestimmten Absage des jungen Mädchens hatte Wladimir Yanof, schon aus Rücksichten des Anstandes, natürlich das Haus verlassen müssen. Er blieb aber in derselben Vorstadt und nur wenige Schritte davon entfernt wohnen und besuchte es ebenso fleißig, als wenn er noch selbst zu dem Hause des unglücklichen Lehrers gehört hätte. Hier ging er mit seinem Rate zur Hand, das kleine Besitztum vorteilhaft zu verkaufen, um die Gebrüder Johausen voll befriedigen zu können. Natürlich bot er dazu auch an, was ihm von dem väterlichen Erbteil übrig geblieben war. Ilka wollte aber nichts davon annehmen.[224]

In seiner Bewunderung dieser Seelengröße, dieses Adels des Charakters, die ihm das junge Mädchen noch begehrenswerter machten, bat er sie, ihrer Verehelichung zuzustimmen, nicht auf der Anschauung zu beharren, daß sie seiner unwürdig sei, und sich endlich dem Zureden der Freunde ihres Vaters zu fügen; doch nichts konnte er von ihr erreichen, nicht einmal eine Hoffnung auf die Zukunft... alles scheiterte an ihrem unveränderlichen Willen.

Der Doktor Hamine, der wiederholt Zeuge der Verzweiflung Wladimirs gewesen war, versuchte mehrmals, Ilka anderen Sinnes zu machen, es gelang ihm aber ebensowenig, wie den Bitten Wladimirs.

»Die Tochter eines Mörders, antwortete sie, kann nicht die Gattin eines ehrenwerten Mannes werden!«


Dieses Geld vergrub er am Fuße eines Baumes in dem Tannenwalde. (S. 230.)
Dieses Geld vergrub er am Fuße eines Baumes in dem Tannenwalde. (S. 230.)

In der Stadt waren diese Verhältnisse vielfach bekannt. Jeder bewunderte des Mädchens energische Natur, der von allen Seiten Anerkennung gezollt und tiefes Mitleid entgegengebracht wurde.

Nun verstrich längere Zeit, ohne daß die Lage der Dinge eine Veränderung erfuhr. Da traf am 17. September ein an Jean und Ilka Nicolef gerichteter Brief ein.

Das Schreiben rührte von dem Popen von Riga her, einem siebzigjährigen, von der gesamten orthodoxen Bevölkerung hochverehrten Greise, bei dem auch Ilka mehrmals den Seelentrost gesucht hatte, den allein die Religion zu bieten vermag.

Der Pope forderte die Geschwister auf, sich an demselben Tage in der fünften Nachmittagsstunde auf dem Rigaer Friedhof einzufinden.

Der Doktor Hamine und Wladimir Yanof, die eine gleichlautende Zuschrift erhalten hatten, begaben sich schon zeitig am Vormittage nach dem Hause Dimitri Nicolefs.

Jean wies ihnen den von dem Popen Axief unterzeichneten Brief vor.

»Was mag diese Einladung zu bedeuten haben, sagte er, und warum sollen wir uns alle gerade auf dem Friedhofe einfinden?«

Der Friedhof war derselbe, wo die sterblichen Überreste Dimitri Nicolefs beigesetzt worden waren, ohne daß sich die Geistlichkeit an dem stillen Begräbnis des Selbstmörders beteiligt hatte.

»Was meinen Sie, Herr Doktor? fragte Wladimir.

– Ich denke, wir müssen dahin gehen, wohin der Pope uns gerufen hat. Er ist ja ein ehrwürdiger, weiser und kluger Diener des Herrn, und wenn er[227] uns diese Einladung zugehen ließ, wird er schon seine ernsten Gründe dazu gehabt haben.

– Gehst du auch mit, Ilka? fragte Wladimir, indem er sich an das bisher stillschweigende junge Mädchen wendete.

– Ich habe schon mehrmals auf dem Grabe meines armen Vaters gebetet, antwortete Ilka. Ich werde mitkommen, und Gott möge uns erhören, wenn der Pope Axief seine Gebete mit den unsrigen vereinigt.

– Wir werden Punkt fünf Uhr auf dem Rigaer Friedhofe sein,« versprach der Doktor Hamine.

Darauf zog er sich mit Wladimir zurück.

Jean und Ilka trafen zur festgesetzten Stunde auf der Ruhestätte der Toten ein und fanden hier ihre Freunde, die sie schon an der Eingangspforte erwartet hatten. Alle begaben sich nun nach der Stelle, wo Dimitri Nicolef beerdigt war.

Auf dem Grabhügel kniend, betete der Pope für die Seele des Ünglücklichen.

Bei dem Geräusche sich nahender Schritte hob er den schönen, silberweißen Kopf und richtete sich in voller Höhe auf. Seine Augen leuchteten in außergewöhnlichem Glanze, und er streckte die Hände aus als Zeichen, daß die Geschwister, der Doktor Hamine und Wladimir sich nähern möchten.

Als Wladimir und Ilka jedes an einer Seite des schmucklosen Hügels standen, begann der Pope:

»Ihre Hand, Wladimir Yanof.«

Darauf wandte er sich an das junge Mädchen:

»Und Ihre Hand, Ilka Nicolef.«

Die beiden Hände legte er über dem Grabe ineinander. Die ruhige Kraft seines Blickes, der Ausdruck der Güte in seinen Zügen genügte dazu, daß Ilka ihre Hand in der Wladimirs ruhen ließ.

Dann sprach der Pope mit ernster Stimme die einfachen Worte:

»Wladimir Yanof und Ilka Nicolef, Ihr seid vor Gott dem Herrn verbunden.«

Das junge Mädchen war kaum Herrin ihrer Erregung, die sie antrieb, ihre Hand zurückzuziehen.

»Lassen Sie die Hand nur da, wo sie ist, sagte der Pope sanft, sie gehört dem, der Sie liebt...[228]

– Mich, rief Ilka stöhnend, mich, die Tochter eines Mörders?

– Nein, die eines Unschuldigen, den nicht einmal der Vorwurf des Selbstmordes trifft! antwortete der Pope, der beteuernd die Augen zum Himmel erhob.

– Und der Mörder?... fragte Jean.

– Ist der Inhaber des 'Umgebrochenen Kreuzes'... der Schenkwirt Kroff!«

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 214-225,227-229.
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