Achtes Kapitel.
An der Universität von Dorpat.

[109] Am 15. April, einen Tag nach Aufnahme des Tatbestandes im »Umgebrochenen Kreuze« durch die Polizeibeamten, spazierte eine Gruppe von fünf bis sechs jungen Studenten im Hofe der Universität von Dorpat umher. Die zwischen diesen gewechselten Fragen und Antworten erfolgten mit einer gewissen außergewöhnlichen Lebhaftigkeit. Der Sand des Erdbodens knirschte unter ihren hohen Stiefeln. Die Taille von einem festanliegenden Ledergürtel umschlossen und die Mützen mit leuchtenden Farben kokett nach dem Ohre zur Seite geschoben, so wandelten sie plaudernd hin und her.

Da sagte der eine:

»Was mich betrifft, so stehe ich für die Frische der Hechte, die auf den Tisch kommen sollen, ein; sie sind erst vergangene Nacht in der Embach gefangen worden. Die Strömlinge (roh marinierte, kleine und in Livland sehr geschätzte Fische) hat man den Fischern von Oesel, die sie geliefert haben, gerade teuer genug bezahlt, und wehe dem, der sie, natürlich mit einem Schluck Kümmel dazu, nicht für einen Leckerbissen erklärt!

– Nun... und du, Siegfried? fragte der älteste der Studenten.

– Ich, antwortete Siegfried, ich habe für das Wildbret gesorgt, und wer meine Hasel- und meine Waldhühner nicht vortrefflich findet, der, das sage ich euch, der bekommt es mit mir zu tun!

– Ich beanspruche aber den Preis für den rohen und den gebackenen Schinken, sowie für die 'Pourogens', ließ sich ein Dritter vernehmen, und ich will gleich tot zusammensinken, wenn einer schon jemals köstlichere Fleischkuchen geschmaust hat. Dir, lieber Karl, möcht' ich sie ganz besonders empfehlen.[109]

– Schön, erwiderte der Student, den sein Kamerad mit jenem Vornamen genannt hatte. Mit all diesen guten Dingen werden wir das Fest der Universität ja würdig feiern können, doch eines gehört dazu: daß es nicht durch die Anwesenheit der Slawo-Moskowito-Russen gestört werde...

– Nein, rief Siegfried, durch keinen von den Burschen, die jetzt anfangen, den Kopf recht hoch zu tragen...

– Und den wir ihnen schon gehörig ducken werden! versicherte Karl. Und sie mögen nur den behüten, den sie als Anführer hinstellen möchten, jenen Jean, den ich schon auf seinen Platz zurückzuweisen wissen werde, wenn er's noch immer wagen sollte, sich an den unsrigen zu stellen! An einem der nächsten Tage, das sehe ich voraus, werden wir schon noch mit ihm abzurechnen haben, ich möchte aber auf keinen Fall die Universität verlassen, ohne ihn gezwungen zu haben, sich vor den Germanen zu demütigen, die er so hoffärtig über die Achsel ansieht.

– Jawohl, ihn und seinen Intimus Gospodin, setzte Siegfried hinzu, während er die Faust nach dem Hintergrunde des Hofes ausstreckte.

– Gospodin ebenso wie alle übrigen, die sich uns gegenüber als die Herren aufzuspielen versuchen! rief Karl. Sie sollen's schon merken, ob man so leicht mit der germanischen Rasse fertig wird!... Slawe, das reimt sich auf Sklave, diese Reime fügen wir unserer livländischen Hymne an und werden sie singen lassen...

– Ja... nach dem Takte und in deutscher Sprache!« erwiderte Siegfried, während seine Kommilitonen ein kräftiges »Hoch« erschallen ließen.

Der Leser ersieht ja wohl aus dem Vorhergehenden, daß die jungen Leute zu einer bevorstehenden Festlichkeit alles bestens vorbereitet hatten, sie gedachten aber etwas noch Besseres zu tun, nämlich einen Streit, vielleicht gar einen Kampf mit den Studenten slawischer Abkunft hervorzurufen. Es waren eben händelsüchtige Geister, vorzüglich der als Karl bezeichnete junge Mann. Er übte schon durch seinen Familiennamen und seine Vermögensverhältnisse einen großen Einfluß auf seine Kameraden aus und es war ihm ein Leichtes, sie nach Belieben in einen Konflikt hineinzuhetzen.

Wer war denn nun dieser Karl, der eine anerkannte Oberherrschaft über den einen Teil der Universitätsjugend ausübte, dieser junge Mann von kühnem, aber rach- und streitsüchtigem Charakter? Groß von Wuchs, mit hellblondem Haar, streng blickenden Augen und etwas abstoßenden Gesichtszügen, zauderte[110] er nie, sich bei jeder Gelegenheit an die Spitze zu stellen. Karl war der Sohn des Bankiers Frank Johausen. Noch dieses Jahr sollte er seine Studien an der Hochschule abschließen. Nur noch wenige Monate, dann gedachte er wieder in Riga zu sein, wo ihm natürlich ein Platz im Hause seines Vaters und seines Onkels vorbehalten war.

Und wer war jener Jean, in bezug auf den Siegfried und er ihre Drohungen nicht gespart hatten? Man hat wohl bereits erraten, daß das der Sohn Dimitri Nicolefs, des Privatlehrers von Riga, war, der auf seinen Stammverwandten Gospodin ebenso zählen konnte, wie Karl auf seinen Kameraden Siegfried.

Der Ursprung Dorpats, einer alten Hansastadt, wird dem russischen Großfürsten Jaroslaw I. zugeschrieben, manche Geschichtsschreiber wollen deren Gründung jedoch noch weiter zurück, und zwar auf das berüchtigte Jahr 1000 verlegen, mit dem das Ende der Welt kommen sollte. Herrscht also über den Zeitraum, seit welchem die Stadt, eine der hübschesten Livlands, schon besteht, einige Unsicherheit, so ist das nicht der Fall bezüglich ihrer berühmten Universität, die von Gustav Adolf 1632 gegründet und 1812 in der Weise reorganisiert wurde, wie sie noch besteht. Nach dem Urteile mancher Reisenden könnte man Dorpat für eine Stadt des alten Griechenland halten, und es scheint in der Tat so, als ob viele ihrer Häuser aus der Hauptstadt des früheren Königs Otto unmittelbar hierher versetzt worden wären.

Dorpat ist weniger eine Stadt des Handels als eine solche der Wissenschaften, dank ihrer Universität, deren Besucher in Körperschaften oder vielmehr in »Nationen« vereinigt sind, die durch das feste Band der Landsmannschaft zusammengehalten werden. Aus dem Vorhergehenden hat man schon erkennen können, daß zwischen dem slawischen und dem germanischen Element hier dieselbe Gereiztheit herrschte, wie unter der Bevölkerung der anderen Städte Esthlands, Livlands und Kurlands. Von wirklicher Ruhe kann in Dorpat eigentlich nur in den Universitätsferien die Rede sein, wenn die Studierenden während der unerträglichen Hitze der Hundstage zu ihren Familien heimgekehrt sind.

Ihre beträchtliche Anzahl – jener Zeit gegen neunhundert – beschäftigt ein Personal von zweiundsiebzig Professoren für die verschiedenen Zweige der Wissenschaften. Die Vorträge werden in deutscher Sprache abgehalten und es ist dafür der nicht geringe Jahresbetrag von zweihundertvierunddreißigtausend Rubeln ausgeworfen. Fast ebensoviele Bände umfaßt die reichhaltige Universitätsbibliothek, eine der wichtigsten und bestverwalteten Europas.[111]

Dorpat ist indes nicht ohne allen Handelsverkehr, schon infolge seiner Lage an der Kreuzung der wichtigsten Landstraßen der baltischen Provinzen, gegen zweihundert Kilometer von Riga und, in der Luftlinie, nur etwa dreihundert Kilometer von Petersburg. Dazu kommt noch, daß es ja früher eine der blühendsten Städte der Hansa gewesen ist. Zwar nur wenig entwickelt, liegt sein gesamter Handel doch in deutschen Händen. Die eigentliche, einheimische Bevölkerung, die Esthen, findet man nur als Lohnarbeiter, Handwerker oder als Dienstboten.

Dorpat ist malerisch auf einem Hügel erbaut, der im Süden den Lauf der Embach beherrscht. Die einzelnen Stadtteile sind durch lange Straßenzüge verbunden. Lustreisende besuchen ohne Ausnahme seine Sternwarte, seine im griechischen Stile gehaltene Kathedrale, sowie die Ruinen einer Spitzbogenkirche, und niemals scheiden sie gern aus den Alleen des allgemein gepriesenen Botanischen Gartens.

Ganz so wie das germanische Element jener Zeit unter der Einwohnerschaft Dorpats beiweitem überwog, war es auch unter den Universitätsbesuchern in großer Mehrzahl vertreten. Unter den neunhundert Studierenden gab es nur gegen fünfzig von slawischer Abkunft.

Unter diesen nahm nun Jean Nicolef eine bevorzugte Stellung ein. Seine Kameraden betrachteten ihn, wenn auch nicht gerade als Präsidenten, so doch als den Wortführer bei allen Streitigkeiten, die die Klugheit des Rektors und seine Neigung, vermittelnd einzugreifen, doch nicht immer zu verhüten vermochten.

Während nun heute Karl Johausen mit einigen Freunden auf dem Hofe hin und her ging, wobei diese, wir wissen in welcher Weise, sich über die Möglichkeiten einer Störung ihres Festes aussprachen, unterhielt sich eine andere Gruppe von Studenten, die nicht nur von Geburt, sondern auch mit Herz und Sinn Moskowiter waren, sich bei Seite haltend, über denselben Gegenstand.

Einer davon, der etwa achtzehn Jahre alt und für sein Alter recht kräftig und von übermittlerer Größe war, hatte einen freien, offenen Blick, ein hübsches Gesicht und auf den Wangen einen eben aufsprossenden Bart, während seine Oberlippe schon von einem seinen Schnurrbart bedeckt war. Beim ersten Blicke machte dieser junge Mann schon einen angenehm fesselnden Eindruck, trotz seines ernsten Gesichtsausdruckes, der den eifrigen Studenten, welcher seine Zukunft im Auge hatte, untrüglich erkennen ließ.


Gospodin überließ sich seiner aufbrausenden Hitze. (S. 114.)
Gospodin überließ sich seiner aufbrausenden Hitze. (S. 114.)

Jean Nicolef vollendete eben sein zweites Jahr an der Universität. Man hätte ihn schon an der auffallenden Ähnlichkeit mit seiner Schwester Ilka erkannt. Beide waren ernste, überlegende Naturen von tiefem Pflichtgefühl, das bei dem jungen Manne vielleicht[112] gar zu sehr entwickelt war. Das erklärte es aber, daß er durch den Eifer, womit er seine slawischen Ideen verfocht, auf seine Kameraden eine gewisse Macht ausübte.

Sein Kamerad Gospodin entstammte einer reichen esthnischen Familie in Reval. Obwohl er ein Jahr älter war als Jean Nicolef, zeigte er sich in[113] seinen Handlungen doch weniger ernst. Im übrigen eine Persönlichkeit mit mehr Neigung zum Angriff als zur Abwehr, etwas vergnügungssüchtig und Liebhaber von Sportübungen; doch begabt mit vortrefflichem Herzen, gehörte er zu denen, auf die Jean rechnen konnte, denn er empfand für diesen eine aufrichtige Freundschaft, die ihn zu jedem Opfer befähigte.

Wovon hätten die jungen Leute miteinander sprechen sollen, wenn nicht von den Vorbereitungen zu jener Festlichkeit, die alle Korporationen der Universität so tief erregte?

Wie gewöhnlich überließ sich Gospodin schon seiner aufbrausenden Hitze, seinem Ungestüm, das Jean sich vergeblich zu bemeistern bemühte.

»Jawohl, rief er, sie haben sich verschworen, uns von ihrem Festmahl auszuschließen, die hochnasigen Deutschen! Unsere Beiträge haben sie abgelehnt, damit wir nicht berechtigt wären, daran teilzunehmen! Sie tun, als müßten sie sich schämen, mit uns anzustoßen!... Nun, es wird sich ja alles finden, vielleicht geht ihr Schmaus noch vor dem Nachtisch zu Ende!

– Ja, ein unwürdiges Verhalten, das geb' ich zu, antwortete Jean, doch ist das der Mühe wert, etwa gar Streit zu suchen? Sie bestehen darauf, für sich zu tafeln, lass' sie das also! Wir veranstalten einfach für uns eine Feier, und werden dabei unsere Becher zu Ehren der Hochschule nicht weniger fröhlich leeren!«

Das wollte dem ungestümen Gospodin freilich nicht in den Sinn. Die Sache hinzunehmen, wie sie eben lag, das wäre ein schimpflicher Rückzug, und er erhitzte sich durch die eigenen Worte nur noch weiter.

»Hast ja recht, Jean, erwiderte er, du bist einmal der verkörperte gesunde Menschenverstand, und es bezweifelt auch keiner, daß du nicht ebensoviel Mut wie Verstand hättest. Ich aber, ich bin einmal nicht so grundvernünftig und mag's auch gar nicht sein! Meiner Ansicht nach ist das Benehmen Karl Johausens und seiner Mitläufer gegen uns eine Beleidigung, und das ertrag' ich nicht lange!

– Laß doch den Karl, diesen Deutschen, in Ruhe, Gospodin, antwortete Jean Nicolef ermahnend, und rege dich weder über seine Handlungen noch über seine Worte auf. Binnen wenigen Monaten werdet ihr beide die Universität verlassen haben, und es ist doch sehr unwahrscheinlich, daß ihr euch im Leben jemals wieder begegnen solltet, wenigstens nicht unter Verhältnissen, bei denen die Frage nach der Abkunft und der Rasse eine Rolle spielte...

– Das ist wohl möglich, weiser Nestor, entgegnete Gospodin, und es ist auch schön, so sehr Herr über sich zu sein, wie du. Ich würde aber untröstlich[114] sein, von hier fortzugehen, ohne dem Karl Johausen noch die Lektion erteilt zu haben, die er mit Recht verdient!

– Nun wohl, sagte Jean Nicolef, setzen wir uns aber wenigstens heute nicht zuerst dadurch ins Unrecht, daß wir ihn grundlos herausfordern.

– Grundlos? rief der aufgebrachte junge Mann. Ich habe tausend und abertausend Gründe dazu: sein Gesicht, das mich verfolgt, sein Auftreten, das mich verletzt, der Ton seiner Stimme, der mir mißfällt, sein verächtlicher Blick, die Überhebung, die er zur Schau trägt und in der seine Kommilitonen ihn bestärken, indem sie ihn stillschweigend als ihren Führer, ihren Vorsitzenden anerkennen!

– Alles das ist nicht von Bedeutung, Gospodin, widersprach ihm Jean Nicolef, der wie zur Beschwichtigung den Arm seines Freundes ergriff. Solange keine unmittelbare Beleidigung erfolgt, sehe ich in alledem keine Veranlassung zu einer Herausforderung. Ja, wenn er sich zu einer solchen verleiten ließe, dann lieber Freund, würde ich nicht erst warten, bis ein anderer darauf antwortete, das kannst du glauben!

– Und uns würdest du an deiner Seite finden, Jean, versicherten die anderen jungen Leute der Gruppe.

– Das weiß ich, antwortete der unbeugsame Gospodin. Ich wundere mich nur darüber, daß Jean nicht bemerken sollte, daß jener Karl es besonders auf ihn abgesehen hat.

– Was willst du damit sagen, Gospodin?

– Nichts anderes als: wenn wir andern mit diesen Deutschen nur sozusagen Schulreibereien auszutragen haben, so liegt die Sache zwischen Jean Nicolef und Karl Johausen doch wesentlich anders!«

Jean verstand, worauf Gospodin anspielte. Der Wettstreit zwischen der Partei Johausens und der Nicolefs in Riga war auch den Besuchern der Universität nicht unbekannt geblieben. Alle wußten, daß die Häupter beider Familien in dem Rassenkampfe, der wegen der städtischen Wahlen bald ausbrechen mußte, einander gegenüberstanden, wobei der eine von der öffentlichen Meinung auf den Schild erhoben war und von der Verwaltungsbehörde unterstützt wurde, um den Gegner zu besiegen. Gospodin tat gewiß unrecht daran, diese persönlichen Verhältnisse seines Kameraden zu berühren, um den Wettbewerb der Väter auch auf deren Söhne auszudehnen. Wenn der Ingrimm aber einmal in ihm erwacht war, ließ er sich davon fortreißen und schoß leicht über jedes Ziel hinaus.[115]

Jean hatte jedoch keine Silbe geantwortet. Er erblaßte nur, als wenn ihm das Blut zum Herzen zurückgeflutet wäre, doch blieb ihm Kraft genug, sich zu bezwingen, und er warf nur einen grimmigen Blick nach dem anderen Teile des Hofes, wo die Gesellschaft Karl Johausens paradierte.

»Davon laß uns schweigen, Gospodin, sagte er mit ernster, leicht zitternder Stimme. Ich habe bei unserem Gespräch den Namen des Herrn Johausen niemals erwähnt, und Gott gebe, daß Karl sich bezüglich meines Vaters ebenso taktvoll zurückhaltend erwiesen habe, wie ich mich bezüglich des seinigen! Wenn er das freilich außer acht ließe...

– Jawohl, Jean hat recht, erklärte einer der anderen Studenten, und Gospodin hat unrecht! Uns kommt es nicht zu, uns mit dem, was in Riga vorgeht, zu beschäftigen, sondern nur mit dem, was in Dorpat geschieht.

– Sehr richtig, stimmte ihm Jean Nicolef zu, der das Gespräch wieder auf das ursprüngliche Thema zurückzulenken wünschte. Mindestens wollen wir uns vor jeder Übertreibung hüten und zusehen, welchen Lauf die Dinge nehmen werden.

– Du meinst also, Jean, fragte der Student, wir sollen keinen Einspruch erheben gegen das Verhalten Karl Johausens und seiner Kameraden, die uns von der heutigen Festlichkeit ausgeschlossen haben?...

– Meiner Ansicht nach tun wir, wenn keine besonderen Zwischenfälle eintreten, am besten, der Sachlage gegenüber die möglichste Gleichgültigkeit zu bewahren.

– Oho... Gleichgültigkeit! antwortete Gospodin, der abwehrend den Kopf schüttelte. Erst wollen wir einmal sehen, ob auch unsere Kameraden damit einverstanden sind. Ich denke aber, sie werden wütend werden, Jean, das sage ich dir im voraus...

– Wenn du sie aufwiegelst, Gospodin.

– Nein, Jean; jedenfalls genügt schon ein verächtlicher Blick, ein unbedachtes, aufreizendes Wort, den Funken ins Pulverfaß zu werfen.

– Na, schön! rief Jean Nicolef lächelnd. Das Pulver wird aber nicht explodieren, lieber Freund, denn wir werden Sorge tragen, es mit Champagner feucht zu halten!«

Es war die gesunde Vernunft, die dem weisesten der jungen Brauseköpfe diese Antwort eingab. Den anderen stieg freilich schon das Blut zu Kopfe, und es war unentschieden, ob sie einem verständigen Rate noch folgen würden, ebenso,[116] welcher Ausgang dem heutigen Tage beschieden sein werde. Gerade die Festfeier konnte ja noch Veranlassung zu ernsten Reibereien geben, und wenn diese nicht von slawischer Seite ausging, dann geschah es vielleicht von deutscher Seite. Jedenfalls lag eine solche Befürchtung nahe.

Kein Wunder, daß sich bei dieser Lage der Dinge auch der Rektor der Universität ernstlich beunruhigt fühlte, wußte er doch recht gut, daß politische oder wenigstens Rassenstreitigkeiten zwischen Slawen und Germanen unter den Studenten jeden Augenblick auszubrechen drohten. Die große Mehrheit trat dafür ein, die Universität den alten Überlieferungen getreu zu erhalten, die sie von ihrer Gründung an bewahrt hatte. Die Regierung wußte gar wohl, daß ihr bei allen Versuchen zur Russifizierung, die den baltischen Provinzen bevorstand, ein ernsthafter Widerstand entgegengesetzt werden würde, und welche Folgen aus den damit ohne Zweifel einhergehenden Wirren und Unruhen entstehen könnten, das konnte niemand vorhersagen. Hier galt es also, vorsichtig zu sein. Trotz des ehrwürdigen Alters der Dorpater Universität war diese aber doch nicht gegen einen kaiserlichen Ukas gefeit, wenn sie sich zum Mittelpunkte des Widerstandes und der Agitation gegen die pauslawistische Bewegung ausbildete. Der Rektor achtete deshalb genau auf die Stimmung unter der Studentenschaft. Die Professoren sorgten sich, obwohl sie im Grunde auf deutscher Seite standen, darum auch nicht wenig, denn niemand konnte ja wissen, wie weit sich die leichtentzündliche Jugend hinreißen lassen würde, wenn es sich um politische Streitigkeiten handelte.

Heute hatte jedenfalls einer mehr Einfluß als der Rektor: das war Jean Nicoles.

Hatte es der Rektor nicht durchsetzen können, daß Karl Johausen und seine Anhänger darauf verzichteten, Nicolef und dessen Freunde von dem Bankett auszuschließen, so vermochte dieser wenigstens, Gospodin und die anderen zu bestimmen, daß sie die Festlichkeit nicht stören würden. Jedenfalls sollte keiner etwa in den Saal einzudringen suchen, und ebensowenig wollte man deutsche Lieder mit russischen Gesängen beantworten... natürlich unter dem Vorbehalt, nicht ganz besonders herausgefordert zu werden. Wer konnte aber für die, vielleicht durch Wein erhitzten Gemüter einstehen? Jean Nicolef und seine Kameraden wollten sich draußen im Freien versammeln, das Jubelfest nach ihrer Art zu feiern und sie wollten sich ruhig verhalten, wenn es niemand unternahm, ihre Ruhe zu stören.[117]

Inzwischen verstrichen mehrere Stunden. Auf dem großen Hofe der Universität sammelten sich immer mehr Studenten an. Die Vorträge waren für diesen Tag ausgesetzt, so daß die jungen Leute nichts anderes zu tun hatten, als gruppenweise umherzuwandeln, einander scharf zu beobachten oder auch auszuweichen. Immer war zu befürchten, daß ein Zwischenfall noch vor der Stunde des Banketts eine Reiberei und daraus einen allgemein aufflammenden Streit hervorrufen könnte. Vielleicht wäre es besser gewesen, die geplante festliche Veranstaltung von vornherein zu untersagen, anderseits aber hätte ein solches Verbot die Korporationen wahrscheinlich nur destomehr erregt und den Vorwand zu Unruhen geliefert, die man ja gerade verhüten wollte. Eine Universität ist nun einmal keine Kinderschule, wo man sich mit Nachsitzenlassen und Strafarbeiten helfen kann. Hier hätte man zur Ausschließung, zur Relegierung der Rädelsführer greifen müssen, und das wäre doch eine vielleicht gar zu ernste Maßregel gewesen.

Bis zur Stunde des Banketts – vier Uhr Nachmittag – wichen Karl Johausen, Siegfried und ihre Freunde nicht vom Hofe. Die meisten Studenten wechselten einige Worte mit ihnen, so als wollten sie sich von ihnen Verhaltungsvorschriften holen. Auch schwirrte das Gerücht umher, das Bankett sei verboten, übrigens ein unbegründetes Gerücht, denn ein solches Verbot hätte, wie schon erwähnt, den Ausbruch von Feindseligkeiten eher noch beschleunigen müssen. Immerhin hatte es schon genügt, die Ansammlung der Studenten zu verstärken.

Jean Nicolef und seine Kameraden ließen sich durch diese Lage der Dinge nicht weiter erregen. Sie lustwandelten mehr auf einer Seite, wie sie das von jeher gewohnt waren, und kreuzten dabei nur gelegentlich andere Gruppen von Studenten.

Man fixierte dann einander. Die Blicke vermittelten Herausforderungen, die vorläufig noch nicht über die Lippen kamen. Jean selbst blieb ruhig und zeigte eine unerschütterte Gleichgültigkeit, dagegen kostete es ihm die größte Mühe, Gospodin im Zaume zu halten. Dieser wendete, nicht einmal als Zeichen der Mißachtung, nie den Kopf von den anderen ab und schlug auch nicht die Augen nieder. Spitz wie eine Degenklinge bohrte sich sein Blick in die Augen Karl Johausens. Schon diese Haltung genügte ja fast allein, einen Wortwechsel zu veranlassen, der dann jedenfalls nicht auf die beiden Gegner beschränkt geblieben wäre.

Endlich läutete es als Zeichen zum Beginn des Banketts. Karl Johausen begab sich, seinen Kameraden – mehreren Hunderten an Zahl – vorausgehend,[118] nach dem großen Saale des Amphitheaters der Universität, der zu der Feier bewilligt worden war.

Bald befanden sich auf dem Hofe davor nur noch Jean Nicolef, Gospodin und etwa fünfzig slawische Studenten, die nur darauf warteten, das Gebiet der Universität zu verlassen, um zu ihren Familien oder zu Bekannten zurückzukehren.

Da sie nichts zurückhielt, hätten sie wohl am besten getan, jetzt sofort aufzubrechen. Das war auch die Ansicht Jean Nicolefs, doch versuchte er vergeblich auch seine Kameraden dazu zu bekehren. Es schien fast, als wären Gospodin und einige andere hier im Boden festgewurzelt, als würden sie von dem Amphitheater wie von einem Magneten angezogen.

So vergingen zwanzig Minuten. Alle gingen stillschweigend hin und her und näherten sich nur gelegentlich den nach dem Hofe zu liegenden Fenstern des Saales zwar halb unbewußt, dennoch vielleicht, um die lauten Reden darin zu vernehmen und auf verletzende Anspielungen zu antworten, wenn ihnen solche zu Gehör kämen.

Die Teilnehmer am Festmahle begannen in der Tat schon bald, Gesänge und Toaste »steigen« zu lassen. Die Köpfe waren nach Leerung der ersten Gläser wärmer geworden. Durch die Fenster hatten die jungen Leute Jean Nicolef und die anderen so nahe gesehen, daß diese mußten verstehen können, was im Saale gesprochen wurde, und dabei blieben persönliche Häkeleien nicht lange aus.

Nicolef bemühte sich noch einmal, seinen Freunden gut zuzureden.

»Kommt... wir wollen gehen, sagte er.

– Nein! erwiderte Gospodin.

– Nein... jetzt erst recht nicht! riefen die anderen.

– Ihr wollt nicht auf mich hören, nicht mit mir kommen?..

– Wir wollen bören, was die Deutschen da drin sich zu sagen unterstehen, und wenn uns das nicht paßt, so wirst du, Jean, es sein, der sich uns anschließt!

– Komm, Gospodin, wiederholte Jean, komm... ich will es!

– Warte nur noch ein wenig, antwortete Gospodin, in wenigen Minuten wirst du es nicht mehr wollen!«

Im Saale wurde es immer lauter, viele Stimmen schwirrten durcheinander, dazu das Anstoßen mit den Gläsern neben Ausrufen und Hochs, daß es wie Musketenfeuer schmetterte. Dann wurde ein gemeinsames Lied angestimmt, der auf allen deutschen Universitäten so beliebte Burschensang:
[119]

Gaudeamus igitur,

Juvenes dum sumus;

Post jucundam juventutem,

Post molestam senectutem

Nos habebit humus!


Man wird zugeben, diese Worte sind nicht gerade herzerhebend, man könnte sie nach der Melodie einer Begräbnishymne, oder zum Nachtisch ebensogut De profundis absingen! So urteilt man wenigstens teilweise im Auslande, in Deutschland wird das alte Lied auch weiter in Ehren gehalten werden.

Da ertönte plötzlich eine andere Stimme.

»O Riga, wer hat dich so schön gestaltet?... Das Sklaventum der Livländer? Könnten wir doch einst dein Schloß den Deutschen abkaufen und diese auf glühenden Steinen tanzen lassen!«

Gospodin war es, der diese russische Hymne mit vollem Brustton gesungen hatte.

Dann ließen seine Kameraden nach und mit ihm die Töne des Bojni »Sara-Krani«, der tief religiösen moskowitischen Hymne, erschallen.

Plötzlich flog die Tür des Festsaales auf; reichlich hundert Studenten stürmten auf den Hof hinaus. Sie umringten die Gruppe der Slawen mit Jean Nicolef in deren Mitte, der die Herrschaft über seine Kameraden völlig verloren hatte, seit diese durch die Rufe und das Verhalten ihrer Gegner auch in Hitze geraten waren. Obgleich Karl Johausen nicht unter ihnen war – er befand sich noch im Amphitheater – um sie zu Gewalttätigkeiten anzufeuern, genügte doch das überlaut gesungene, fast gebrüllte Gaudeamus igitur, die durchdringende Melodie der russischen Hymne beinahe zu ersticken.

In dieser Minute standen zwei Studenten Auge in Auge einander gegenüber, offenbar bereit, sich einer auf den anderen zu stürzen... Siegfried und Gospodin. Sollte der Rassenkampf allein zwischen ihnen ausgefochten werden? Würden sich nicht beide Parteien zugunsten ihrer Vertreter einmischen und der Streit zu einem allgemeinen Handgemenge ausarten, für den die Verantwortlichkeit zuletzt doch auf der Universität selbst lasten bliebe?

In Voraussicht des Tumultes, der durch das Herausströmen der Bankettteilnehmer veranlaßt werden mußte, beeilte sich der Rektor, beschwichtigend einzugreifen.


Siegfried, ein Glas in der Hand, schüttete ihm den Inhalt mitten ins Gesicht. (S 123.)
Siegfried, ein Glas in der Hand, schüttete ihm den Inhalt mitten ins Gesicht. (S 123.)

Einige Professoren, die sich ihm angeschlossen hatten, gingen auf dem Hofe von einer Gruppe zur anderen. Sie bemühten sich, die jungen Leute, die schon handgemein zu werden drohten, wieder zu beruhigen... freilich ohne besondernErfolg. Die Autorität des Rektors wurde nicht weiter beachtet. Was konnte er auch ausrichten inmitten dieses Germanenhausens, der immer mehr anschwoll, je mehr sich der Saal des Amphitheaters entleerte!

Trotz ihrer bedeutenden Minderzahl wichen Jean Nicolef und seine Kameraden doch weder vor Drohungen noch vor Beleidigungen von der Stelle.

Da trat Siegfried, ein Glas in der Hand, näher an Gospodin heran und schüttete ihm den Inhalt mitten ins Gesicht.

Das war der erste Schlag, dem vielleicht tausend andere folgen sollten.

Als da aber Karl Johausen auf den zum Saale führenden Stufen sichtbar wurde, hielten beide Parteien doch noch einmal inne. Die Menge wich auseinander, und der Sohn des Bankiers konnte bis zu der Gruppe gelangen, unter der sich der Sohn des Privatlehrers befand.

Wie Karl Johausen in diesem Augenblicke auftrat, läßt sich schwer beschreiben. Er erschien äußerlich ruhig. Was aus seinen Zügen sprach, war nicht verhaltene Wut, sondern eher Hochmut, gepaart mit Geringschätzung, als er seinem Feinde gegenübertrat. Über Karls Absicht konnten sich seine Kameraden nicht täuschen: er näherte sich dem anderen nur, um ihm eine neue Beleidigung ins Gesicht zu schleudern.

Dem früheren Lärm war eine unheimliche Stille gefolgt. Es lag so etwas in der Luft, als ob der Streitfall, der die Korporationen der Universität eine auf die andere hetzte, zwischen Jean Nicolef und Karl Johausen ausgetragen werden sollte.

Gospodin aber, der an Siegfried schon gar nicht mehr dachte, wartete nur, bis Karl einige Schritte näher gekommen war, und machte dann eine Bewegung, ihm den Weg zu versperren.

Jean hielt ihn jedoch zurück.

»Die Sache geht mich an!« sagte dieser gelassen.

Im Grunde hatte er ja recht damit, zu erklären, daß das, was nun kommen sollte, ihn und ihn allein betraf. Kaltblütig drängte er die Hände derer zurück, die Miene machten, sich einzumischen.

»Du wirst mich nicht zurückhalten... rief Gospodin, jetzt vor Wut außer sich.

– Ich will es aber!« entgegnete ihm Jean Nicolef so bestimmten Tones, daß der andere sich wohl oder übel fügen mußte.

Dann wendete er sich an die Gesamtheit der Studenten.[123]

»Ihr seid Hunderte, begann er, so laut, daß ihn jeder verstehen mußte, wir dagegen kaum fünfzig!... Fallt doch über uns her... wir werden uns verteidigen und werden unterliegen! Ihr aber hättet keinen ehrenhaften Sieg erfochten!«

Ein Wutgeschrei antwortete ihm.

Johausen gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß er sprechen wolle.

Wieder wurde es still.

»Jawohl, rief er, der Kampf wäre zu ungleich!... Findet sich unter euch Slawen einer, der die Sache auf seine Rechnung nehmen will?

– Wir alle... wir alle!« erklärten die Kameraden Nicolefs.

Da trat dieser selbst hervor.

»Ich... ich nehme es selbst auf mich, und wenn Karl Johausen provoziert sein will, so nehme er das dafür hin...

– Du? rief Karl mit einer verächtlichen Bewegung.

– Ja... ich! antwortete Jean. Wähle dir zwei Sekundanten, ich habe meine Wahl schon getroffen.

– Du... du willst dich mit mir schlagen?

– Gewiß... morgen, wenn du nicht heute dazu bereit bist. Jetzt, diesen Augenblick, wenn du es willst!«

Unter den Studenten sind ja solche Zweikämpfe keine Seltenheiten, und es ist gut, daß die Universitäts- und die Staatsbehörden darüber ein Auge zudrücken, denn es kommt bei den Fechtereien gewöhnlich nicht viel heraus. Im vorliegenden Falle konnte man freilich einen ernsteren Ausgang befürchten, denn die Duellanten würden sich dabei besonders gereizt gegenüberstehen.

Karl hatte die Arme gekreuzt und sah Jean vom Kopf bis zu den Füßen an.

»Ah, du hast deine Sekundanten also schon gewählt? sagte er höhnisch.

– Hier sind sie, antwortete Jean, und wies auf Gospodin und einen zweiten Studenten.

– Und du glaubst, daß sie der Wahl zustimmen?

– Das versteht sich von selbst! antwortete Gospodin ohne Zögern.

– Mag sein, antwortete Karl Johausen; ich habe aber Veranlassung, der ganzen Sache nicht zuzustimmen, Jean Nicolef, das heißt, mich mit dir nicht zu schlagen.

– Und warum dieser neue Schimpf?

– Weil man sich nicht mit dem Sohn eines Mörders schlägt!«[124]

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 109-121,123-125.
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