Neuntes Kapitel.
Denunziation.

[125] Hier mögen die Vorgänge geschildert werden, die sich am Tage vorher in Riga abgespielt hatten, wohin der Richter Kerstorf, der Major Verder, der Doktor Hamine und Herr Frank Johausen in der Nacht vom 15. zum 16. April zurückgekehrt waren.

Schon zwölf Stunden vorher, noch am Morgen, hatte sich die Nachricht von dem im »Umgebrochenen Kreuze« verübten Verbrechen im Fluge verbreitet. Gleichzeitig damit erfuhr man auch den Namen des beklagenswerten Opfers, Pochs, des Beamten der Bank.

Dieser Unglückliche war in der ganzen Stadt bekannt. Tag für Tag begegnete man ihm ja bisher, eine Geldtasche über der Schulter und unter dem Arme eine Mappe, die von einer an seinem Gürtel befestigten Stahlkette gehalten wurde, wenn er auf dem Wege war, Außenstände für die Firma Johausen einzuziehen. Ein guter, gefälliger Mann von liebenswürdigem Gemüt, hatte er den jeder achtete, überall nur Freunde, aber keinen Feind. Jetzt, wo er nach so langem Warten im Begriffe stand, Zenaïde Parenzof zu heiraten, erlaubten ihm seine Verhältnisse, dank seiner Arbeitsamkeit, seinem Verhalten, der Regelmäßigkeit seiner Lebensführung und dem Wohlwollen seiner Chefs, sich endlich für die Zukunft häuslich einzurichten, wenn er seine Ersparnisse und Einnahmen mit denen seiner späteren Gattin vereinigte. Am übernächsten Tage hatten die Verlobten vor den protestantischen Pastor treten wollen, der ihren Bund segnen sollte. Darauf war eine Feier in der Familie geplant, wozu die Kollegen von anderen Banken ihr Erscheinen zugesagt hatten, um sich an der fröhlichen, weltlichen Besiegelung des Ehebundes zu beteiligen. Man bezweifelte auch nicht, daß die Gebrüder Johausen das anspruchslose Fest mit ihrer Gegenwart beehren würden. Die Vorbereitungen dazu waren schon begonnen, ja zum Teil schon beendigt. Gerade da mußte nun Poch in einem vereinsamt gelegenen Gasthause an einer Landstraße Livlands einer ruchlosen Mörderhand erliegen! Das Aufsehen, das dieser Vorfall machte, kann man sich wohl denken.[125]

Offenbar war es auch nicht zu verhindern, daß Zenaïde plötzlich, ohne jede Vorbereitung davon erfuhr, da sie eine Zeitung las, die die Depesche, doch keine Einzelheiten über den traurigen Fall brachte. Die Unglückliche war wie vom Blitz getroffen. Sehr bald erschienen ihre Nachbarn und dann auch Frau Johausen bei ihr, um sie zu trösten und ihre Hilfe anzubieten. Vielleicht erholte sich die Ärmste überhaupt nicht wieder von diesem furchtbaren Schicksalsschlage.

Wenn man aber das Opfer kannte, so hatte doch noch niemand eine Ahnung, wer dessen Mörder wäre. Im Laufe der beiden Tage, des 14. und des 15., wo der Richter sich mit den anderen Herren nach dem Orte der Tat begeben hatte, um den Vorfall zu untersuchen, war in dieser Beziehung noch nichts in die Öffentlichkeit gedrungen. Dazu mußte man die Rückkehr der Genannten abwarten, und vielleicht hatten auch sie noch nichts von dem Urheber des Verbrechens entdeckt.

Den Mörder, wer das auch sein mochte, traf die Verdammung, der Fluch der gesamten Einwohnerschaft. Niemand erschien es genug, ihn nach aller Strenge des Gesetzes zu bestrafen. Man bedauerte wirklich, daß es nicht mehr die Zeit wäre, wo eine Hinrichtung erst nach den schrecklichsten Folterqualen vollzogen wurde. Hierbei darf man nicht vergessen, daß dieses Schauerdrama in den baltischen Provinzen spielte, wo die Justiz gegen die zum Tode Verurteilten noch vor nicht zu langer Zeit mit unerhörter Grausamkeit auftrat. Man zwickte sie da erst mit glühender Zange und marterte sie mit Stockschlägen, zuweilen mit tausend, ja sogar mit sechstausend wuchtigen Hieben, die dann freilich nur noch einen Leichnam trafen. Man schloß Verbrecher wohl auch zwischen vier Mauern ein, wo sie elend verhungern mußten, wenn es nicht nur auf eine gewisse Zeit geschah, um von ihnen ein Geständnis zu erpressen. Dann ernährte man sie ausschließlich mit Salzfleisch und Fisch, ohne ihnen einen Tropfen Wasser zukommen zu lassen, eine Art der gerichtlichen »Fragestellung«, die oft Antworten zwangsweise zur Folge hatte.

Jetzt herrschen merklich mildere Sitten, so daß die Todesstrafe in Rußland nur für politische Verbrechen beibehalten, für solche gegen das gemeine Recht aber abgeschafft und durch Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken ersetzt ist. Die Deportation für den Mörder im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze«... nein, das konnte die Bevölkerung Rigas nicht zufriedenstellen.

Wie schon erwähnt, waren Anordnungen zur Überführung des Ermordeten getroffen worden, obwohl es dabei nicht etwa in Frage kam, in Riga noch[126] weitere Aufklärung über den Vorgang zu erhalten. In seinem Protokolle hatte der Doktor Hamine die Natur und Gestalt der Todeswunde ebenso wie den Eindruck von dem Stoße des Messers rings um diese sorgfältig beschrieben und festgestellt. Frank Johausen bestand aber darauf, daß die Beerdigung seines Bankbeamten in der Stadt erfolge, ein Begräbnis, dessen Kosten die Firma aus Mitleid und aus Teilnahme ausschließlich auf sich nahm.

Am Vormittag des 16. erschien der Major Verder im Amtszimmer seines Vorgesetzten, des Polizeiobersten Raguenos. Dieser wartete schon ungeduldig darauf, über den Vorfall näher unterrichtet zu werden, um, wenn das nur die schwächsten Anzeichen ratsam erscheinen ließen, seine findigsten Geheimpolizisten auf die Spur des Mörders zu entsenden. Später würde es sich wohl zeigen, ob man gezwungen wäre, auch der Provinzialregierung besonderen Bericht zu erstatten. Bis auf weitere Klarlegung des Falles schien es, daß es sich nur um einen Verstoß gegen das gemeine Recht, um einen Mord in Verbindung mit Beraubung handle.

Der Major berichtete dem Obersten Raguenos alle Einzelergebnisse der Untersuchung, die Umstände, unter denen das Verbrechen begangen worden war, die Indizien, die das Verhör am Orte ergeben, und den Befund, den der Doktor Hamine amtsgerichtlich aufgenommen hatte.

»Ich sehe, antwortete der Oberst, daß Ihr Verdacht besonders auf den unbekannten Reisenden hinweist, der jene Nacht in der Schenke zugebracht hat.

– Besonders auf den, Herr Oberst.

– Und der Schenkwirt Kroff hat bei der Untersuchung kein verdachterweckendes Benehmen gezeigt?

– Natürlich kam uns der Gedanke, daß er der Mörder sein könnte, antwortete der Major, obgleich sein Vorleben völlig einwandfrei gewesen ist. Nach den an dem Fenster im Zimmer des anderen Reisenden zurückgebliebenen Spuren aber, nach seinem so frühzeitigen Weggange, und nachdem wir in dem betreffenden Zimmer das Schüreisen gefunden hatten, womit der Laden offenbar aufgebrochen worden war, konnten wir über den Urheber des Verbrechens kaum noch im Zweifel sein.

– Es wird sich immerhin empfehlen, jenen Kroff zu beobachten.

– Gewiß, Herr Oberst; ich habe auch zwei Mann zur Bewachung des Hauses zurückgelassen, und der Schenkwirt selbst hat sich jede Stunde den Behörden zur Verfügung zu halten.[127]

– Sie nehmen also nicht an, fuhr der Oberst Raguenos fort, daß der Mord durch einen von außen durch das Fenster ins Zimmer eingedrungenen Verbrecher verübt sein könnte?

– Das kann ich weder bestimmt verneinen noch bejahen, antwortete der Major, es ist aber kaum zu vermuten, denn alle verdächtigen Merkmale weisen auf den Reisenden hin, der mit Poch die Schenke aufgesucht hatte.

– Ich ersehe hieraus, daß Ihre Überzeugung schon feststeht, Major Verder...

– Meine Überzeugung, wie die des Richters Kerstorf, des Doktor Hamine und des Herrn Johausen. Bedenken Sie gefälligst, daß dieser Reisende sich stets bemüht hatte, unerkannt zu bleiben, und das ebenso als er nach dem Kabak kam, wie nachher, als er diesen wieder verlassen hat.

– Er hat auch beim Weggange aus dem »Umgebrochenen Kreuze« nicht gesagt, wohin er sich begeben wolle?

– Nein, Herr Oberst.

– Liegt es nicht nahe, anzunehmen, daß er die Absicht hegte, nach Pernau zu gehen, da er Riga mit der Post verließ?

– Das wäre wohl möglich, Herr Oberst, obgleich er seinen Wagenplatz bis Reval bezahlt hatte.

– In Pernau ist in den Tagen des vierzehnten und fünfzehnten auch kein auffallender Fremder bemerkt worden?

– Kein einziger, versicherte der Major Verder, obwohl die Polizei dort scharf aufgepaßt hat, da ihr der Mord noch am nämlichen Tage gemeldet worden war... Wohin sich jener Reisende gewendet hat?... Ob er in Pernau eingetroffen ist?... Wer weiß das?... Könnte er mit dem geraubten Gelde nicht auch die baltischen Provinzen überhaupt verlassen haben?..

– Ja freilich, Herr Major, die Möglichkeit liegt ja auf der Hand, daß er bei der Nähe mehrerer Häfen Gelegenheit zum Entfliehen gefunden hätte...

– Nun eigentlich: bald finden könnte, Herr Oberst, denn vorläufig ist die Schiffahrt auf der Ostsee und im Finnischen Meerbusen wohl kaum schon eröffnet. Nach den mir zugegangenen Berichten hat noch kein Schiff auslaufen können. Beabsichtigt der Reisende also, zur Flucht ein solches zu benutzen, so muß er schon noch einige Tage warten... entweder in einem Orte des Binnenlandes, oder in einem der Hafenplätze, in Pernau, Reval...


Das junge Mädchen blieb auf der Schwelle der Haustür stehen. (S. 135.)
Das junge Mädchen blieb auf der Schwelle der Haustür stehen. (S. 135.)

– Oder Riga, fiel ihm der Oberst ins Wort. Warum sollte er nicht dahin zurückgekehrt sein, vielleicht gerade in der Absicht, die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen?

– Das erscheint mir kaum annehmbar, Herr Oberst; man muß freilich mit allem rechnen, und unsere Beamten haben auch schon Befehl, alle zum Auslaufen bereiten Schiffe streng zu überwachen. Jedenfalls wird das Meer aber vor Ausgang dieser Woche nicht eisfrei, und ich werde nochmals Befehl geben, in Riga Stadt und Hafen besonders scharf im Auge zu behalten.«

Der Oberst billigte die von seinem Untergebenen angeordneten Maßregeln, verlangte aber deren Ausdehnung auf alle baltischen Provinzen. Der Major Verder versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten. Die weitere Untersuchung sollte dem Richter Kerstorf anvertraut bleiben, und man durfte sich auf diesen rührigen Beamten verlassen, daß er alles herauszufinden und zu sammeln wissen werde, was mit der traurigen Angelegenheit irgendwie in Verbindung stände.

Nach diesem Gespräch mit dem Major Verder hegte auch der Oberst Raguenof keinen Zweifel mehr, daß der Mörder kein anderer sei als jener Reisende, der den Bankbeamten Poch nach der Schenke Kroffs begleitet hatte. Auf ihm lastete der Verdacht gar so erdrückend. Doch wer war er?... Wie würde es gelingen, seine Persönlichkeit festzustellen, da er weder dem Schaffner Broks bekannt war, der ihn von Riga erst ganz kurz vor Abgang der Post auf- und mitgenommen, noch dem Schenkwirt Kroff, der ihn in seinem Kabak beherbergt hatte. Weder der eine noch der andere hatte sein Gesicht ordentlich gesehen, so daß beide nicht einmal sagen konnten, ob er jung oder alt wäre. Auf welche Fährte sollte man also die Geheimpolizisten unter solchen Umständen leiten?... In welcher Richtung Nachforschungen anstellen? Erhielt man von anderen Zeugen vielleicht noch weitere Aufklärungen, die es ermöglichten, mit einiger Aussicht auf Erfolg vorzugehen?

Bis jetzt war alles in Dunkel gehüllt.

Bald wird sich jedoch zeigen, wie diese Dunkelheit durch einen Lichtschein erhellt, wie diese Nacht zum Tag wurde.

Nachdem der Doktor Hamine an diesem Morgen sein gerichtsärztliches Gutachten über den Vorfall im »Umgebrochenen Kreuze« aufgesetzt hatte, war er, um diesen abzuliefern, nach dem Amtszimmer des Richters Kerstorf gegangen.

»Nun... keine weiteren Anzeichen? fragte er den Beamten.

– Keine Spur davon, lieber Doktor.«[131]

Beim Weggange von dem Richter begegnete der Doktor Hamine zufällig dem französischen Konsul Delaporte und äußerte sich unterwegs gegen diesen über die schwebende Angelegenheit und die damit verknüpften Schwierigkeiten.

»Ja freilich, meinte der Konsul, wenn es so gut wie gewiß ist, daß jener Reisende das scheußliche Verbrechen begangen hat, so ist es sehr zweifelhaft, ob es gelingt, ihn zu entdecken. Sie, Doktor, legen ja ein besonderes Gewicht dem Umstande bei, daß der Todesstoß mit einer Art Dolchmesser ausgeführt worden sei, dessen Griffzwinge sichtbare Spuren rund um die Wunde hinterlassen habe. Schön... doch wie soll dieses Messer gefunden werden?...

– O... wer weiß? antwortete der Doktor Hamine.

– Nun das wird sich ja zeigen. Doch, da fällt mir eben ein, haben Sie vielleicht Nachricht von Nicolef?

– Von Dimitri? rief der Arzt. Warum diese Frage?... Ist er etwa krank?

– Nein, Doktor, doch wissen Sie denn nicht, daß er verreist ist?

– Verreist?... Wie sollte ich das wissen, da ich doch sechsunddreißig Stunden selbst abwesend war?

– Ah... richtig, antwortete der Konsul. Nun also, Dimitri ist seit drei Tagen von zu Hause weggegangen.

– Seit drei Tagen? wiederholte der Arzt verwundert und etwas betroffen.

– Ja, und auch ohne zu sagen, wohin er gehen wolle.

– Er hätte nicht einmal seine Tochter von seinem Weggange unterrichtet?

– O doch, aber nur mit einigen Worten: daß er zwei oder drei Tage abwesend sein werde.

– Das ist mindestens recht seltsam, bemerkte der Doktor Hamine. Und seit der Zeit hat man keine Nachricht von ihm?

–Keine einzige. Auch ich habe erst gestern, als ich in Nicolefs Wohnung vorsprach, durch Fräulein Ilka etwas von seiner Abreise erfahren.

– Und wann ist diese erfolgt?

– Vergangenen Freitag ganz früh.

– Doch wenn ich nicht irre, sagte dazu der Doktor Hamine, war am Freitag der dreizehnte, und den vorhergehenden Abend, den des zwölften, hatten wir doch bei Dimitri zugebracht, der erst recht spät nach Hause kam...

– Ganz recht.[132]

– Ich denke aber vergeblich darüber nach, ob Dimitri damals von seiner beabsichtigten Reise gesprochen hat.

– Nein, nicht einmal eine Andeutung hat er davon gemacht.

– Und doch mußte die Absicht bei ihm schon feststehen, da er am nächsten Morgen, und ohne zu sagen wohin, fortgegangen ist...

– Ohne darüber ein Wort zu sagen.«

Dem Arzte erschien das unverständlich.

»Und keine Nachricht von ihm? fragte er noch einmal.

– Keine... wenigstens bis gestern war Fräulein Nicolef noch keine zugegangen.

– Kommen Sie, wir wollen Ilka aufsuchen, sagte der Arzt.

– Ja... gern. Vielleicht hat ihr der Postbote heute Morgen einen Brief von ihrem Vater gebracht, oder vielleicht ist Nicolef schon selbst wieder zurückgekehrt.«

Delaporte und der Doktor Hamine begaben sich nun nach der Vorstadt, an deren Ende das Häuschen des Lehrers lag. An der Tür angekommen, fragten sie, ob Fräulein Nicolef für sie zu sprechen sei.

Auf die bejahende Antwort der Dienstmagd wurden sie sofort nach dem Zimmer geführt, worin sich das junge Mädchen aufhielt.

»Meine liebe Ilka, begann zunächst der Doktor, ist dein Vater zurückgekehrt?

– Er ist bis jetzt noch nicht wiedergekommen«, antwortete das junge Mädchen.

An ihrem blassen, sorgenvollen Gesicht erkannte man, wie beunruhigt sie war.

»Sie haben von ihm aber Nachricht erhalten, liebes Fräulein?« nahm der Konsul das Wort.

Ein verneinendes Zeichen war Ilkas einzige Antwort.

»Diese Abwesenheit ist unerklärlich, fuhr der Doktor fort, und nicht minder das Geheimnis, in das er sie gehüllt hat...

– Wenn meinem armen Vater nicht ein Unglück zugestoßen ist, murmelte das junge Mädchen fast mit tonloser Stimme. Seit einiger Zeit kommen in Livland gar so häufig Verbrechen vor.«

Der Doktor Hamine, der über die Abwesenheit des Freundes mehr verwundert als besorgt war, suchte sie zu beruhigen.[133]

»O, man soll nichts übertreiben, liebes Kind; jetzt kann man hier doch wohl noch mit einiger Sicherheit reisen. Freilich, nicht weit von Pernau ist ein Mord vorgekommen, und wenn auch nicht den Mörder, so kennt man doch dessen Opfer... einen bedauernswerten Bankbeamten...

– Da sehen Sie's ja, bester Herr Doktor, erwiderte Ilka, daß die Landstraßen recht unsicher sind, und mein Vater ist nun schon seit vier Tagen abwesend. Ach, wie ich auch dagegen ankämpfe, mich verläßt die Ahnung nicht mehr, daß ein Unglück...

– Beruhige dich nur, liebes Kind, redete ihr der Arzt, ihre Hände ergreifend, zu, du darfst dich nicht vergessen. Ein junges Mädchen, so kraftvoll, so energisch... nein, ich kenne dich gar nicht wieder! Hat Dimitri von vornherein gesagt, daß er zwei bis drei Tage ausbleiben werde, so kann heute noch von keiner beängstigenden Verspätung die Rede sein.

– Ist das Ihre ehrliche Überzeugung, Herr Doktor? fragte das junge Mädchen mit einem forschenden Blick auf den bewährten Freund des Hauses.

– Gewiß, Ilka, gewiß! Ich würde auch nicht die geringste Unruhe verspüren, wenn mir die Veranlassung zu Dimitris Reise bekannt wäre. Hast du noch bei der Hand, was er dir schriftlich hinterlassen hat?

– Hier!« antwortete Ilka, während sie ein Blatt aus der Tasche zog und es dem Arzte einhändigte.

Hamine durchlas aufmerksam die wenigen Worte, konnte der kurzen Mitteilung Dimitris aber auch nicht mehr entnehmen, als dessen Tochter, die sie gelesen und immer wieder gelesen hatte.

»Er hat sich also, fuhr der Arzt fort, bei seinem Weggange nicht einmal mit einer Umarmung von dir verabschiedet?

– Nein, lieber Doktor, versicherte Ilka, und auch als er das am Abend vorher tat, schien er mit ganz anderen Gedanken beschäftigt zu sein.

– Vielleicht, bemerkte der Konsul, bedrückte den Freund Dimitri irgend eine geheime Sorge...

– Er war, wie Sie sich erinnern werden, Herr Doktor, an jenem Abend später als gewöhnlich nach Hause gekommen... zurückgehalten durch eine Unterrichtsstunde, die sich zufällig länger ausdehnte... wie er vorgab.

– Ja, ja... ganz recht, sagte der Doktor Hamine, er kam mir auch etwas befangen und anders als gewöhnlich vor. Mir, liebe Ilka, ist es aber von Wichtigkeit, zu erfahren, was Dimitri nach unserem Weggange noch getan hat.[134]

– Er hat mir gute Nacht gewünscht und sich in seine Stube zurückgezogen, worauf ich die meinige aufsuchte.

– Er hat danach also keinen Besuch gehabt haben können, der ihn zu dieser Reise bewogen hätte?

– Nein... bestimmt nicht, erklärte das junge Mädchen. Ich glaube, er hat sich damals sofort niedergelegt, wenigstens hab' ich aus seinem Zimmer an diesem Abend keinen Laut mehr gehört.

– Das Hausmädchen hat ihm auch nicht etwa einen Brief übergeben, der noch später eingetroffen wäre?

– Nein, Herr Doktor; ich kann versichern, daß die nach Ihrem Weggange verschlossene Haustür nicht wieder geöffnet worden ist.

– Danach stände es also fest, daß sein Plan zur Abreise an jenem Abend schon vorlag.

– Darüber kann kein Zweifel bestehen, äußerte hierzu Delaporte.

– Nein... kein Zweifel, stimmte ihm der Arzt bei. Und am nächsten Morgen hast du, liebes Kind, nach Durchlesung des zurückgelassenen Zettels auch nicht zu erfahren gesucht, welche Richtung er beim Fortgange von zuhause eingeschlagen haben mag?

– Wie hätte ich das gekonnt und warum sollte ich es auch versucht haben? antwortete Ilka. Mein Vater wird seine Gründe gehabt haben, sich gegen niemand, nicht einmal gegen seine Tochter, darüber auszusprechen. Ich bin überhaupt weniger deshalb unruhig, daß mein Vater so schnell fortgegangen ist, als deshalb, daß sich seine Abwesenheit verlängert.

– Nein, liebes Kind, o nein! erwiderte der Doktor Hamine, der das junge Mädchen auf jeden Fall beruhigen wollte, noch ist Dimitri ja nicht länger fort, als er vermutet und vorhergesagt hatte, und heute Abend, oder spätestens morgen, wird er schon zurückgekehrt sein.«

Im Grunde sorgte sich der Arzt eigentlich mehr um die Ursache der plötzlichen Reise, als um diese selbst.

Delaporte und er verabschiedeten sich hierauf von Ilka mit dem Versprechen, am Abend wiederzukommen, um Nachricht über Dimitri zu erhalten.

Das junge Mädchen sah ihnen nach, als sie weggingen, und blieb auf der Schwelle der Haustür stehen, bis die beiden Herren hinter einer Biegung der Straße verschwunden waren. Dann begab sie sich nachdenklich und von düsteren Ahnungen erfüllt nach ihrem Zimmer.[135]

Fast gleichzeitig kam im Bureau des Majors Verder eine Tatsache zur Sprache, die mit dem Verbrechen im »Umgebrochenen Kreuze« eng in Verbindung stand und die Behörde auf die Spur des Schuldigen zu führen versprach.

Am Morgen desselben Tages war die von Eck befehligte Polizistenabteilung nach Riga zurückgekehrt.

Bekanntlich war diese Patrouille nach dem Norden der Provinz geschickt worden, wo seit einiger Zeit sich häufende Vergehen gegen Personen und Eigentum vorgekommen waren. Es sei hier auch daran erinnert, daß Eck acht Tage vorher in der Nachbarschaft des Peipussees nach einem aus den sibirischen Bergwerken entwichenen Flüchtling gefahndet und diesen bis in die Nähe von Pernau verfolgen konnte. Der Flüchtling war ihm freilich durch sein Übertreten auf die treibenden Eisschollen der Pernowa aus den Augen gekommen.

Ob der Verbrecher dabei umgekommen sein mochte?... Das war zwar anzunehmen, doch immerhin nicht sicher. Gerade Eck selbst bezweifelte es am meisten, weil niemand die Leiche des Flüchtlings, weder im Hafen, noch an der Mündung der Pernowa, gefunden hatte.

Nach Riga zurückgekehrt, begab sich Eck, den es drängte, dem Major Verder seinen Bericht abzustatten, eiligst nach dessen Amtszimmer. Da hörte er aber von dem Morde im »Umgebrochenen Kreuze«, doch gewiß ahnte niemand, daß er den Schlüssel zu dem so geheimnisvollen Vorgang besäße.

Nicht gering war deshalb auch das Erstaunen, war die Befriedigung des Majors Verder, als er vernahm, daß der Brigadier ihm einige Aufklärung bezüglich des Verbrechens bringen konnte, nach dessen Urheber man noch vergebens spähte.

»Wie?... Der Mörder des Bankbediensteten?

– Er selbst, Herr Major...

– Du hast Poch gekannt?

– Gewiß, und ich habe ihn am Abend des dreizehnten zum letztenmal gesehen.

– Wo denn?

– In dem Kabak von Kroff.

– Du warst also selbst da?

– Jawohl, Herr Major, mit einem meiner Leute, ehe wir nach Pernau zurückkehrten.

– Und du hast mit dem unglücklichen Manne gesprochen?[136]

– Wenigstens einige Minuten; und ich füge noch hinzu: wenn der Mörder, wie alle Umstände vermuten lassen, der Reisende gewesen ist, der Poch begleitete, der Reisende, mit dem er in der Schenke übernachtete, so kenne ich auch diesen...

– Was?... Du kennst ihn? rief der Major Verder eifrig.

– Ja, wenn der Mörder nämlich der in Frage stehende Reisende war...


 »Du bleibst bei deiner Aussage?« (S. 138.)
»Du bleibst bei deiner Aussage?« (S. 138.)

– Daran ist nach dem Ergebnis der Tatbestandsaufnahme nicht zu zweifeln.[137]

– Nun, Herr Major, so will ich ihn Ihnen nennen. Ich fürchte nur, Sie werden mir nicht glauben wollen.

– Ich werde deiner amtlichen Aussage glauben.

– Diese lautet, antwortete Eck, folgendermaßen: Jener Reisende, mit dem ich jedoch kein Wort gewechselt habe, den ich aber gleichwohl mit Sicherheit erkannte, wenn er sein Gesicht auch mit der Kapuze zu verbergen suchte... war kein anderer als der Privatlehrer Dimitri Nicoles...

– Dimitri Nicolef! rief der Major Verder verblüfft. Er?... Das ist unmöglich!

– Ich hatte Ihnen schon gesagt, daß sie meiner Aussage keinen Glauben schenken würden,« wiederholte der Brigadier.

Der Major Verder war aufgestanden und durchmaß das Zimmer mit großen Schritten.

»Dimitri Nicolef! murmelte er. Dimitri Nicolef?«

Wie, dieser Ehrenmann, der als Kandidat für die nächsten städtischen Wahlen aufgestellt war, der Gegner der einflußreichen Familie Johausen, dieser Russe, auf den sich alles Sehnen und Trachten, alle Forderungen der slawischen gegenüber der germanischen Partei vereinigten, der Günstling der moskowitischen Regierung... der sollte der Mörder des unglücklichen Poch sein?...

»Du bleibst bei deiner Aussage? fragte der Major den Brigadier, vor dem er stehen geblieben war.

– Ich bleibe dabei.

– Hatte Dimitri Nicolef denn Riga verlassen?

– Gewiß... wenigstens weilte er gerade in jener Nacht nicht hier. Das wird sich übrigens leicht näher feststellen lassen.

– Ich werde einen Polizisten nach seiner Wohnung schicken, antwortete der Major Verder, und werde auch Herrn Frank Johausen ersuchen lassen, sich hier einzufinden. Du... du bleibst vorderhand hier.

– Zu Befehl, Herr Major.«

Dieser erteilte zwei wachhabenden Polizisten seine Befehle, und die Leute gingen daraufhin sofort ab.

Zehn Minuten später war Frank Johausen schon beim Major erschienen, und der Brigadier Eck wiederholte vor ihm seine frühere Aussage.

Man kann sich wohl, ohne daß wir hier eigens darauf eingehen, die Empfindungen vorstellen, die die Seele des Bankiers bei dieser Erklärung durchwühlten.[138]

Endlich lieferte ein am wenigsten erwarteter Zwischenfall, ein Verbrechen, ein gemeiner Mord, ihm den Wettbewerber, den er mit seinem Hasse verfolgte, in die Hände!... Dimitri Nicoles... der Mörder Pochs!

Du hältst deine Aussage aufrecht? fragte der Major, an den Brigadier gewendet, diesen zum letzten Male.

– Vollkommen aufrecht! erklärte Eck in einem Tone, aus dem man sein Überzeugtsein heraushörte.

– Wenn er nun Riga aber gar nicht verlassen hätte? sagte jetzt Johausen.

– Er hat und hatte es jedoch verlassen, versicherte Eck. In der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten dieses Monats ist er nicht in seiner Wohnung gewesen, denn ich habe ihn da auswärts gesehen... mit eigenen Augen gesehen... und habe ihn mit Sicherheit erkannt.

– Wir wollen vorläufig die Rückkehr des Mannes abwarten, den ich nach der Wohnung Dimitri Nicolefs geschickt habe, nahm der Major Verder wieder das Wort. Er muß in wenigen Minuten wieder hier sein.«

Frank Johausen nahm einstweilen am Fenster Platz und überließ sich dem Aufruhr seiner Gedanken. Er wollte ja glauben, daß der Brigadier sich nicht getäuscht hätte, und doch lehnte sich in ihm ein gewisses Gerechtigkeitsgefühl gegen eine so schwere Beschuldigung unwillkürlich auf.

Der Polizist kam zurück und meldete das Ergebnis seiner Sendung:

»Herr Dimitri Nicolef sei frühmorgens am dreizehnten von Riga abgereist und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt.«

Damit war die Aussage Ecks, wenigstens zu einem Teile, bestätigt.

»Ich hatte also recht, Herr Major, sagte dieser, Dimitri Nicolef hat seine Wohnung am dreizehnten früh am Morgen verlassen. Poch und er haben die abgehende Postkutsche benutzt. Gegen sieben Uhr abends ist dem Wagen ein Unfall zugestoßen, und dessen beide Insassen sind um acht Uhr in den Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« gekommen, um da die Nacht zuzubringen. Hat nun der eine der Reisenden den anderen umgebracht, so ist Dimitri Nicolef der Mörder!«

Frank Johausen zog sich zurück, einesteils erschüttert, anderenteils triumphierend über diese entsetzliche Nachricht, die sich ohne Zweifel schnell verbreiten würde. Und so geschah es: es war, als ob eine durch die Stadt sich hinziehende Pulverlinie durch einen Funken entzündet worden wäre... Dimitri Nicolef der Urheber des Verbrechens im »Umgebrochenen Kreuze«![139]

Zum Glück erreichte die Neuigkeit nicht das Ohr Ilka Nicolefs. Ihr Haus blieb dem Gerüchte verschlossen. Der Doktor Hamine wachte darüber. Auch am Abend, als Delaporte und er sich in dem bekannten Zimmer eingefunden hatten, fiel kein Sterbenswörtchen über diese Angelegenheit. Beide hatten übrigens nur mit den Achseln gezuckt: Nicolef ein Mörder?... Nein, das konnten sie nicht glauben.

Inzwischen hatte der Telegraph gespielt. Die Polizeipatrouillen des betreffenden Gebietes waren beauftragt worden, Dimitri Nicolef zu verhaften, wo sie ihn auch fänden.

Dadurch war die Nachricht am Nachmittage des 16. auch nach Dorpat gekommen. Karl Johausen hatte sie als einer der ersten erhalten, und wir wissen ja schon, welche Antwort er Jean Nicolef in Gegenwart von dessen Universitätsfreunden erteilt hatte.

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 125-140.
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