Viertes Capitel.
Die schlechten Wege von Angola.

[262] Eben erwachte der kleine Jack und legte die Arme um den Hals seiner Mutter. Seine Augen erschienen klarer Das Fieber war nicht wieder gekommen.

»Geht Dir's besser, mein Herz? fragte Mrs. Weldon, indem sie ihr Kind an die Brust drückte.

– Ja, Mama, antwortete Jack, ich bin etwas durstig!«

Man konnte dem Kinde nichts Anderes als etwas frisches Wasser reichen, von dem es einige Schlucke mit offenbarem Wohlgefallen trank.

»Und mein Freund Dick? fragte der Kleine.

– Hier bin ich, Jack, meldete sich Dick Sand und ergriff die Hand des zarten Knaben.

– Und mein Freund Herkules?

– Herkules, hier, Herr Jack, antwortete der Riese, indem er sich näherte.

– Und das Pferd? fragte Jack weiter.

– Das Pferd? Allein abgereist, Herr Jack, sagte Herkules. Jetzt bin ich das Pferd! Ich werde Sie tragen. Glauben Sie, daß ich einen zu harten Nacken habe?

– Nein, erwiderte der kleine Jack, aber dann hab' ich keinen Zügel zu halten.

– O, Sie legen mir ein Gebiß ein, wenn es Ihnen Spaß macht, sagte Herkules, seinen Mund weit öffnend, und können dann nach Belieben daran ziehen.

– Du weißt doch, daß ich kaum daran ziehen würde.

– Ei, da thäten Sie unrecht, meine Zähne sind fest genug.

– Aber die Farm des Herrn Harris?... fragte der kleine Knabe noch einmal.[262]

– Dahin werden wir bald kommen, mein Jack, tröstete ihn Mrs. Weldon... Ja... bald!

– Sind Sie fertig, wieder aufzubrechen? mischte sich Dick Sand da ein, um derlei Gesprächen ein Ende zu machen.

– Ja wohl, Dick, vorwärts!« antwortete Mrs. Weldon.

Das Lager ward aufgehoben und der Rückweg in derselben Ordnung angetreten. Man mußte quer durch das Dickicht gehen, um das schmale Bächlein nicht zu verlieren. Hier zeigten sich zwar einige Fußwege, doch diese Pfade waren »todte«, wie die Eingebornen sagen, d.h. Wurzelwerk und massenhaftes Gesträuch hatten sie fast vollständig versperrt. Unter diesen erschwerenden Umständen mußte man eine ganze Meile zurücklegen und gebrauchte dazu drei volle Stunden. Die Neger arbeiteten ohne Unterlaß. Herkules betheiligte sich, nachdem er Nan den kleinen Jack übergeben hatte, an der Arbeit, und mit welchem Erfolg! Er rief ein kräftiges Hui! wenn er seine Axt schwang und gleich einem verheerenden Feuer eine ganze Oeffnung vor sich heraushieb.

Zum Glück sollte diese ermüdende Arbeit nicht von Dauer sein. Nach Zurücklegung der ersten Meile erreichte man eine durch das Gebüsch verlaufende weite Oeffnung, welche in schräger Richtung an dem Bache endigte und dann dessen Ufer folgte. Es war das die Spur von Elefanten, welche, jedenfalls zu Hunderten, durch diesen Theil des Waldes zu ziehen pflegten. Große, von den Füßen der ungeheuren Pachydermen eingedrückte Löcher verwandelten den Boden, der von der Regenzeit durchweicht war und den seine schwammige Natur hierzu sehr geeignet machte, fast zu einem Siebe.

Bald zeigte es sich, daß diese Furth durch den Wald jenen gewaltigen Thieren nicht allein gedient habe. Hier waren auch menschliche Wesen mehr als einmal gewandert, aber so, als hätten sie große Heerden mit allen grausamen Mitteln nach dem Schlachthause geschleppt. Da und dort bleichten Knochen auf dem Boden, die Reste der von wilden Thieren halb abgenagten Skelete, von denen einige noch durch Sklavenfesseln gekennzeichnet waren.

Hier im centralen Afrika giebt es lange Wegstrecken, welche in dieser Weise von den Resten menschlicher Körper eingefaßt sind. Die Sklaven-Karawanen durchziehen oft Hunderte von Meilen und wieviel Unglückliche brechen dabei unterwegs von der Peitsche der Agenten, getödtet durch Hunger und Entbehrungen aller Art oder decimirt durch Krankheiten, zusammen!


»Geht Dir's besser, mein Herz?« (S. 262.)
»Geht Dir's besser, mein Herz?« (S. 262.)

Wieviel werden daneben noch von den Sklaven[263] händlern selbst getödtet, wenn an Lebensmitteln Mangel eintritt! Ja, wenn man sie nicht mehr ernähren kann, tödtet man sie einfach durch Flintenschüsse, Säbelhiebe und Messerstiche, und solche Metzeleien sind nicht einmal sehr selten!

Auf diesem Wege waren also, wie gesagt, Sklaven-Karawanen dahingezogen. Eine Meile weit stießen Dick Sand und seine Begleiter bei jedem[264] Schritte auf solche verstreute Gebeine, wobei sie große Ziegenmelker verjagten, die sich bei ihrer Annäherung schwerfälligen Fluges erhoben und kreischend über ihnen hinflatterten.

Mrs. Weldon sah mit offenen Augen doch so gut wie nichts. Dick Sand fürchtete immer eine Frage von ihrer Seite, denn er mochte nicht gern die Hoffnung aufgeben, sie bis zur Küste zurückzuführen, ohne ihr davon Mittheilung zu machen, daß Harris' Verrath sie in eine Provinz Afrikas verlockt habe. Zum Glück suchte Mrs. Weldon gar nicht nach einer Erklärung dessen, was sie sah. Sie wollte nur ihr Kind wieder haben, und der kleine Jack, welcher jetzt im süßen Schlummer lag, erfüllte ihre Gedanken ganz allein. Nan ging neben ihr her und weder die Eine noch die Andere stellte an den jungen Leichtmatrosen eine jener Fragen, welche er so sehr fürchtete. Der alte Tom wanderte mit niedergeschlagenen Augen dahin, denn er wußte recht wohl, warum so viele menschliche Gebeine längs der Seiten dieser Lücke im Holze lagen.

Seine Gefährten blickten erstaunt nach links und rechts, als durchschritten sie einen Friedhof ohne Grenzen, dessen Gräber eine Erdrevolution aufgebrochen und umgestürzt hatte; aber sie zogen in dumpfem Schweigen weiter.

Dann und wann vertiefte und erweiterte sich wohl das Bett des Baches. Dick Sand hoffte schon, daß er bald schiffbar werden würde. Er zauderte auch gar nicht, den freien Weg zu verlassen, wenn er sich, vielleicht eine geradere Linie bildend, von dem Wasserlaufe entfernte.

Die kleine Gesellschaft drang also noch einmal in das dichte Buschwerk ein. Mit Hilfe der Axt mußte man sich den Weg mitten durch Lianen und unentwirrbar verästeltes Gesträuch bahnen. Wenn aber diese Pflanzen auch den Boden bedeckten, so drängte sich doch nicht mehr der Urwald bis an das Ufer des Baches heran. Die Bäume wurden allmälig seltener. Ueber die Gräser stiegen nur schlanke Bambusstengel, und zwar so weit in die Höhe, daß sie nicht einmal Herkules mehr mit dem Kopfe überragte. Der Zug der kleinen Gesellschaft verrieth sich jetzt nur durch das Schwanken jenes Bambusrohres.

Nachmittags gegen drei Uhr desselben Tages veränderte sich die Natur des Bodens sichtlich. Es zeigten sich lange ausgedehnte Ebenen, welche zur Regenzeit vollständig überschwemmt sein mochten; der in noch höherem Grade[265] sumpfige Boden war mit üppigem Grase bedeckt, welches reizende Farren überragten. Bildete er hie oder da einen steileren Abhang, so sah man den braunen Hämatit, offenbar die Ausläufer eines reichen Lagers dieses Minerals, zu Tage treten.

Da erinnerte sich Dick Sand zu rechter Zeit, was er in Livingstone's Reisen gelesen hatte. Mehr als einmal blieb der muthige Doctor in diesem Sumpfboden mit den Füßen stecken.

»Gebt wohl Acht, meine Freunde, sagte er also, indem er sich an die Spitze des Zuges begab. Prüft den Boden, bevor Ihr ihn betretet!

– Wahrhaftig, meinte der alte Tom, es sieht so aus, als wäre dieses Terrain vom Regen tüchtig durchweicht, und doch ist in den letzten Tagen kaum ein Tropfen gefallen.

– Nein, antwortete Bat, aber ein Unwetter ist nicht mehr weit.

– Ein fernerer Grund, bemerkte Dick Sand, daß wir uns beeilen, über diese Sümpfe hinauszukommen, ehe es ausbricht! – Herkules, nehmt den kleinen Jack auf den Arm. Ihr, Bat und Austin, haltet Euch in der Nähe Mistreß Weldon's, um sie im Nothfalle unterstützen zu können. – Sie, Herr Benedict – ja, was machen Sie denn, Herr Benedict?...

– Ich versinke!«.... erwiderte einfach Vetter Benedict, der langsam verschwand, als hätte sich eine Falle unter seinen Füßen geöffnet.

Der arme Mann war wirklich in eine Aushöhlung gerathen, und verschwand bis zum halben Leibe in zähschleimigem Schlamme. Man reichte ihm die Hand und er arbeitete sich wieder aus seiner Versenkung heraus, bedeckt zwar mit Schlamm, doch entzückt, daß seine Entomologen-Trommel dabei keinen Schaden genommen hatte. Acteon ward an seine Seite beordert, um jedem neuen Unfall des unglückseligen Kurzsichtigen vorzubeugen.

Vetter Benedict hatte gerade mit dem Loche, in welches er versank, eine sehr schlechte Wahl getroffen. Als man ihn aus dem breiigen Moraste herauszog, stiegen eine große Menge Blasen herauf, welche beim Zerplatzen ein sehr übelriechendes Gas entweichen ließen. Livingstone, der in solchem Moraste wiederholt bis an die Brust versunken war, verglich dieses Terrain mit einem großen, aus schwarzer, poröser Erde gebildeten Schwamme, aus dem der Eindruck des Fußes überall kleine Wasserfäden hervorlocke. Diese Wege waren stets sehr gefährlich.[266]

Wohl eine halbe Meile weit mußten Dick Sand und seine Gefährten auf diesem schwammigen Boden hinziehen. Es ging sogar so weit, daß sie zuweilen Halt zu machen gezwungen waren, da auch Mrs. Weldon bis halb an's Knie in den Schlamm versank Herkules, Bat und Austin wollten ihr alle weiteren Unannehmlichkeiten und Mühsale eines Weges durch diese sumpfige Ebene ersparen und fertigten eine Tragbahre aus Bambusrohr, auf welcher sie Platz nehmen mußte. Den kleinen Jack nahm sie dabei in die Arme und man befleißigte sich nun, aus diesem pestilentialischen Sumpfe baldmöglichst herauszukommen.

Der Schwierigkeiten gab es dabei genug. Acteon hielt Vetter Benedict mit kräftiger Hand fest. Tom unterstützte Nan, welche ohne seine Hilfe auch manchmal nahe daran war, einzusinken. Den Anderen voraus sondirte Dick Sand das Terrain. Die Wahl jedes Plätzchens, auf das man die Füße setzen konnte, machte ihm nicht wenig Mühe. Er mußte meist auf dem Uferrand hinwandern, den ein dichtes, zähes Gras bedeckte; oft fehlte auch hier jeder Stützpunkt und man sank bis an's Knie in den Schlamm ein.

Gegen fünf Uhr Abends endlich war der Sumpf überwunden; der Boden erlangte in Folge seiner thonigen Natur hinreichende Festigkeit; man fühlte jedoch noch immer seinen feuchten Untergrund. Offenbar lag diese Landstrecke tiefer, als benachbarte Flüsse, und drang das Wasser überall in und durch die Poren des Untergrundes.

Die Hitze war allmälig sehr stark geworden. Sie wäre vielleicht unerträglich gewesen, hätten sich nicht dicke Gewitterwolken zwischen die brennende Sonne und die Erde gelagert. In der Ferne zerrissen schon die Blitze dann und wann die Wolken und in den Tiefen des Himmels grollte ein dumpfer Donner. Allen Anzeichen nach drohte ein heftiges Gewitter.

Diese Naturerscheinungen erreichen in Afrika eine uns ganz unbekannte Stärke. Wolkenbruchartige Platzregen, Windstöße, denen oft auch die festesten Bäume nicht zu widerstehen vermögen, Schlag auf Schlag knattert der furchtbarste Donner – das ist etwa der Kampf der Elemente in jenen Breiten. Dick Sand wußte das recht gut und wurde außerordentlich unruhig. Ohne Obdach konnte man die Nacht unbedingt nicht hinbringen. Die Ebene wurde wahrscheinlich überschwemmt und zeigte auch nirgends eine Erhöhung, nach welcher man sich hätte flüchten können.[267]

Wo in dieser tiefliegenden Einöde, ohne Baum, ohne Strauch, sollte man aber ein Obdach finden? Selbst die Eingeweide der Erde konnten ein solches hier nicht bieten. Schon 0∙5 Meter unter der Oberfläche wäre man auf Wasser gekommen.

Inzwischen schien nach Norden zu eine Reihe niedriger Hügel die sumpfige Niederung zu begrenzen. Sie glich dem natürlichen Rande dieser Bodendepression. An einem vereinzelten hellen Theile des Horizontes, den die Wolken noch nicht bedeckten, sah man auch einige Bäume auf demselben.

Fehlte nun auch dort scheinbar jedes Obdach, so lief die kleine Gesellschaft doch mindestens nicht weiter Gefahr, von einer Ueberschwemmung überrascht zu werden. Dort winkte vielleicht die Rettung für Alle!

»Vorwärts, meine Freunde, vorwärts! drängte Dick Sand wiederholt. Noch drei Meilen und wir sind weit mehr in Sicherheit, als hier in dieser Niederung.

– Munter, munter!« rief Herkules.

Der wackere Neger hätte gern alle Welt auf den Arm genommen, um sie allein zu tragen.

Seine Worte trieben die muthigen Leute von Neuem an, und trotz der Anstrengung eines vollen Marschtages, schritten sie jetzt rüstiger und schneller voran, als im Anfange der Etappe.

Beim Ausbruch des Unwetters lag das zu erreichende Ziel noch gegen zwei Meilen vor ihnen. Die ersten Blitze – das machte die Sache noch gefährlicher – begleitete noch kein Regenfall; fast jeder derselben schlug zwischen den Wolken und der Erde über. Dazu war es beinahe dunkel geworden, obwohl die Sonne hinter dem Horizont noch nicht verschwunden war. Nach und nach senkten sich jedoch die schweren Dunstmassen, als drohten sie zusammenzubrechen – was also zweifellos einen furchtbaren Platzregen erwarten ließ. Röthliche und bläuliche Blitze durchzuckten sie in allen Richtungen und umhüllten sozusagen die ganze Ebene mit einem unentwirrbaren Feuernetze.

Zwanzigmal waren Dick Sand und seine Genossen in Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden.

Auf dieser baumlosen Fläche bildeten sie ja allein solche hervorspringende Punkte, welche elektrische Entladungen vorzüglich anziehen. Jack,[268] der von dem Krachen des Donners erwacht war, verbarg sich in Herkules' Armen. Er hatte wohl Furcht, der arme Kleine, aber er wollte sie seiner Mutter nicht bemerken lassen, um diese nicht noch mehr zu ängstigen. Herkules schritt tapfer vorwärts und tröstete ihn dabei nach Kräften.

»Keine Angst, mein kleiner Jack, sagte er. Wenn uns der Donner zu nahe kommt, breche ich ihn entzwei; sieh! hier mit der einen Hand! Ich bin stärker als er!«

Und in der That, die Kraft des Riesen beruhigte den kleinen Jack nicht wenig.

Inzwischen konnte es nicht mehr lange währen, bis der Regen kam, und dann mußten wahre Sturzbäche aus den sich condensirenden Wolken herabfallen. Was sollte aus Mrs. Weldon nebst ihren Begleitern werden, wenn sie bis dahin keine Unterkunft fanden?

Dick Sand blieb einen Augenblick neben dem alten Tom stehen.

»Was nun? fragte er.

– Unseren Weg fortsetzen, Herr Dick, antwortete Tom, auf dieser Ebene, die der Regen schnell zum Sumpfe verwandeln wird, können und dürfen wir nicht bleiben!

– Nein, Tom, gewiß nicht! Aber ein Obdach! Wo? Welches? Wär's nur eine erbärmliche Hütte!...«

Dick Sand hatte seine Worte kurz abgebrochen. Ein hellleuchtender Blitz zuckte eben über die ganze Ebene vor ihnen.

»Was seh' ich dort, eine Viertelmeile von hier?... rief Dick Sand.

– Ja wohl, ich, ich sah es auch!... antwortete der alte Tom kopfschüttelnd.

– Ein Lager, nicht wahr?

– Ja, Herr Dick... das muß ein Lager sein... aber ein Lager von Eingebornen!«

Ein zweiter Blitz machte es möglich, das vermuthete Lager, das einen Theil der ungeheuren Ebene bedeckte, deutlicher zu sehen.

In der That, dort erhoben sich etwa einhundert konische Hügel in symmetrischer Anordnung und in einer Höhe von 3∙5 bis 4∙5 Meter. Ein Krieger war dabei nicht zu erblicken. Hatten sich diese nun in jene Zelte (so schien es von hier aus) verkrochen, um das Ungewitter vorübergehen zu lassen, oder war das ganze Lager verlassen?[269]

Im ersteren Falle hätte Dick Sand, der Himmel mochte nun noch so furchtbar drohend erscheinen, so schnell als möglich entfliehen mögen; im zweiten bot sich dort vielleicht das gesuchte Obdach.

»Darüber werd' ich bald im Reinen sein!« sagte er.

Dann wandte er sich an den alten Tom:

»Bleibt Ihr hier, fuhr er fort. Daß mir kein Mensch folge! Ich will jenes Lager näher in Augenschein nehmen.

– Gestatten Sie, daß Einer von uns Sie begleite, Herr Dick.

– Nein, Tom, ich gehe allein. Ich kann mich unbemerkt nahe schleichen; Ihr erwartet mich hier zurück!«

Die kleine Gesellschaft, der Tom und Dick Sand sonst voranschritt, machte Halt. Der junge Leichtmatrose verließ sie und verschwand bald in der Finsterniß, welche eine vollständige war, so lange nicht ein Blitz die schwarzen Wolken zerriß.

Jetzt fielen einige schwere Tropfen nieder.

»Was ist geschehen?« fragte Mrs. Weldon, die an den alten Neger herantrat.

– Wir haben ein Lager gesehen, Mistreß Weldon, antwortete der alte Tom, ein Lager... vielleicht auch ein Dorf, und unser Kapitän wollte es erst in Augenschein nehmen, bevor er uns dahinführt!«

Mrs. Weldon beruhigte sich bei dieser Antwort.

Drei Minuten später schon war Dick Sand zurück.

»Kommt! Kommt! rief er mit einer Stimme, welche seine volle Befriedigung deutlich heraushören ließ.

– Ist das Lager leer? fragte Tom.

– Das ist kein Lager, auch keine Ansiedlung, antwortete der junge Leichtmatrose. Das sind Ameisenbauten!

– Ameisen!... rief Vetter Benedict, dem dieses Wort sozusagen in die Glieder fuhr.

– Ja wohl, Herr Benedict, Ameisenbauten von mindestens 3∙5 Meter Höhe, in welchen wir unterzukommen versuchen müssen.

– Dann müßten das aber Bauten der sogenannten kriegerischen oder gefräßigen Termiten sein, erwiderte der Gelehrte. Nur diese Insecten errichten derartige Bauwerke, um welche sie die größten Architekten beneiden![270]

– Mögen das nun Termiten sein oder nicht, Herr Benedict, antwortete Dick Sand, wir werden sie austreiben und uns an ihre Stelle setzen.

– Doch sie zehren uns auf! Sie sind dabei in ihrem Rechte!

– Vorwärts! Vorwärts!...

– Aber so warten Sie doch, begann Vetter Benedict noch einmal, ich glaubte, solche Termitenbauten gebe es nur in Afrika!...

– Vorwärts!« drängte Dick Sand zum letzten Male befehlend, weil er fürchtete, Mrs. Weldon könnte das letzte Wort des Entomologen gehört haben.

Alles folgte Dick Sand in größter Eile. Bald erhob sich ein wüthender Wind. Große Tropfen zerplatzten auf der Erde. Binnen Kurzem mußte der Sturm unerträglich werden.

Bald ward einer jener Kegel, welche aus der Ebene hervorragten, erreicht, und so furchterweckend die Natur der Termiten auch sein mochte, man durfte nicht zögern, selbst im Falle man sie nicht heraustreiben konnte, die Wohnung mit ihnen zu theilen.

Am Fuße des Kegels, der aus röthlichem Thone errichtet war, zeigte sich eine sehr enge Oeffnung, welche Herkules mit seinem Jagdmesser bald so weit vergrößerte, daß selbst ein Mann von seiner Statur durch dieselbe kriechen konnte.

Zu Vetter Benedict's größtem Erstaunen zeigte sich auch nicht eine einzige jener Tausende von Termiten, welche sonst gewiß diesen Bau bevölkerten.

Sollte er von ihnen verlassen sein?

Nach gehöriger Erweiterung des Einganges schlüpften Dick Sand und seine Genossen hinein und Herkules verschwand darin zuletzt, eben als der Regen in solchen Massen niederstürzte, daß er die Blitze fast verlöschen konnte.

Von der Unbill des Wetters war letzt aber nichts mehr zu fürchten. Ein glücklicher Zufall hatte der kleinen Gesellschaft dieses sichere, einem Zelte oder der Hütte eines Eingebornen jedenfalls vorzuziehende Obdach vermittelt.


Ein zweiter Blitz machte es möglich, deutlicher zu sehen. (S. 269.)
Ein zweiter Blitz machte es möglich, deutlicher zu sehen. (S. 269.)

Dasselbe bestand, wie erwähnt, aus einem jener kegelförmigen Termitenbauten, welche nach Lieutenant Cameron's Vergleiche, wenn man ihre Herstellung durch jene kleinen Insecten in Betracht zieht, erstaunlicher erscheinen als die durch Menschenhände errichteten Pyramiden Egyptens.[271]

»Es verhält sich das so, sagte jener Reisende, als hätte eine Völkerschaft etwa den Mount Everest, einen der höchsten Gebirgsköpfe der Himalaya Kette, künstlich aufgethürmt!«[272]

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 262-273.
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