XIII.

[115] Sylvius Hog war also nach Bergen abgereist. Seine einen Augenblick erschütterte zähe Natur, sein energischer Charakter hatten schon wieder die Oberhand gewonnen. Er wollte einfach an den Tod Ole Kamp's nicht glauben, wollte nicht zugeben, daß Hulda verurtheilt sei, jenen niemals wiederzusehen. Nein, so lange die vermuthete Thatsache nicht handgreiflich bewiesen war, hielt er sie noch für falsch, und diese Anschauung besiegte in seinem Geiste alle Widersprüche.

Doch hatte er denn eine Andeutung, auf welche er das, was er in Bergen eben unternehmen wollte, zu stützen vermochte? Gewiß; wenn auch zugegeben werden muß, daß es nur eine recht unbestimmte war.

Er wußte nämlich, an welchem Tage das Lotterie-Loos von Ole Kamp ins Meer geworfen und an welchem Tage, sowie in welcher Gegend die dasselbe enthaltende Flasche aufgefunden worden war. Darüber hatte ihn der Brief vom Seeamt aufgeklärt, derselbe Brief, der ihn sofort selbst nach Bergen zu reisen veranlaßte, um sich mit den Herren Gebrüder Help und den erfahrensten Seeleuten jenes Hafens ins Einvernehmen zu setzen. Vielleicht genügte das ja um den bezüglich des »Viken« anzustellenden Nachforschungen eine erfolgversprechende Richtung zu geben.[115]

Die Reise wurde so schnell wie möglich ausgeführt. In Moel angelangt, schickte Sylvius Hog seinen Begleiter mit dem Schußkarren wieder heim, und er setzte seine Fahrt auf einem jener Boote aus Birkenrinde, die den Dienst auf dem Tinn-See versehen, sogleich weiter fort. In Tinoset miethete er dann, anstatt sich nach Süden, das heißt nach der Richtung von Bamble, zu begeben, einen anderen Schußkarren, der ihn durch Hardanger beförderte, um auf möglichst kurzem Wege den Fjord dieses Namens zu erreichen. Hier konnte er auf dem »Run«, einem kleinen, diese Meereseinbuchtung regelmäßig befahrenden Dampfer, bis zum untersten Ende desselben gelangen. Nachdem er ferner durch ein wahres Netzgewebe von Fjords zwischen den, der norwegischen Küste vorgelagerten Inseln Storö, Tinaas, Sartorö u. a. hindurchgeschifft, landete er mit dem Morgengrauen des 2. Juli am Quai von Bergen.

Diese sehr alte, von dem Sogne- und eigentlich auch vom Hardanger-Fjord bespülte Stadt liegt in überaus herrlicher Gegend, die der Schweiz ganz ähnlich sein würde, wenn einst ein künstlicher Meeresarm die Gewässer des Mittelmeeres bis zum Fuße ihrer ehrwürdigen Berge führte. Eine prächtige Eschenallee leitet den Ankommenden bis zu den er sten Häusern der Stadt. Ihre hohen, spitzgiebeligen Gebäude erglänzen in blendendem Weiß, ganz wie arabische Städte, und sind auf einem unregelmäßigen Dreieck zusammengedrängt, das ihre dreißigtausend Einwohner beherbergt. Ihre Kirchen stammen noch aus dem zwölften Jahrhundert, und die hohe Kathedrale dient weit hinaus den von seewärts kommenden Schiffen als Merkzeichen. Bergen ist entschieden die Handelshauptstadt Norwegens, obgleich es ziemlich seitwärts der gewöhnlichen Verkehrswege und sehr entfernt von den anderen Städten gelegen ist, welche – es sind das Christiania und Trondhjem – politisch die erste und zweite Rangstellung im Königreiche einnehmen.

Unter anderen Verhältnissen hätte der Professor gewiß diesen Hauptort eines Amtes, der durch äußere Erscheinung und Volkssitten fast mehr holländisch als norwegisch zu nennen ist, eingehend besichtigt, da das ja eigentlich der ursprüngliche Zweck seiner Urlaubsreise gewesen war.

Seit dem Abenteuer auf dem Maristien und seiner Ankunft in Dal hatte dieses Programm freilich einschneidende Veränderungen erfahren. Sylvius Hog war jetzt nicht mehr der lustreisende Abgeordnete, der gleichzeitig das Land in politischer und commercieller Hinsicht durch den Augenschein besser kennen zu lernen suchte; er war nur der Gast des Hauses Hansen, der sich Joël und[116] Hulda dankbar verpflichtet fühlte, und das überwog in ihm jetzt alle anderen Interessen. Er war der Schuldner, der um gleichviel welchen Preis seine Schuld der Erkenntlichkeit abzutragen wünschte, und dabei dachte er doch, daß es nur eine Kleinigkeit sei, was er für Jene zu thun im Sinne hatte.

Mit dem »Run« in Bergen angelangt, ging Sylvius Hog im Hintergrunde des Hafens an der Ufermauer des Fischmarktes an's Land und begab sich sofort nach dem Quartier Tyske-Bröderne, wo Help junior vom Hause Gebrüder Help wohnte.

Natürlich regnete es, denn in Bergen fällt im Jahre Regen an dreihundertsechszig Tagen. Um aber unter sicherem Obdach zu sein, hätte man nur schwierig ein besser darauf eingerichtetes Gebäude entdecken können, als das gastfreundliche Haus von Help junior.

Der Empfang, welcher Sylvius Hog zu Theil wurde, hätte nirgends wärmer, herzlicher und unzweideutiger sein können. Sein Freund bemächtigte sich so zu sagen seiner Person, wie eines kostbaren Ballens, den er in Consignation nahm, sorgfältig unterbrachte und den er nur gegen bestimmte, formgerechte Quittung wieder ausliefern würde.

Sylvius Hog machte Help junior sofort mit dem Zwecke seines Hierherkommens bekannt und brachte das Gespräch auf den »Viken«. Er fragte, ob seit seinem letzten Briefe keine weitere Nachricht über das Schiff eingetroffen sei und ob die Seeleute der Stadt dasselbe für mit Mann und Maus verloren ansähen. Auch erkundigte er sich, ob dieser Schiffbruch, der auch mehrere Familien in Bergen in Trauer versetzte, nicht die Seebehörden schon zur Anstellung von Nachforschungen veranlaßt hätte.

»Wie konnte man das wohl, antwortete Help junior, da kein Mensch den Ort des Schiffbruchs kennt?

– Zugegeben, mein lieber Help, doch eben weil man ihn nicht kennt, mußte man sich darüber Aufklärung zu verschaffen suchen.

– Wie... darüber?

– Ja, gewiß! Wenn man die Stelle nicht weiß, wo der »Viken« versunken ist, so weiß man doch, an welcher Stelle das bekannte Document von jenem dänischen Schiffe aufgefunden wurde. Das ist eine sichere Andeutung, deren Nichtbeachtung eine schwere Schuld auf uns wälzen würde.

– Wo ist die betreffende Stelle?

– Hören Sie mich an, lieber Help!«[117]

Sylvius Hog berichtete nun die neueren Mittheilungen, welche ihm das oberste Seeamt hatte zukommen lassen, und erwähnte auch der erhaltenen Vollmacht, diese nach Ermessen zu verwerthen.

Die Flasche, in der sich das Lotterie-Loos Ole Kamp's befand, war am 5. Juni von der Brigg-Goëlette »Christian«, Capitän Mosselman aus Helsingör, bei südöstlicher Luftströmung etwa zweihundert Seemeilen südwestlich von Island aufgefischt worden.

Der Capitän hatte von dem Documente sofort Kenntniß genommen, wie das seine Pflicht erheischte, schon für den denkbaren Fall, daß Ueberlebenden von einem Schiffbruche hätte unmittelbare Hilfe gewährt werden können. Die auf die Rückseite des Lotterie-Looses geschriebenen Zeilen bezeichneten aber in keiner Weise die Unglückstätte, und der »Christian« konnte sich also überhaupt nicht nach derselben begeben.

Es war ein ehrenwerther Mann, dieser Capitän Mosselman. Ein anderer, minder gewissenhafter Mann hätte das Loos vielleicht für sich selbst behalten; er dagegen hatte nur den einen Gedanken, dasselbe an seine Adresse zu befördern, sobald er nach einem Hafen zurückgekehrt war. »Hulda Hansen in Dal«, das genügte; es war nicht nothwendig, nähere Angaben hinzuzufügen.

In Copenhagen angekommen, meinte Capitän Mosselman richtiger zu verfahren, wenn er das Document den dänischen Behörden auslieferte, statt es unmittelbar nach seinem Bestimmungsorte zu senden. Das war sicherer und entsprach dem üblichen Gebrauche. Er that es also, und das Seeamt zu Copenhagen gab alsbald dem Seeamte zu Christiania darüber auf officiellem Wege Nachricht.

Zu dieser Zeit hatte die genannte Behörde schon die ersten Zuschriften von Sylvius Hog empfangen, der wegen eingehender Nachforschungen bezüglich des »Viken« nachsuchte. Das ganz besondere Interesse, welches er für die Familie Hansen empfand, war kein Geheimniß mehr. Man wußte, daß Sylvius Hog noch eine Zeit lang in Dal verweilen werde, und dorthin wurde ihm also das von dem dänischen Capitän aufgefundene Document gesendet, um es in Hulda Hansen's Hände übermitteln zu lassen.

Seitdem hatte dieses Vorkommniß nicht aufgehört, die öffentliche Meinung zu erregen, wie wir ja, Dank den ergreifenden Berichten, welche die Tagesblätter beider Welten darüber brachten, schon von früher wissen. Vorstehendes war es, was Sylvius Hog seinem Freunde Help junior in kurzem Umrisse[118] mittheilte. Letzterer hörte ihm ohne jede Unterbrechung mit warmer Theilnahme zu, und der Professor schloß seinen Bericht mit den Worten:

»Eines gibt es also, worüber kein Zweifel aufkommen kann, den Umstand, daß das Document am vergangenen 5. Juni gegen zweihundert Seemeilen südwestlich von Island, etwa einen Monat nach der Abfahrt des »Viken« von Saint Pierre Miquelon nach Europa, aufgefunden worden ist.

– Und weiter ist Ihnen nichts bekannt?

– Nein, mein lieber Help; doch wenn wir uns mit den erfahrensten Seeschiffern von Bergen ins Einvernehmen setzen, mit solchen, die jene Meerestheile öfter besucht haben oder noch zu besuchen pflegen, welche die allgemeine Richtung der Winde und vorzüglich der Strömungen kennen, sollten wir da nicht den von der Flasche eingehaltenen Weg festzustellen vermögen? Berücksichtigt man dann schätzungsweise deren Geschwindigkeit und die bis zur Stunde ihrer Auffindung verflossene Zeit, wäre es dann so unmöglich, annähernd zu bestimmen, an welchem Orte sie von Ole Kamp ins Meer geworfen worden sein oder, mit anderen Worten, wo der Schiffbruch stattgefunden haben müsse?«

Help junior schüttelte in wenig zustimmender Weise den Kopf. Eine ganze Reihe von Nachsuchungen auf so unzulängliche Anzeichen hin, bei deren Verwerthung noch so vielerlei Fehler unterlaufen konnten, anzustellen, bedeutete ihm kaum etwas Anderes, als mit großem Aufwande einen Mißerfolg zu erzielen. Der Rheder, ein kalt berechnender, praktischer Mann, glaubte, das Sylvius Hog bemerken zu müssen.

»Zugegeben, Freund Help! Doch wenn man andere, als so unbestimmte Hindeutungen nicht erlangen kann, ist das doch kein Grund, die ganze Angelegenheit verloren zu geben. Ich bin vielmehr der Meinung, es müsse Alles versucht werden zu Gunsten jener bedauernswerthen Leute, denen ich für meine Lebensrettung verpflichtet bin. Ja, wenn es nöthig wäre, würde ich keinen Augenblick zögern, Alles, was ich mein eigen nenne, zu opfern, um Ole Kamp aufzufinden und ihn seiner Braut Hulda Hansen wieder zuzuführen.«


Sylvius Hog machte sie mit der Sachlage bekannt. (S. 122.)
Sylvius Hog machte sie mit der Sachlage bekannt. (S. 122.)

Sylvius Hog erzählte nun die Einzelheiten seines Abenteuers beim Rjukansos; er schilderte, in welcher Weise der unerschrockene Joël und dessen Schwester ihr Leben auf's Spiel gesetzt hatten, um ihm Hilfe zu bringen, und wie er ohne deren Dazwischenkunft heute nicht das Vergnüngen haben würde, der Gast seines Freundes Help zu sein.[119]

Dieser Freund Help war, wie schon bemerkt, gewiß nicht der Mann, der sich von Illusionen gefangen nehmen ließ, doch er widersprach auch nicht, selbst etwas Fruchtloses, ja Unmögliches zu unternehmen, wenn es ein Werk der Menschenliebe galt. So stimmte er schließlich also Dem, was Sylvius Hog versucht wissen wollte, bedingungslos zu.

»Sylvius, antwortete er, ich werde Ihnen mit allen meinen Kräften zur Seite stehen. Ja, Sie haben Recht! Und wäre nur die schwächste Aussicht gegeben, vom »Viken« irgend welche Ueberlebende und unter diesen vielleicht[120] den braven Ole Kamp aufzufinden, dessen Verlobte Ihnen das Leben gerettet hat, so dürfen wir dieselbe nicht vernachlässigen.

– Nein. Help, nein, und hätten wir auch nur Aussicht im Verhältniß von eins zu tausend.

– Noch heute, lieber Sylvius, werd' ich nach meinem Contor die besten Seeleute von Bergen zusammenrufen, werde eine Aufforderung an alle Diejenigen erlassen, welche gewöhnlich die isländischen oder neufundländischen Meere befahren haben. Da werden wir sehen können, was diese zu thun anrathen...


Nachdem er von seinem Freunde herzlichen Abschied genommen. (S. 125.)
Nachdem er von seinem Freunde herzlichen Abschied genommen. (S. 125.)

[121] – Und was sie zu thun anrathen, das werden wir ausführen! antwortete Sylvius Hog mit der ihm eigenen, so zu sagen ansteckenden Wärme. Ich erfreue mich der Unterstützung der Regierung und bin ermächtigt, einen staatlichen Aviso bei der Aufsuchung des »Viken« mitwirken zu lassen; außerdem rechne ich darauf, daß Niemand zögern wird, wenn es sich darum handelt, ein solches Werk zu fördern.

– Ich gehe sogleich nach dem Hafencontor, sagte Help junior.

– Wollen Sie, daß ich Sie begleite?

– Das ist nicht nöthig. Sie müssen ja ermüdet sein...

– Ermüdet!... Ich!... In meinem Alter?...

– Gleichviel; ruhen Sie aus, mein lieber und ewig junger Sylvius, und warten Sie hier meiner Rückkehr.«

An demselben Tage noch fand im Hause der Gebrüder Help eine Versammlung von Kauffartei-Capitänen, Hochseefischern und Lootsen statt. Hier fanden sich eine große Anzahl Seekundige ein, welche noch jetzt fuhren, und auch einige ältere, welche sich zur Ruhe gesetzt hatten.

Zunächst machte sie Sylvius Hog mit der Sachlage bekannt. Er berichtete ihnen, an welchem Datum – dem 3. Mai – das betreffende Document von Ole Kamp ins Meer geworfen, und an welchem Datum – dem 5. Juni – sowie in welcher Gegend – etwa zweihundert Seemeilen im Südwesten von Island – es von dem dänischen Capitän aufgefunden worden sei.

Darauf entspann sich eine ziemlich lange und sehr ernsthaft geführte Verhandlung.

Unter den wackeren Männern war übrigens keiner, der die in Rechnung zu ziehende allgemeine Richtung der Strömungen in den isländischen und neufundländischen Meeren nicht gekannt hätte, und auf Grund dieser Kenntniß war ja überhaupt nur die vorliegende Aufgabe zu lösen.

Allgemeine Uebereinstimmung herrschte auch darüber, daß zur Zeit des Schiffbruchs, das heißt in dem Zeitraume zwischen der Abfahrt des »Viken« von Saint Pierre Miquelon und der Wiederauffischung der Flasche durch das dänische Schiff, heftige sturmähnliche Böen den in Frage kommenden Theil des Atlantischen Oceans aufgewühlt hatten, und diesen so plötzlich hereinbrechenden Stürmen war der Unglücksfall offenbar zuzuschreiben. Höchst wahrscheinlich hatte der »Viken« gegen diese Stürme nicht aufkommen können und deshalb vor dem Winde treiben müssen.[122]

Gerade zur Zeit der Tagundnachtgleichen beginnen außerdem die Polareismassen nach dem Atlantischen Ocean herab zu drängen; das legte die Möglichkeit einer Collision nahe, bei der der »Viken« an einem jener schwimmenden Risse, die oft so schwer zu vermeiden sind, zerschellt wäre.

Stimmte man aber einer solchen Anschauung des Hergangs zu, warum könnte sich dann nicht die ganze oder ein Theil der Besatzung nach Ueberführung eines gewissen Proviantvorrathes auf ein solches Eisfeld geflüchtet haben? War das der Fall, dann erschien es auch, da die Eisscholle nach Nordwesten zurückgetrieben worden sein mußte, gar nicht unmöglich, daß die Ueberlebenden darauf nach irgend einem Punkte der grönländischen Küste gelangt sein konnten. In dieser Richtung und in diesen Meerestheilen mußten demnach etwaige Nachforschungen unternommen werden.

So lautete die von den versammelten Seeleuten auf die von Sylvius Hog gestellten Fragen einstimmig abgegebene Antwort. Ohne Zweifel mußte in der hier angedeuteten Weise vorgegangen werden. Und doch konnte man wohl nur darauf rechnen, Wrackstücke des »Viken« aufzufinden, im Falle derselbe wirklich mit einem jener gewaltigen Eisberge zusammengestoßen war, denn es erschien gar so zweifelhaft, Ueberlebende vom Schiffbruche auch jetzt noch zu entdecken. Auf seine den letzten Punkt berührende Frage sah der Professor recht wohl, daß auch die Urtheilsfähigsten nicht antworten konnten oder nicht antworten wollten. Das war freilich kein Grund, nun auch die Hände in den Schooß zu legen, im Gegentheil stimmten Alle dahin überein, ohne Aufschub ans Werk zu gehen.

In Bergen ankern gewöhnlich einige zur norwegischen Regierungsflotte gehörige Fahrzeuge. Zu diesem Hafen gehören insbesondere drei Avisos, welche, Trondhjem, Finmarken, Hammerfest und das Nordcap anlaufend, den Dienst an der Westküste versehen. Eben jetzt lag einer dieser Avisos im Hafen vor Anker.

Nach Vollendung eines kurzen Schriftstückes, welches die Ansichten der versammelten Seeschiffer wiedergab, eilte Sylvius Hog sofort an Bord des Aviso »Telegraf«. Hier unterrichtete er dessen Commandanten von der speciellen Mission, mit der die Regierung ihn betraut hatte.

Der Commandant empfing den Professor mit höflichster Zuvorkommenheit und erklärte sich zur thatkräftigsten Mithilfe bereit. Auch dieser Seeofficier hatte schon wiederholt jene Meere während der langen und oft gefährlichen Züge befahren, welche die Hochseefischer von Bergen, von den Lofoden und von[123] Finmarken bis nach den Fischgründen von Island und Neufundland unternehmen. Er konnte bei dem geplanten Werke der Nächstenliebe also auch persönliche Kenntnisse verwerthen und versprach, sich jenem mit voller Kraft zu widmen.

Im Betreff des Schriftstückes mit Andeutung über die vermuthliche Oertlichkeit des stattgefundenen Schiffbruchs billigte er vollständig die darin ausgesprochenen Anschauungen. Auch seiner Ansicht nach kam es darauf an, das Meer zwischen Island und Grönland abzusuchen, um etwaige Ueberlebende oder mindestens ein Wrackstück vom »Viken« zu finden. Wenn der Commandant hiermit keinen Erfolg erzielte, wollte er in den benachbarten Gewässern und nöthigenfalls auch im Bassins-Meere an dessen Ostküste seine Nachforschungen fortsetzen.

»Ich bin bereit, in See zu gehen, Herr Hog, setzte er hinzu. Unser Bedarf an Kohlen und Nahrungsmitteln ist vollständig vorhanden, meine Mannschaft ist an Bord und ich kann noch heute die Anker lichten.

– Ich danke Ihnen, Herr Commandant, antwortete der Professor, und ich bin Ihnen tief verpflichtet für den mir bereiteten Empfang. Doch gestatten Sie noch eine Frage. Können Sie mir sagen, wie viel Zeit es beanspruchen wird, das grönländische Meer zu erreichen?

– Mein Aviso legt elf Knoten (circa 20 1/2, »Kilometer) in der Stunde zurück. Da die Entfernung von Bergen nach Grönland zwanzig Grade beträgt, rechne ich daselbst nach kaum acht Tagen anzukommen.

– Eilen Sie ja so schnell es angeht, Herr Commandant, antwortete Sylvius Hog. Wenn einige Schiffbrüchige der Katastrophe zu entgehen vermochten, so leiden sie doch nun schon zwei Monate gewiß Mangel an dem Nöthigsten, sterben vielleicht Hungers an verlassenem Strande....

– Wir dürfen keine Stunde verlieren, Herr Hog. Noch heute werde ich mit Eintritt der Ebbe in See stechen und die größte Geschwindigkeit einhalten; sobald ich dann irgend ein Merkzeichen finde, werde ich das Ober-Seeamt in Christiania durch den Telegraphen von Neufundland benachrichtigen.

– Reisen Sie mit Gott, Herr Commandant, schloß Sylvius Hog, und möge Ihre Mühe von Erfolg gekrönt sein!«

Noch denselben Tag lichtete, von den theilnahmsvollen Hurrahs der ganzen Bewohnerschaft Bergens zum Abschied begrüßt, der »Telegraf« seine Anker, und nicht ohne lebhafte Erregung sahen ihn die Leute durch die ersten engen[124] Wasserstraßen steuern und dann hinter den letzten Eilanden des Fjords verschwinden.

Sylvius Hog beschränkte seine Bemühungen aber nicht auf die Expedition allein, zu welcher er den Aviso »Telegraf« veranlaßt hatte. Seiner Meinung nach ließ sich noch mehr thun, indem man die Hilfsmittel, eine Spur vom »Viken« aufzufinden, vervielfältigte. War es nicht möglich, einen gewissen Wetteifer der Handelsschiffe und Fischerfahrzeuge zu entfachen, sie alle bei den Nachforschungen zu betheiligen, während sie ihre Fahrten nach den Gewässern der Färöer und Islands ausführten? Ja, gewiß; so wurde denn auch von Staatswegen eine Prämie von zweitausend Mark jedem Fahrzeuge zugesichert, das einen auf das verschollene Schiff bezüglichen Hinweis bei bringen, fünftausend Mark aber Demjenigen, der einen der Ueberlebenden von dem Schiffbruche mit heimführen würde.

Man ersieht hieraus, daß Sylvius Hog während seines zweitägigen Aufenthalts in Bergen alles Mögliche daran setzte, um den Erfolg dieser Nachforschungen zu sichern. Darin wurde er übrigens bereitwilligst von seinem Freunde Help junior und den anderen Seefahrern unterstützt. Help hätte es gern gesehen, ihn noch einige Zeit bei sich zurückhalten zu können. Sylvius Hog dankte ihm aufrichtig, lehnte es aber ab, seinen Aufenthalt zu verlängern. Es verlangte ihn danach, wieder bei Hulda und Joël zu sein, die er nicht länger als nöthig sich allein überlassen zu wissen wünschte. Help junior versicherte ihm noch, daß jede neu eintreffende Nachricht unverzüglich nach Dal übermittelt werden sollte, dem Professor allein blieb jedoch die Aufgabe, die Familie Hansen darüber zu unterrichten.

Nachdem Sylvius Hog am Morgen des 4. von seinem Freund Help junior herzlichen Abschied genommen, schiffte er sich wieder auf dem »Run ein, um über den Hardanger-Fjord zu fahren, und wenn nicht ganz unvorhergesehene Hindernisse eintraten, hoffte er am Abend des 5. in Telemarken wieder zurück zu sein.[125]

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 115-126.
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