XII.

[103] Das war also das Geheimniß des jungen Seemannes, das die Aussicht, auf welche hin er hoffte, seiner Verlobten ein, wenn auch kleines Vermögen zuführen zu können....

Ein Lotterie-Loos, das er vor der Abfahrt gekauft hatte.... Und in dem Augenblicke, wo der »Viken« untergehen sollte, hatte er es, zugleich mit einem[103] letzten Abschiedsgruße an Hulda, in einer Flasche geborgen und diese ins Meer geworfen.

Jetzt fühlte sich Sylvius Hog niedergeschmettert. Er sah einmal den Brief und dann wieder das Schriftstück an, aber er sprach nicht mehr. Was hätte er jetzt auch noch sagen können? Welcher Zweifel konnte jetzt noch aufkommen an dem Unfall des »Viken« und an dem traurigen Tod aller Derjenigen, die er nach Norwegen zurücktragen sollte?

Während Sylvius Hog den an ihn gerichteten Brief las, hatte Hulda sich noch zu bemeistern und gegen die sie beklemmende Angst anzukämpfen vermocht. Nach den letzten Worten Oles war sie aber Joël in die Arme gesunken. Sie mußte nach ihrem Zimmer gebracht werden, wo ihre Mutter ihr die erste Pflege angedeihen ließ. Wieder zu sich gekommen, wünschte sie allein zu bleiben, und jetzt betete sie, vor ihrem Bette knieend, für Oles Seele.

Frau Hansen war nach der großen Stube zurückgekehrt. Erst that sie zwar einen Schritt auf den Professor zu, als ob sie das Wort an diesen richten wolle, dann wendete sie sich aber nach der Treppe und verschwand.

Auch Joël war, nachdem er seiner Schwester die nöthige Unterstützung geleistet, hinausgegangen. Er erstickte in diesem Hause, das allem Unglück offen zu stehen schien. Er brauchte frische, freie Luft, die Luft des entfesselten Sturmes, und einen guten Theil der Nacht irrte er an den Ufern des Maan umher.

Sylvius Hog war jetzt allein. Im ersten Augenblick von diesem Donnerschlage wie vernichtet, gelang es ihm doch bald, seine gewohnte Energie wieder zu gewinnen. Nachdem er zwei- oder dreimal die große Stube durchschritten, horchte er, ob nicht ein Ruf des jungen Mädchens bis zu ihm dringen würde. Da er nichts hörte, setzte er sich an den Tisch und überließ sich seinen, ihn wild bestürmenden Gedanken.

»Hulda, sagte er für sich, Hulda sollte ihren Verlobten nicht wieder sehen! Ein solches Unglück wäre möglich?... Nein, gegen einen solchen Gedanken lehnt sich jede Fiber meines Inneren auf. Der »Viken« ist untergegangen... zugegeben; ist das aber gleich der Gewißheit, daß auch Ole den Tod gefunden habe? Ich kann es nicht glauben! Bei allen Schiffbrüchen kann nur eine weit längere Zeit lehren, daß Niemand den Unfall überlebt habe. Ja, ich zweifle noch, ich will noch zweifeln an dem Schlimmsten, und sollte weder Hulda, Joël, noch sonst Jemand meine Zweifel theilen können.


 »Nimm es hin mit meinem letzten Lebewohl an Dich!...« (S. 103.)
»Nimm es hin mit meinem letzten Lebewohl an Dich!...« (S. 103.)

Weil der »Viken« vom Meere verschlungen wurde,[104] erklärt es sich ja, daß kein Wrackstück von ihm auf dem Meere schwimmen mag; nein, nein... nichts als jene Flasche, der der arme Ole seine letzten Gedanken und mit diesen das einzige Werthstück, das er auf der Welt besaß, anvertraute.«

Sylvius Hog hielt das Schriftstück in der Hand, er starrte es an, betastete es, drehte es wiederholt um, als suchte er noch mehr heraus zu lesen aus diesem Papierstückchen, auf welches der arme junge Mann sein ganzes Glück der Zukunft gebaut hatte.[105]

Der Professor wollte dasselbe jedoch möglichst genau prüfen; er erhob sich und lauschte, ob das junge Mädchen nach ihrer Mutter oder ihrem Bruder riefe, und begab sich dann nach seinem Zimmer.

Das war ein Lotterie-Loos der Schulen von Christiania, welche Lotterie gerade damals in Norwegen besonders beliebt war und deren großes Loos hunderttausend norwegische Mark (= etwa 75.000 Reichsmark) betrug. Der Gesammtwerth der übrigen Gewinne belief sich nur auf neunzigtausend norwegische Mark, die Anzahl der wirklich abgesetzten Loose aber auf nicht weniger als eine Million Stück!

Ole Kamp's Lotterie-Loos zeigte die Nummer 9672. Doch ob diese Nummer eine gute oder eine schlechte war, ob der junge Seemann irgend einen geheimen Grund hatte, der ihm zu derselben besonderes Vertrauen einflößte, jedenfalls würde er zur Stunde der Ziehung genannter Lotterie, die am 15. Juli, das heißt nach Verlauf von achtzehn Tagen erfolgen sollte, nicht anwesend sein. Seiner letzten Bitte nach sollte Hulda dafür an seine Stelle treten, um auf die dort gebräuchlichen Anfragen nach dem Inhaber einer mit Gewinn gezogenen Nummer zu antworten.

Bei dem Schein einer Kerze in niedrigem Leuchter las Sylvius Hog die auf der Rückseite des Looses geschriebenen Zeilen immer und immer wieder mit größter Aufmerksamkeit, als müsse er noch einen verborgenen Sinn in denselben entdecken.

Die wenigen Zeilen waren mit Tinte geschrieben. Man sah deutlich, daß Oles Hand dabei nicht gezittert hatte, ein Beweis, daß der junge Steuermann des »Viken« auch im Moment des Schiffbruchs seine Kaltblütigkeit völlig bewahrt haben mußte. Er befand sich also gewiß in einem geistigen Zustande, der ihm gestattete, aus jedem sich ihm bietenden Rettungsmittel noch Nutzen zu ziehen; er konnte sich an jedem schwimmenden Wrackstück, an jeder treibenden Planke halten, wenn nicht Alles in den wirbelnden Trichter, den ein sinkendes Schiff um sich bildet, mit hinabgerissen worden war.

Nicht selten deuten solche im Meere aufgefangene Schriftstücke wenigstens ungefähr an, wo der Unfall stattgefunden hat. Auf dem Vorliegenden fand sich freilich weder eine Angabe der geographischen Länge und Breite, noch eine Andeutung, welches Land oder welche Insel etwa in der Nähe gelegen hätten. Daraus mußte man schließen, daß der Capitän vielleicht ebenso wenig wie die Besatzung gewußt hatte, wo sich der »Viken« damals befand. Von einem jener[106] schrecklichen Stürme, denen kein Segelschiff zu widerstehen vermag, war er zweifelsohne mit weggerissen und weit aus seinem Curse verschlagen worden, und da der Himmel gewiß keine Sonnenbeobachtung gestattete, so hatte die Lage des Schiffes seit mehreren Tagen auch nicht bestimmt werden können. Deshalb wurde es mehr als wahrscheinlich, daß man vielleicht niemals erfahren würde, wo sich – in der Nähe von Amerika, in den Gewässern von Neufundland oder Island – der Abgrund über den Schiffbrüchigen geschlossen hatte.

Das war freilich ein Umstand, der alle Hoffnung auch Demjenigen rauben mußte, welcher unbedingt nicht verzweifeln wollte.

Mit jeder noch so unbestimmten Andeutung in der Hand hätte man doch wenigstens Nachforschungen anstellen lassen, ein Schiff nach dem Ort der Katastrophe aussenden können, um vielleicht einzelne erkennbare Ueberreste aufzufinden. Wer konnte wissen, ob nicht einer oder der andere Mann der Besatzung irgend einen Küstenpunkt des arktischen Festlandes erreicht hatte, wo die Leute nun ohne Hilfe und aller Möglichkeit, in ihr Vaterland zurückzukehren, beraubt, sich aufhielten?

Derart waren die Bedenken, welche nach und nach in Sylvius Hog aufstiegen – Bedenken, die für Hulda und Joël freilich unannehmbar geblieben wären und die ihnen zu erwecken der Professor sich sorglich hütete, da die Erschütterung ihrer Hoffnungen ihnen gar so schmerzlich gewesen wäre.

»Indeß, sagte er sich, wenn das Schriftstück auch keinen weiteren Hinweis bietet, der sich verwerthen ließe, so ist doch mindestens bekannt, in welcher Gegend die Flasche aufgefischt wurde. Dieser Brief meldet das zwar nicht, doch das Seeamt in Christiania kann darüber nicht im Unklaren sein, und das wäre ja eine Andeutung, aus der sich einiger Nutzen ziehen ließe, wenn man die Richtung der Meeresströmungen und die der dort vorherrschenden Winde in Bezug auf das vermuthliche Datum des Schiffbruchs in Rechnung zöge. Auf jeden Fall will ich sogleich noch einmal schreiben. So wenig Aussicht auf günstigen Erfolg sie auch haben mögen, unbedingt müssen Nachforschungen so schnell als möglich angeordnet werden. Nein, ich werde die arme Hulda niemals im Stich lassen; und nie werd' ich, ohne unzweifelhafte Beweise dafür in Händen zu haben, an den Tod ihres Verlobten glauben.«

Das war der Gedankengang Sylvius Hog's. Gleichzeitig nahm er sich aber auch vor, von den Schritten, die er in dieser Angelegenheit thun wollte, von den Bemühungen, die er mit Aufwendung seines ganzen Einflusses zu[107] veranlassen hoffte, nicht zu sprechen. Weder Hulda, noch ihr Bruder erfuhr also etwas von dem, was er nach Christiania schrieb. Ferner beschloß er, seine für den folgenden Tag angesagte Abreise auf unbestimmte Zeit zu verschieben – oder er wollte vielmehr nach einigen Tagen abfahren, dann aber, um sich nach Bergen zu begeben. Dort mußte er von den Herren Gebrüder Help Alles bezüglich des »Viken« erfahren können, dort wollte er auch die Ansicht der mit derartigen Vorkommnissen vertrautesten Seefischer kennen lernen, um danach die ersten zu unternehmenden Nachforschungen zu bestimmen.

Inzwischen hatten sich, auf die vom Seeamt abgegebenen Mittheilungen hin, die Tagesblätter von Christiania, darauf die von ganz Norwegen und Schweden, endlich überhaupt die Zeitungen ganz Europas der eigenartigen Thatsache – der Verwandlung eines Lotterie-Looses in ein Document – bemächtigt. Es lag entschieden etwas Rührendes in dieser Abschiedssendung eines Verlobten an seine Braut, und die öffentliche Meinung wurde dadurch, gewiß nicht ohne Grund, theilnahmsvoll erregt.

Das hervorragendste der Journale Norwegens, das »Morgen-Blad«, berichtete zuerst etwas ausführlicher die Geschichte des »Viken« und besonders Ole Kamp's. Von den siebenunddreißig anderen Zeitungen, welche jener Zeit im ganzen Lande erschienen, unterließ es nicht eine einzige, dieselbe in Theilnahme erweckender Weise weiter zu verbreiten; »Illustreret Nyhedsblad« brachte ein (wenn auch erfundenes) Bild des Schiffbruchs. Man sah darauf den untergehenden »Viken«, seine Segel in Fetzen, seine Masten zur Hälfte gebrochen und das Hintertheil schon halb in den Wogenschwall eingetaucht. Auf dem Vordertheile stehend, warf Ole eben die Flasche ins Meer, in demselben Augenblick, wo er mit dem letzten Gedanken an Hulda seine Seele der Gnade des himmlischen Vaters empfahl. In allegorischem Fernbilde trug inmitten leichter Dunstbildung eine Welle die Flasche zu den Füßen des jungen Mädchens. Das Ganze erschien im Rahmen jenes Lotterie-Looses, dessen Nummer daraus schwach hervorschimmerte. Es war ja eine recht naive Darstellung; bei einer Bevölkerung aber, welche noch immer die Legenden von Wassernixen und Walküren hochhält, mußte sie gewiß einen großen Erfolg erzielen.

Das traurige Vorkommniß fand nun in den Ländern Europas und sogar bis hinüber nach Nordamerika immer weitere Verbreitung. Mit dem Namen Huldas und Oles wurde auch deren Geschichte durch Kreide- und Federzeichnungen unter die Leute gebracht. Ohne etwas davon zu wissen, genoß die[108] junge Norwegerin die Auszeichnung, die öffentliche Aufmerksamkeit in Athem zu erhalten. Das arme Mädchen hatte gar keine Ahnung davon, wie viel sie im Munde der großen Menge war, und es hätte sie auch nichts von dem Schmerz ablenken können, der ihr ganzes Sein und Wesen mehr und mehr erfüllte.

Nach dem Vorhergehenden wird man sich gar nicht mehr über eine Wirkung verwundern können, die auf beiden Continenten alsbald zu Tage trat – eine sehr erklärliche Wirkung, weil die menschliche Natur einmal dazu neigt, sich von allem scheinbar Uebernatürlichen gern gefangen nehmen zu lassen. Ein Lotterie-Loos, das unter solchen Umständen aufgefunden wurde, diese Nummer 9672, welche, offenbar durch die Vorsehung begünstigt, den Wogen noch entrissen wurde, mußte unbedingt ein so zu sagen prädestinirtes Loos sein. Erschien dasselbe denn nicht wie durch ein Wunder dazu ausersehen, jedenfalls das große Loos von hunderttausend Mark zu gewinnen? War es nicht ein Vermögen, auf welches Ole Kamp so kindlich vertrauensvoll gerechnet hatte?

Niemand wird also staunen, daß in Dal, so ziemlich aus allen Ländern der Welt, sehr ernstgemeinte Angebote, das Loos zu erkaufen, einliefen, wenn Hulda Hansen nur zustimmte, es jemand Anderem zu überlassen. Zuerst waren die gebotenen Preise nur mäßig hoch, sie wuchsen aber von Tag zu Tage. Es ließ sich also voraussehen, daß es mit der Zeit und je nachdem sich der Zeitpunkt der Ziehung jener Lotterie mehr näherte, noch zu dringlichem Ueberbieten zwischen den Interessenten kommen würde.

Diese Angebote kamen, wie gesagt, nicht nur aus den skandinavischen Ländern, deren Bewohner so gern bereit sind, das Eingreifen übernatürlicher Kräfte in irdische Angelegenheiten anzuerkennen, sondern auch aus dem Auslande und selbst aus Frankreich. Die so phlegmatischen Engländer rührten sich hierbei ebenso, wie nach ihnen die Amerikaner, bei welchen die Dollars sonst, wenn es sich um so wenig praktische Phantasien handelt, nicht so leicht locker zu werden pflegen, kurz, es liefen eine ganz erhebliche Menge Briefe deshalb in Dal ein. Die Tagesblätter unterließen es nicht, den Betrag jener der Familie Hansen gethanen Angebote zu veröffentlichen. Man könnte wirklich sagen, es entstand eine Art kleiner Börse, an der der Tagescours immer, aber stets nur im Sinne der Hausse, wechselte.

So kam es dahin, daß schon mehrere hundert Mark für das Loos geboten wurden, was doch im Grunde nur ein Milliontel Aussicht hatte, das große Loos zu gewinnen. Das war ja ohne Zweifel thöricht, abergläubische Vorstellungen[109] lassen sich aber einmal nicht mit dem Maßstabe gesunder Vernunft messen. Die Einbildung der Leute war einmal angeregt, und mit der dieser innewohnenden Kraft mußte sie sich immer weiter und gewissermaßen höher entwickeln.

Das war auch thatsächlich der Fall. Schon acht Tage später verkündeten die Zeitungen, daß der gebotene Preis des Looses tausend, fünfzehnhundert, dann zweitausend Mark überschritten habe. Ein Engländer aus Manchester war bis auf zweihundert Pfund Sterling oder zweitausendfünfhundert Mark gegangen. Ein Amerikaner aus Boston überbot diesen noch und erklärte sich bereit, die Nummer 9672 von der Lotterie der Schulen Christianias für tausend Dollars, d. h. für fünftausend Mark, zu erwerben.

Es versteht sich von selbst, daß sich Hulda um das, was gewisse Leute in dieser Angelegenheit in Feuer und Flammen brachte, nicht im mindesten bekümmerte. Von den das Loos betreffenden, in Dal angelangten Briefen wollte sie überhaupt keine Kenntniß nehmen. Der Professor vertrat jedoch die Meinung, man dürfe sie über die eingelaufenen Gebote wenigstens nicht ganz im Unklaren lassen, da Ole Kamp ihr das Besitzrecht an der Nummer 9672 ja gleichsam testamentarisch abgetreten hatte.

Hulda wies alle Gebote zurück – das Loos war ja gleichzeitig der letzte Brief ihres Verlobten.

Und man glaube ja nicht, daß das arme Kind daran etwa mit dem Hintergedanken hing, es könne ihr da durch vielleicht einer der lockenden Lotterie-Gewinne zufallen. Nein, sie sah in demselben das letzte Lebewohl eines Schiffbrüchigen, eine Reliquie, welche sie sorgfältig aufbewahren wollte. Ja, sie dachte gar nicht an die Aussicht eines ihr zufallenden Vermögens, das Ole nicht hätte mit ihr theilen können. Was kann es Rührenderes, Zarteres geben, als diesen frommen Cultus eines Andenkens!

Wenn Sylvius Hog und Joël die ihr gemachten Angebote Hulda mittheilten, hatten sie dabei gewiß keineswegs die Absicht, diese zu beeinflussen. Sie sollte vielmehr nur der Eingebung ihres Herzens folgen. Wir wissen ja schon, wie ihr Herz entschieden hatte.

Joël stimmte seiner Schwester übrigens vollkommen zu. Das Lotterie-Loos Ole Kamp's sollte Niemandem und um keinen Preis abgetreten werden.

Sylvius Hog ging noch weiter, als dem blos zuzustimmen; er beglückwünschte sie, diesem ganzen Handel kein Ohr zu leihen. Sollte man dieses Loos[110] an den Einen verkauft, an den Nächsten weiter verschachert und so in eine Art Papiergeld verwandelt sehen bis zu dem Augenblicke, wo die Ziehung der Lotterie daraus höchst wahrscheinlich ein werthloses Stückchen Makulatur machte?

Ja, Sylvius Hog ging immer noch weiter. Sollte der Zufall auch ihn abergläubisch gemacht haben? Das wohl nicht, doch wäre Ole Kamp anwesend gewesen, so würde er zu ihm wahrscheinlich gesagt haben:

»Behaltet Euer Loos, junger Freund, behaltet es selbst! Man hat es zuerst aus dem Schiffbruche gerettet und Euch selbst nachher. Nun, es wird sich ja zeigen... man weiß manchmal nicht... nein... man kann ja nicht wissen...!«

Und wenn Sylvius Hog, der Professor der Rechtswissenschaft und Abgeordnete des Storthing, so dachte, darf sich dann Jemand über das Vorurtheil der großen Menge verwundern? Nein, es erschien dann ja so natürlich, daß diese Nummer 9672 eine starke Preissteigerung erfuhr.

Im Hause der Frau Hansen gab es also Niemand, der gegen das so achtungswerthe Gefühl, welches die Handlungsweise des jungen Mädchens bestimmte, Einspruch erhoben hätte – Niemand, außer vielleicht ihre Mutter.

In der That hörte man Frau Hansen wiederholt, und vorzüglich in Abwesenheit Huldas, sich nicht undeutlich beklagen, was Joël recht schweren Kummer verursachte. Seine Mutter – so glaubte er wenigstens – werde es nicht immer bei bloßen Klagen bewenden lassen, sondern würde sich wohl insgeheim mit Hulda wegen der dieser gemachten Angebote ins Einvernehmen zu setzen suchen.

»Fünftausend Mark für dieses Loos! wiederholte sie öfters. Es bietet Einer fünftausend Mark!«

Von dem Zartgefühl, das ihre Tochter alle solche Gebote ablehnen ließ, wollte Frau Hansen offenbar nichts wissen, sie dachte nur an die, in ihren Verhältnissen allerdings nicht unbedeutende Summe von fünftausend Mark.


Hulda wies alle Gebote zurück. (S. 110.)
Hulda wies alle Gebote zurück. (S. 110.)

Ein einziges Wort von Hulda hätte dieselbe in das Haus gezaubert. Sie selbst glaubte, obwohl sie Voll blut-Norwegerin war, nicht im mindesten an den übernatürlichen Werth jenes Looses. Und sichere fünftausend Mark hinzuopfern für ein Milliontel Wahrscheinlichkeit, hunderttausend zu gewinnen, das konnte ihr kühler, nüchterner Kopf einmal nicht fassen.

Es liegt ja auf der Hand, daß das Gewisse für das Ungewisse hinzugeben – von jedem Aberglauben einmal abgesehen – unter so völlig unsicheren[111] Verhältnissen nicht eben ein Act der Klugheit zu nennen war. Doch, wir betonen das nochmals, dieses Loos war ja für Hulda kein Lotterie-Loos, sondern vielmehr der letzte Brief Ole Kamp's, und ihr wäre das Herz gebrochen bei dem Gedanken, sich davon trennen zu sollen.

Frau Hansen mißbilligte indeß immer unzweideutiger das Verhalten ihrer Tochter; man fühlte es heraus, daß sich ihrer eine dumpfe Erregung bemächtigte. Von einem Tage zum anderen war zu fürchten, daß sie Hulda ernstlich bedrängen würde, einen endgiltigen Entschluß zu fassen, wie sie selbst[112]

denselben wünschte. Schon hatte sie sich in diesem Sinne gegen Joël geäußert, der freilich ohne Bedenken für die Anschauung seiner Schwester Partei ergriff.

Natürlich wurde Sylvius Hog über Alles, was hier unter der Oberfläche vorging, auf dem Laufenden erhalten. Das war noch ein weiterer Schmerz zu dem, der Hulda jetzt schon quälte, und er bedauerte das aufrichtig.


Der Fischmarkt in Bergen. (S. 117.)
Der Fischmarkt in Bergen. (S. 117.)

Joël sprach ihm zuweilen davon.

»Hat meine Schwester nicht völlig Recht mit ihrer Weigerung, und thue ich etwa nicht gut daran, sie in ihrem Widerstande zu unterstützen?[113]

– Ohne Zweifel! antwortete Sylvius Hog. Vom mathematischen Gesichtspunkte aus hat Ihre Mutter freilich einmillionmal mehr Recht. In der Welt ist aber nicht Alles mathematisch zu betrachten, und das Rechnen hat mit Herzensangelegenheiten nichts zu thun.«

Während der letzten beiden Wochen bedurfte Hulda wirklich der Ueberwachung. Von ihrem Schmerze überwältigt, ließ sie ernstlich für ihre Gesundheit fürchten. Glücklicherweise fehlte es ihr nicht an sorgfältiger Pflege. Auf einen Ruf Sylvius Hog's kam der berühmte Doctor Boek, sein langjähriger Freund, nach Dal, um sich die junge Leidende anzusehen. Er konnte ihr freilich nur Vermeidung jeder körperlichen Anstrengung und, wenn möglich, Ruhe des Gemüths anempfehlen. Das richtige Mittel, sie genesen zu lassen, blieb immer das eine, die Rückkehr Oles, und dieses Mittel konnte ja nur Gott allein in Anwendung bringen. Jedenfalls ließ es Sylvius Hog dem jungen Mädchen an tröstlichem Zuspruch nicht fehlen und hörte nicht auf, ihr von seiner Hoffnung einen Theil einzuflößen. So wenig begründet ihm diese auch selbst erschien, so konnte und wollte Sylvius Hog doch noch lange nicht verzweifeln.

Dreizehn Tage waren seit dem Eintreffen des vom Seeamte in Christiania nach Dal gesendeten Looses verflossen. Jetzt schrieb man den 30. Juni. Noch vierzehn Tage und die Ziehung der Lotterie der Schulen sollte mit großer Feierlichkeit in einem der geräumigsten Gebäude Christianias vor sich gehen.

Gerade an diesem 30. Juni erhielt Sylvius Hog des Morgens als Antwort auf seine wiederholten Eingaben ein neues Schreiben vom obersten Seeamte. Dasselbe bevollmächtigte ihn, sich unmittelbar mit den Seebehörden von Bergen ins Einvernehmen zu setzen, und überließ es seinem Ermessen, mit Unterstützung des Staates sofort Nachforschungen bezüglich des »Viken« anstellen zu lassen.

Der Professor wollte von dem, was er darauf zu unternehmen gedachte, Hulda und Joël noch nichts sagen. Er begnügte sich, ihnen seine Abreise zu melden, für welche er geschäftliche Angelegenheiten als Grund angab, die ihn wohl einige Tage in Anspruch nehmen könnten.

»Ach, ich bitte Sie herzlich, bester Herr Sylvius, verlassen Sie uns nicht! flehte ihn das arme Mädchen an.

– Euch verlassen... Euch, die Ihr meine Kinder geworden seid?«... antwortete Sylvius Hog.

Joël erbot sich, ihn zu begleiten. Da er aber die Vermuthung nicht aufkommen lassen wollte, daß er sich nach Bergen begebe, gestattete er ihm nur[114] bis Moel mitzukommen. Es erschien auch nicht rathsam, Hulda mit ihrer Mutter allein zu lassen. Nachdem jene einige Tage bettlägerig gewesen war, fing sie jetzt wieder an aufzustehen; sie war aber noch sehr schwach, hütete das Zimmer und Joël empfand es recht wohl, daß er sie nicht verlassen dürfe.

Um elf Uhr stand der Schußkarren vor der Thür des Gasthauses. Der Professor nahm darin mit Joël Platz, nachdem er sich von dem jungen Mädchen warm verabschiedet hatte. Bald darauf verschwanden Beide an der nächsten Biegung des Weges unter den großen Birken des Flußufers.

Noch am selben Abend traf Joël in Dal wieder ein.

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 103-115.
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