XI.

[90] Joël erzählte nun die Geschichte Ole Kamp's. Sehr ergriffen von der Schilderung, lauschte ihm Sylvius mit gespannter Aufmerksamkeit. Jetzt wußte er Alles. Er hatte eben auch den letzten Brief gelesen, der die Rückkehr Oles ankündigte, und Ole kam doch noch immer nicht. Welche Unruhe, welche Angst bereitete das der Familie Hansen!

»Und ich, ich wähnte immer bei ganz glücklichen Menschen zu wohnen,« sagte er für sich.

Vergegenwärtigte er sich aber Alles einzeln, was er gelegentlich beobachtet hatte, so schien es ihm, daß die beiden Geschwister sich schon ihrer Verzweiflung überließen, wo doch alle Hoffnung noch nicht aufzugeben war. Rechneten sie nach den Tagen des Mai und Juni, so gestaltete die Einbildung ihnen diese Zahl weit größer, so als wenn sie dieselben zweimal gezählt hätten.

Der Professor nahm sich vor, ihnen darüber andere Ansichten beizubringen, und wenn er dazu auch nicht zwingende Beweisgründe an der Hand hatte, so waren es doch ganz beachtenswerthe und annehmbare, durch welche er ihnen das Ausbleiben des »Viken« erklärlich zu machen suchte.

Immerhin war sein Gesicht recht ernst geworden. Die Betrübnisse Huldas und Joëls hatten ihn tief ergriffen.

»Hört mich an, liebe Kinder, sagte er, setzt Euch neben mich und laßt uns den Fall besprechen.

– Und was könnten Sie uns zum Troste sagen, Herr Sylvius? antwortete Hulda, deren Schmerz sie übermannte.

– Ich werde Euch nur sagen, was ich für richtig halte, erwiderte der Professor, und das ist Folgendes: Ich habe reiflich nachgedacht über Alles, was Joël mir mitgetheilt hat, und da scheint mir, als ob Eure Ungeduld doch etwas übertrieben wäre. Fern sei es von mir, Euch mit unhaltbaren Versicherungen aufrichten zu wollen, aber es ist doch nicht mehr als recht, die Sache so anzusehen, wie sie liegt.

– Ach, Herr Sylvius, klagte Hulda, mein armer Ole ist doch mit dem »Viken« zu Grunde gegangen und ich werd' ihn nimmermehr wiedersehen![90]

– Schwester... liebste Schwester! rief Joël bittend, beruhige Dich und lass' Herrn Sylvius sprechen....

– Und behalten wir ruhiges Blut, liebe Kinder. Seht einmal, zwischen dem 15. und dem 20. Mai sollte Ole also in Bergen wieder eintreffen?

– Ja, sagte Joël, zwischen dem 15. und dem 20. Mai, wie sein Brief uns meldete, und jetzt haben wir schon den 9. Juni.

– Das gibt eine Verzögerung von zwanzig Tagen über den letzten, für die Rückkehr des »Viken« angenommenen Zeitpunkt hinaus. Ich gebe zu, daß das etwas bedeutet; indeß darf man von einem Segelschiffe nicht verlangen, was man von einem Dampfer erwarten könnte.

– Eben das hab' ich Hulda auch gesagt und wiederhole es ihr noch immer, sagte Joël.

– Und daran thun Sie gut, mein Sohn, erklärte Sylvius Hog. Außerdem wäre es ja möglich, daß der »Viken« ein altes Schiff ist, welches, wie die meisten der Neufundlandsfahrer, vorzüglich wenn dieselben schwer beladen sind, nur schlecht segelt. Andererseits hat auch seit den letzten Wochen recht schlimmes Wetter geherrscht. Vielleicht hat Ole nicht einmal zu der Zeit, welche sein Brief angibt, abfahren können. In diesem Falle brauchte er sich nur um acht Tage verspätet zu haben, so könnte der »Viken« noch gar nicht eingetroffen sein, und Ihr würdet wahrscheinlich noch einen weiteren Brief von ihm zu erwarten haben Alles, was ich Euch hier sage, ist, das dürft Ihr glauben, das Ergebniß ernstlichen Nachdenkens. Wißt Ihr übrigens so genau, ob die dem »Viken« mitgegebenen Instructionen ihm nicht eine gewisse Freiheit des Entschlusses einräumten, je nach dem Bedarf des Marktes seine Ladung vielleicht in einem anderen Hafen zu löschen?

– Das würde Ole mir geschrieben haben, fiel Hulda ein, die sich auch an eine solche Hoffnung nicht zu klammern vermochte.

– Wer beweist, daß er nicht geschrieben hätte? erwiderte der Professor; und wenn er es gethan, dann wäre nicht der »Viken« im Nachzuge, sondern nur das Postschiff von Amerika. Nehmt einmal an, Oles Schiff hätte einen Hafen der Vereinigten Staaten anlaufen müssen, das erklärte sofort, warum noch kein weiterer Brief von ihm in Europa eingelaufen wäre.

– In den Vereinigten Staaten, Herr Sylvius?

– Das kommt ja manchmal vor, und es reicht dann hin, ein Postschiff zu verfehlen, um seine Freunde recht lange ohne Nachricht lassen zu müssen[91] Auf jeden Fall haben wir einen recht einfachen Weg einzuschlagen, nämlich den, bei den Rhedern in Bergen nähere Erkundigungen einzuziehen. Kennt Ihr dieselben?

– Ja, sagte Joël, es sind die Herren Gebrüder Help.

– Gebrüder Help senior Söhne? rief Sylvius Hog.

– Ja, dieselben.

– Oh, die kenne ich ja auch. Der jüngere, Help junior, wie man ihn nennt, obwohl er schon in meinem Alter ist, gehört zu meinen besten Freunden. Wir haben in Christiania oft genug zusammen gespeist. Gebrüder Help, liebe Kinder! O, durch diese werde ich sehr bald erfahren, wie es mit dem »Viken« steht! Noch heut' werd' ich an sie schreiben, und wenn es nöthig würde, suche ich sie persönlich auf.

– Wie gut Sie sind, Herr Sylvius! riefen Hulda und Joël gleichzeitig.

– Ach, keinen Dank, ich bitte Euch! Nein, ich verbiete es Euch. Hab' ich Euch denn gedankt für das, was Ihr da draußen für mich gethan?... Wie, ich finde kaum eine Gelegenheit, Euch einen kleinen Dienst zu erweisen, und Ihr macht ein solches Wesen davon!

– Sie sprachen aber davon, abzureisen, um nach Christiania heimzukehren, bemerkte Joël.

– Ei was, so fahre ich eben nach Bergen, wenn es unumgänglich nöthig ist, dahin zu reisen.

– Sie wollten uns aber verlassen, Herr Sylvius, warf Hulda ein.

– So verlasse ich Euch einfach nicht, liebes Kind. Ich bin Herr meiner Beschlüsse, denk' ich, und so lange ich diese Angelegenheit nicht in's Reine gebracht habe, werd' ich auch – man müßte mir denn hier die Thür weisen...

– Was sagen Sie da?

– Nein, halt, ich habe nicht übel Lust, bis zur Rückkehr Oles in Dal zu bleiben, denn ich möchte ihn kennen lernen, den Verlobten meiner kleinen Hulda. Das muß ein wackerer junger Mann sein – so in der Art unseres Joël.

– Ja, ganz wie er! bestätigte Hulda.

– Das konnte ich mir denken! rief der Professor, dessen gute Laune wenigstens dem Anscheine nach wieder die Oberhand gewonnen hatte.

– Ole gleicht nur Ole, Herr Sylvius, sagte Joël, und das genügt für den Beweis, daß er ein vortreffliches Herz besitzt.[92]

– Ich glaube Euch, lieber Joël; das erregt in mir aber nur noch mehr das Verlangen, ihn zu sehen. O, es kann ja nicht mehr lange dauern. Irgend etwas sagt mir, daß der »Viken« bald eintreffen müsse.

– Möge Gott Sie hören!

– Und warum sollte er mich nicht hören? Er hat ein gar seines Ohr. Ja, ich will der Hochzeit Huldas noch beiwohnen, da ich nämlich dazu eingeladen bin. Dem Storthing wird schon nichts übrig bleiben, als meinen Urlaub um einige Wochen zu verlängern; es hätte ihn ja noch weit mehr verlängern müssen, wenn Ihr mich in den Rjukansos fallen ließt, wie ich's eigentlich verdiente.

– Herr Sylvius, fiel ihm Joël ins Wort, wie können Sie wohl so reden, bei all' dem Guten, das Sie uns erweisen!

– Ich wünschte herzlich, Euch besser dienen zu können, liebe Freunde, denn Euch verdanke ich ja Alles, und ich weiß nur nicht...

– Nein, bitte, erwähnen Sie jenes kleinen Abenteuers nicht weiter!

– Im Gegentheil, ich werde immer darauf zurück kommen. Sagt doch, war ich es denn, der mich aus der Todesgefahr auf dem Maristien befreite? Hab' ich das Leben daran gewagt, mich selbst zu retten? Hab' ich mich vielleicht selbst nach dem Gasthause in Dal geschafft? Hab' ich selbst mich gepflegt und ohne Mithilfe der Facultät geheilt? O, ich bin starrköpfig wie ein Schußkarrengaul, das werdet Ihr noch kennen lernen. Nun hab' ich mir einmal in den Kopf gesetzt, der Hochzeit Huldas beizuwohnen, und, beim heiligen Olaf! ich werde bei derselben anwesend sein!«

Das Vertrauen wirkt gewöhnlich ansteckend. Wie hätten sie dem, welches Sylvius Hog ihnen entgegenbrachte, widerstehen können?

Er bemerkte es recht wohl, als ein schwaches Lächeln das Gesicht der armen Hulda verklärte. Sie wünschte ja nur, es glauben, freute sich nur, es hoffen zu können.

Sylvius Hog fuhr in freundlichem Tone fort:

»Ei, wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Zeit sehr schnell verrinnt, also beginnen wir bald mit den Vorbereitungen zur Hochzeit.

– Die sind schon begonnen, Herr Sylvius, antwortete Hulda, und zwar schon seit drei Wochen.

– Schön! So hüten wir uns, sie zu unterbrechen.

– Zu unterbrechen? wiederholte Joël. Es ist ja schon Alles fertig.[93]

– Wie, der Rock der Ehefrauen, das Leibchen mit den Filigranschnallen, der Gürtel mit seinem Gehänge?

– Ja, sogar dessen Gehänge.

– Die glänzende Brautkrone, welche meiner kleinen Hulda wie einer Heiligen stehen wird?

– Ja, Herr Sylvius.

– Und die Einladungen sind auch schon besorgt?

– Alle, versicherte Joël, selbst die, welche uns am meisten am Herzen liegt, die Ihrige.

– Und die Brautjungfer ist unter den besten Mädchen Telemarkens schon erwählt?

– Und unter den schönsten, Herr Sylvius, antwortete Joël, denn das ist Fräulein Sigrid Helmboë von Bamble.

– In welchem Tone er das sagt, der wackere Bursche! bemerkte der Professor, und wie er gar dabei erröthet. Ei, ei, sollte es der Zufall etwa gar fügen, daß jenes Fräulein Sigrid Helmboë von Bamble ausersehen sei, einst Frau Joël Hansen von Dal zu werden?

– Ja, Herr Sylvius, bestätigte Hulda, Sigrid, die ich als meine beste Freundin betrachte.

– Schön, also noch eine Hochzeit! rief Sylvius Hog. Ich bin sicher, daß man mich auch dazu einladen wird, und werde schon nichts Anderes thun können, als derselben ebenfalls beizuwohnen. Da wird's aber entschieden nothwendig, als Abgeordneter des Storthing meine Amtsniederlegung zu melden, denn offen bar dürfte es mir an Zeit fehlen, bei den Sitzungen ferner anwesend zu sein. Nun also, mein wackerer Joël, ich bin Ihr Trauzeuge, nachdem ich erst, wenn Sie nichts dagegen haben, als solcher Ihrer Schwester gedient habe. Ich sehe schon, Ihr macht mit mir, was Ihr wollt, oder vielmehr, was ich selbst gerne will. Umarmen Sie mich, kleine Hulda; geben Sie mir die Hand, mein Sohn, und nun wollen wir an meinen Freund Help junior in Bergen schreiben!«

Die Geschwister verließen das Zimmer im Erdgeschoß, von dem der Professor zu sagen liebte, daß er es in Erbpacht nehmen wolle, und gingen wieder mit etwas erneuter Hoffnung an ihre Arbeit.

Sylvius Hog war allein zurückgeblieben.

»Das arme Mädchen! Das arme Mädchen! murmelte er; ja, ich habe einen Augenblick ihren Schmerz hinweggetäuscht, habe ihr einige Beruhigung[94] eingeflößt!... Aber es ist doch eine sehr lange Verzögerung, und in jenen Meeren, welche zu dieser Jahreszeit der Schrecken genug bieten.... Wenn Ole nicht mehr heimkehren sollte!«

Schon in der nächsten Minute schrieb der Professor an die Rheder in Bergen; in seinem Briefe ersuchte er dieselben um möglichst eingehende Benachrichtigung über Alles, was mit dem »Viken« und mit seiner Fahrt auf den Fischfang zusammenhing, er wünschte Auskunft darüber, ob irgend ein vorhergesehener oder unvorhergesehener Umstand diesen veranlaßt haben könne, einen anderen Hafen anzulaufen. Vorzüglich kam es ihm darauf an, zu erfahren, wie die Kaufherren und Seeleute von Bergen sich diese Verzögerung erklärten. Endlich bat er seinen Freund Help junior, die sorgfältigsten Erkundigungen einzuziehen und ihm mit dem rückkehrenden Postboten Nachricht zukommen zu lassen.

Dieser so dringliche Brief belehrte den Empfänger auch, warum Sylvius Hog an dem jungen Steuermann des »Viken« so warmen Antheil nahm und für welchen Dienst er der Verlobten desselben verpflichtet sei, auch welche Freude es für ihn sein würde, den Kindern der Frau Hansen einige Aufklärungen geben zu können.

Sobald der Brief geschlossen war, besorgte ihn Joël nach der Post in Moel, von wo er am nächsten Tage mit abgehen sollte. Am 11. Juni würde derselbe in Bergen sein, und am 12. oder spätestens am Morgen des 13. konnten sie von Help junior eine Antwort in den Händen haben.

Fast drei Tage sollten sie auf eine Antwort warten! Wie lang würden diese erscheinen! Durch seine tröstlichen Worte, seine ermuthigenden Gründe gelang es jedoch dem Professor, diese Zeit der spannenden Erwartung weniger fühlbar zu machen. Jetzt, wo er das Geheimniß Huldas kannte, fehlte es ihm ja nie an einem gern gehörten Gesprächsthema, und wie viel Trost gewährte es Joël und seiner Schwester, ohne Unterlaß von dem Abwesenden reden zu können.

»Gehöre ich denn jetzt nicht zu Eurer Familie? wiederholte öfters Sylvius Hog. Ja, als so etwas wie ein Onkel, der Euch von Amerika aus oder sonstwoher bescheert worden wäre?«


Der Professor schrieb... (S. 95.)
Der Professor schrieb... (S. 95.)

Und weil er eben zur Familie gehörte, konnte man auch keine weiteren Geheimnisse vor ihm haben.

Das Auftreten der beiden Kinder gegen ihre Mutter war ihm ja nicht unbemerkt geblieben. Die Zurückhaltung, deren sich Frau Hansen so auffällig[95] befleißigte, mußte seiner Meinung nach noch eine andere Ursache haben, als die Unruhe, in der Alle bezüglich Ole Kamp's schwebten. Er glaubte das also gegen Joël erwähnen zu müssen, doch dieser wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Er versuchte dann, Frau Hansen selbst zu erforschen, diese hielt sich aber so verschlossen, daß er darauf verzichten mußte, ihr Geheimniß zu durchdringen. Die Zukunft würde ihm darüber ja Aufklärungen verschaffen.

Sowie Sylvius Hog vorausgesehen, traf die Antwort von Help junior am Morgen des 13. in Dal ein. Joël war dem Postboten schon mit Tagesanbruch[96] entgegen gegangen; er brachte den Brief dann auch nach der großen Stube, in der sich der Professor mit Frau Hansen und deren Tochter befand.

Zuerst herrschte eine Minute lang tiefes Schweigen. Hulda, welche ganz blaß geworden war, hätte jetzt gar nicht sprechen können, so heftig klopfte ihr vor Erwartung das Herz. Sie hatte die Hand ihres Bruders ergriffen, der übrigens nicht weniger erregt war als sie.

Sylvius Hog erbrach den Brief und las den Inhalt mit lauter Stimme vor. Zu seinem Bedauern erging sich der Absender desselben auch nur in[97] unbestimmten Andeutungen, und der Professor konnte den jungen Leuten, die ihm mit Thränen in den Augen zuhörten, seine Enttäuschung nicht verhehlen.


Welcher Empfang... (S. 100.)
Welcher Empfang... (S. 100.)

Der »Viken« hatte Saint Pierre Miquelon wirklich zur vorausbestimmten Zeit verlassen, ganz wie es Ole Kamp's letzter Brief meldete. Das war in zuverlässigster Weise durch andere Schiffe bekannt geworden, die seit seiner Abreise von Neufundland in Bergen schon angekommen waren. Diese Schiffe hatten denselben unterwegs nicht angetroffen; auch sie hatten in der Gegend von Island sehr schweres Wetter zu überstehen gehabt, sich aber daraus, ohne Schaden zu nehmen, zu retten vermocht.

Warum sollte das denn dem »Viken« nicht ebenso gelungen sein? Vielleicht war er nur ein Stück zurückgeblieben. Es war das übrigens ein ganz vorzügliches, sehr fest gebautes Schiff unter der Führung des Capitäns Frikel aus Hammerfest, und hatte eine kräftige Besatzung, welche schon genügende Proben ihrer Seetüchtigkeit abgelegt hatte. Immerhin sei dieses Ausbleiben des »Viken«, wenn es sich noch weiter verlängerte, einigermaßen beunruhigend, und dann doch vielleicht zu fürchten, daß derselbe mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sei.

Help junior bedauerte, keine bessere Nachricht über den jungen Verwandten der Familie Hansen geben zu können. Betreffs Ole Kamp's selbst, sprach er von diesem als einem vortrefflichen jungen Manne, welcher der Theilnahme, die Sylvius Hog für ihn empfand, völlig würdig wäre.

Help junior schloß mit der Versicherung seiner aufrichtigen Hochachtung für den Professor und übermittelte diesem gleichzeitig herzliche Grüße von seiner Familie. Endlich versprach er, ihm ohne Zögern jede weitere Nachricht zugehen zu lassen, die vom »Viken« aus irgend welchem Hafen Norwegens eintreffen würde, und nannte sich in der Unterschrift als dessen »achtungsvoll ergebene. Gebrüder Help.

Halb ohnmächtig werdend, war die arme Hulda, während der Professor diesen Brief las, auf einen Stuhl niedergesunken und schluchzte schmerzlich, als dieser damit zu Ende war.

Mit gekreuzten Armen, ohne ein Wort zu sagen, ja, selbst ohne daß er gewagt hätte, seine Schwester anzusehen, hatte Joël zugehört.

Frau Hansen hatte sich, nachdem Sylvius Hog mit dem Lesen aufgehört, nach ihrem Zimmer zurückgezogen; es schien, als hätte sie diese Hiobspost ebenso sicher erwartet, wie sie manch' anderes Unglück voraussah.[98]

Der Professor bedeutete Hulda und Joël durch ein Zeichen, näher zu treten. Er wollte zu ihnen noch über Ole Kamp reden, wollte ihnen Alles sagen, was er nur immer an Trost für sie erdenken konnte. Und er sprach sich nach diesem Briefe von Help junior mit mindestens eigenthümlicher Zuversichtlichkeit aus. Er betonte ganz besonders eine merkwürdige Ahnung zu haben, daß sie noch nicht zu verzweifeln brauchten, dazu seien eine hinreichende Menge Beispiele bekannt, daß Schiffe auf der Fahrt zwischen Norwegen und Neufundland noch längere Verzögerungen erlitten hätten, was unzweifelhaft nachgewiesen wäre. Der »Viken« sei ja, wie sie nun bestimmt wüßten, ein gutes Fahrzeug mit verläßlichem Führer und erprobter Mannschaft, folglich aber eher in günstigeren Verhältnissen, als manche andere Schiffe, welche zufällig schon nach dem Heimatshafen zurückgekehrt wären.

»Halten wir also die Hoffnung hoch, meine lieben Kinder, und fügen wir uns in Geduld! Hätte der »Viken« zwischen Island und Neufundland Schiffbruch erlitten, sollten denn die zahlreichen, auf demselben Wege nach Europa befindlichen anderen Fahrzeuge keine einzige Spur von ihm aufgefunden haben? – Doch nein! Nicht eine Planke ist in jenen zur Zeit der Hochseefischerei so belebten Gegenden entdeckt worden! Nichtsdestoweniger dürfen wir natürlich die Hände nicht in den Schooß legen und müssen unbedingt erschöpfende Nachrichten zu erlangen suchen. Wenn wir auch diese Woche ohne eine Meldung über den »Viken« oder einen Brief von Ole bleiben, werde ich nach Christiania zurückkehren, mich an das Seeamt wenden, welches umfassende Nachforschungen anstellen und – das bin ich überzeugt – damit Erfolge erzielen wird, die uns gewiß Alle befriedigen.«

Wie große Zuversicht der Professor auch zeigte, fühlten Hulda und Joël doch heraus, daß er nicht mehr so sprach, wie vor Empfang dieses Briefes aus Bergen – eines Briefes, dessen Inhalt ihnen in der That nur wenig Hoffnung übrig ließ. Sylvius Hog wagte augenblicklich nicht mehr, eine Anspielung auf Huldas in nächster Zeit bevorstehende Hochzeit zu machen, wenn er auch mit eindringlichem Tone wiederholte:

»Nein, es ist ja gar nicht möglich! Ole – und nicht mehr in das Haus der Frau Hansen zurückkehren! Ole sollte seine Hulda nicht heiraten! Nein, an ein solches Unglück glaub' ich mein Lebtag nicht!«

Das war freilich nur seine persönliche Ueberzeugung, die er aus der Energie seines Charakters, aus seiner angeborenen Natur, welche sich durch[99] nichts ganz niederdrücken ließ, schöpfte. Doch wie hätte er diese auch auf Andere zu übertragen vermocht, und vorzüglich auf diejenigen, denen das Schicksal des »Viken« am meisten am Herzen lag?

Inzwischen verstrichen noch einige Tage. Vollkommen geheilt, unternahm Sylvius Hog nun weitere Spaziergänge in der Umgebung, wobei er Hulda und deren Bruder freundlich nöthigte, ihn zu begleiten, nur um die Geschwister sich nicht allein zu überlassen. Eines Tages gingen alle Drei das Vestfjorddal halb bis zu den Fällen des Rjukan hinauf; am folgenden Tage machten sie den Weg abwärts, wandten sich aber dabei nach Moel und dem Tinn-See zu. Einmal blieben sie sogar über vierundzwanzig Stunden lang aus, weil sie ihren Ausflug bis Bamble ausgedehnt hatten, wo der Professor die Bekanntschaft des Pächters Helmboë und seiner Tochter Sigrid machte. Welch herzlichen Empfang bereitete da letztere ihrer Hulda, und wie aufrichtig bemühte sie sich, die Freundin zu trösten.

Sylvius Hog konnte den theilnehmenden Leuten hier auch etwas mehr Hoffnung machen; er hatte an das Seeamt nach Christiania geschrieben. Die Regierung hatte die Aufsuchung des »Viken« in die Hand genommen, der bestimmt aufgefunden werden würde; auch Ole würde wieder kommen, er konnte von einem Tage zum andern eintreffen. O nein, die Hochzeit würde gewiß um keine sechs Wochen Aufschub erleiden! Der vortreffliche Mann schien so unerschütterlich überzeugt, daß man sich vielleicht mehr dieser felsenfesten Ueberzeugung als seinen Beweisgründen beugte.

Der Besuch bei der Familie Helmbon erwies sich als recht wohlthätig für die Kinder der Frau Hansen, denn als sie nach Hause zurückkehrten, waren sie weit gefaßter als beim Fortgehen.

Der 15. Juni war herangekommen. Der »Viken« hatte jetzt schon einen vollen Monat Verzögerung. Da es sich ja nur um die verhältnißmäßig kurze Ueberfahrt von Neufundland nach der Küste von Norwegen handelte, so überschritt das – selbst für ein Segelschiff – doch alle gewöhnlichen Erfahrungen.

Hulda lebte kaum mehr, und ihr Bruder wußte kein Wort zu finden, das sie hätte trösten und aufrichten können. Angesichts der beklagenswerthen jungen Leute mißlang selbst dem Professor fast der Vorsatz, immer und immer noch etwas Hoffnung zu bewahren. Hulda und Joël verließen die Schwelle des Hauses jetzt nur noch, um nach der Seite von Moel hinaus zu blicken oder ein Stück auf der Straße nach dem Rjukansos hinzugehen. Ole Kamp mußte eigentlich[100] von Bergen aus kommen, aber es war ja nicht ausgeschlossen, daß er vielleicht von Christiania käme, wenn der Bestimmungshafen des »Viken« geändert worden war.

Das Geräusch von einem Schußkarren, das aus den Bäumen vernehmbar wurde, ein Schrei, der die Luft durchzitterte, der Schatten einer Menschengestalt, der sich an einer Pfadbiegung zeigte, ließ ihre Herzen – leider vergeblich – allemal höher schlagen. Die Leute in Dal wachten sozusagen auch ihrerseits und gingen den Postboten stromauf- und stromabwärts des Maan entgegen. Alle bewiesen ihre innige Theilnahme gegenüber der so allbeliebten Familie, wie gegenüber dem armen Ole, den man ja fast als ein Kind Telemarkens betrachtete; doch weder von Bergen noch von Christiania traf ein Brief ein, der Nachricht von dem Verschollenen gebracht hätte.

Auch am 16. ereignete sich nichts Neues. Der Professor konnte sich kaum noch halten und sah ein, daß er hier mit eigener Person eintreten müsse, um der immer qualvoller werdenden Lage ein Ende zu machen. Deshalb erklärte er denn auch, wenn bis zum folgenden Tage keine Mittheilung einliefe, selbst nach Christiania zu gehen und sich überzeugen zu wollen, ob die Nachforschungen auch mit gehörigem Eifer betrieben würden. Freilich mußte er Hulda und Joël inzwischen verlassen; doch das war nicht zu ändern, und er gedachte ja zurückzukehren, sobald er die nöthigen Schritte gethan hatte.

Schon ein großer Theil des 17. Juni war verflossen – ein Theil des vielleicht traurigsten Tages von allen. Seit Tagesanbruch strömte der Regen hernieder und ein starker Wind schüttelte die alten Baumkronen und ließ, nach der Seite des Maan hin, manchmal alle Fensterscheiben erzittern.

Es war jetzt sieben Uhr und die Hauptmahlzeit schweigend, wie in einem Trauerhause, beendigt. Selbst Sylvius Hog gelang es nicht mehr ein Gespräch im Gange zu erhalten – es fehlten ihm jetzt die Worte, wie die Gedanken. Was hätte er auch sagen sollen, das nicht vorher hundertmal gesagt war, zumal da er es fühlte, daß dieses sich noch immer länger hinziehende Ausbleiben des sehnlichst Erwarteten die früheren Erklärungsgründe immer unannehmbarer machte?

»Ich fahre morgen früh nach Christiania, sagte er. Joël, wollen Sie dafür sorgen, daß ich ein Gefährt finde? Sie werden mich nur bis Moel fahren und dann sofort heimkehren.

– Gewiß, Herr Sylvius, antwortete Joël; Sie wünschen also nicht, daß ich Sie noch weiter begleite?«[101]

Der Professor machte, auf Hulda deutend, ein abwehrendes Zeichen; er wollte diese auf keinen Fall ihres Bruders unnöthig berauben.

In demselben Augenblick ließ sich auf der Straße von Moel her ein erst zwar schwaches, doch immer deutlicher werdendes Geräusch vernehmen. Alle lauschten.

Schon unterlag es keinem Zweifel mehr, daß dasselbe von einem Wagen herrührte, der rasch auf Dal zurollte. Man konnte kaum annehmen, daß das ein Reisender sei, der vielleicht die Nacht in dem Gasthause zubringen wollte, denn einfache Lustreisende trafen zu so vorgeschrittener Stunde hier gewöhnlich nicht mehr ein.

Hulda hatte sich zitternd erhoben. Joël ging nach der Thür zu, öffnete dieselbe und blickte hinaus.

Das Geräusch wurde schärfer hörbar; es rührte von dem Schritte eines Pferdes und dem Knarren der Räder eines Schußkarrens her.

Der Sturm wüthete aber eben so heftig, daß Joël die Thür vorläufig wieder schließen mußte.

Sylvius Hog ging in der Stube auf und ab. Joël und seine Schwester standen dicht bei einander.

Der Schußkarren konnte nur noch zwanzig Schritte vom Hause entfernt sein. Würde er hier anhalten oder nicht?

Das Herz schlug Allen zum Zerspringen.

Das Gefährt stand wirklich still; man hörte eine rufende Stimme.... Die Stimme Ole Kamp's war es aber nicht. Gleich darauf klopfte es schon an der Thür.

Joël öffnete.

Vor der Schwelle stand ein fremder Mann.

»Herr Professor Sylvius Hog? fragte er.

– Der bin ich, antwortete der Professor vortretend. Wer sind Sie, mein Freund?

– Ein Expreßbote, der vom Director des Seeamtes in Christiania an Sie abgesendet wurde.

– Haben Sie ein Schreiben für mich?

– Hier ist es!«

Der Bote übergab hiermit ein großes Schreiben, das mit dem amtlichen Siegel geschlossen war.[102]

Hulda hatte nicht mehr die Kraft, sich auf den Füßen zu erhalten; ihr Bruder half ihr, sich auf ein Bänkchen zu setzen; keines der Geschwister wagte, Sylvius Hog zum Aufbrechen des Briefes zu drängen.

Endlich las dieser, wie folgt:


»Hochgeehrter Herr Professor!


Als Erwiderung auf Ihren letzten Brief übersende ich Ihnen hier eingeschlossen ein Schriftstück, das durch ein dänisches Schiff am vergangenen 5. Juni aus dem Meere aufgefischt wurde. Leider läßt dieses Document keinen Zweifel mehr bezüglich des Schicksals des »Viken« übrig...«


Ohne sich Zeit zu nehmen, den ganzen Brief zu durchlesen, hatte Sylvius Hog das Schriftstück aus dem Umschlage gezogen, das er aufmerksam betrachtete und dann umwendete....

Es war ein Lotterie-Loos mit der Nummer 9672.

Auf der Rückseite des Looses befanden sich folgende wenige Zeilen:


»3. Mai – Theuerste Hulda! Der »Viken« ist im Versinken! Mein ganzes Vermögen besteht in diesem Lotterie-Loos. Ich kann es nur Gott anvertrauen, um es Dir zukommen zu lassen, und da ich nicht mehr dabei sein kann, bitte ich Dich, der Ziehung beizuwohnen. Nimm es hin mit meinem letzten Lebewohl an Dich!... Vergiß mich nicht in Deinen Gebeten, meine Hulda! Leb' wohl, geliebte Braut, Gott sei mit Dir!

Ole Kamp

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 90-103.
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