XVI.

[148] Am folgenden Morgen trug der Schußwagen des Werkführers Lengling Sylvius Hog und Hulda davon, welche Beide in dem kleinen, bemalten Sitzkasten Platz genommen hatten. Joël konnte, wie wir wissen, dann nicht mehr unterkommen. Der wackere junge Mann ging also zu Fuß neben dem Pferde her, das freudig den Kopf schüttelte.

Die vierzehn Kilometer zwischen Dal und Moel waren für den rüstigen Wanderer ja eine Kleinigkeit.

Der Schußkarren folgte dem prächtigen Vestfjorddal, immer längs des Maan-Ufers – jenem schmalen, schattenfrischen Thale, das durch tausende, von allen Anhöhen herabhüpfende Cascaden bewässert wird. Bei jeder Windung des Schlangenweges sahen sie sich um und verloren endlich den, mit seinen zwei Schneefeldern sonst so weithin leuchtenden Gusta aus den Augen.

Der Himmel war rein, das Wetter herrlich. Der Wind wehte nicht zu stark, die Sonne brannte nicht zu warm.

Eigenthümlicher Weise schien sich Sylvius Hog's Gesicht seit der Abfahrt aus dem Hause in Dal wieder mehr aufgeheitert zu haben. Ohne Zweifel that er sich etwas Zwang an, um die Reise bei den Kümmernissen Huldas und Joëls wenigstens als eine kleine Zerstreuung erscheinen zu lassen.

Zweieinhalb Stunden, mehr bedurfte es nicht, um Moel, am Ende des Tinn-Sees, wo der Karren anhalten sollte, zu erreichen. Weiter hätte derselbe, ohne zum Schwimmen eingerichtet zu sein, auch nicht gehen können. An dieser Stelle des Thales beginnt nämlich der »Seeweg«; hier befindet sich ein sogenannter »Vandskyde«, d. h. eine Wasser-Fahrstation, und hier halten auch die gebrechlichen kleinen Fahrzeuge, welche in dessen ganzer Länge und Breite den Dienst auf dem Tinn-See versehen.

Der Schußkarren hielt nahe der kleinen Kirche des Ortes am unteren Ende eines fünfhundert Fuß hoch herabstürzenden Wasserfalles. Dieser zum fünften Theile seiner Länge sichtbare Fall verschwindet erst in einer tiefen Höhle des Berges, ehe er von dem See selbst aufgenommen wird.[148]

Zwei Fährleute befanden sich an der äußersten Spitze des Ufers. Ein Boot aus Birkenrinde, dessen sehr wenig gesichertes Gleichgewicht seinen Passagieren nicht eine Bewegung von einem Bord zum anderen gestattet, war zum Abstoßen fertig.

Der See lag jetzt im vollen Glanze seiner Morgenschönheit da; die Sonne hatte schon beim Aufgehen die Dünste von dessen Oberfläche weggetrunken; einen herrlicheren Sommertag hätte man sich nicht wünschen können.

»Sie sind doch nicht zu sehr ermüdet, lieber Joël? fragte der Professor, sobald er aus dem Karren gestiegen war.

– Nein, Herr Sylvius; bin ich solche weite Wege durch Telemarken nicht schon längst gewöhnt?

– Das ist wohl wahr. Doch sagen Sie, ist Ihnen wohl der nächste Weg von Moel nach Christiania bekannt?

– O, vollkommen, Herr Sylvius. Am Ende des Sees, bei Tinoset angelangt... Doch da fällt mir ein, ich weiß nicht, ob sich dort Schußgelegenheit für uns finden wird, da wir keine »Forbuds« zur Anmeldung unserer Ankunft auf der Station gesendet haben, wie man es hier sonst zu thun pflegt...

– Darüber beruhigen Sie sich, mein Sohn, antwortete der Professor, das habe ich schon besorgt. Es konnte doch nicht meine Absicht sein, Sie den ganzen Weg von Dal nach Christiania zu Faß zurücklegen zu lassen.

– Nun, wenn's gerade sein müßte... meinte Joël.

– Es muß aber nicht sein. Doch sprechen wir von unserer Fahrt; welchen Weg würden wir Ihrer Ansicht nach zu nehmen haben?

– Sehr einfach; von Tinoset aus, Herr Sylvius, fahren wir über Vik und Bolkösjö um den Fol-See, um nach Möse und von da nach Kongsberg, Hangsund und Drammen zu gelangen. Wenn wir in der Nacht ebenso schnell reisen wie am Tage, wäre es nicht unmöglich, morgen Nachmittag schon in Christiania einzutreffen.

– Schön, Joël; ich sehe, daß Sie das Land hinlänglich kennen, und das wird ohne Zweifel eine höchst angenehme Fahrt werden.

– Wenigstens die kürzeste.

– Richtig, Joël, doch auf die kürzeste – verstehen Sie? – kommt es mir nicht so sehr an, antwortete Sylvius Hog. Ich weiß eine andere, welche unsere Reise freilich um ein paar Stunden verlängert, und diese kennen Sie auch recht gut, wenn Sie derselben auch nicht erwähnten.[149]

– Und welche?

– Ei, die Fahrt über Bamble!

– Ueber Bamble?

– Ja, ja, Bamble! Stellen Sie sich nur nicht so unwissend! Bamble, wo der Pächter Helmboë und seine Tochter Sigrid wohnen.

– Herr Sylvius!...

– Diesen Weg schlagen wir also ein, und wenn wir um den Fol-See an der Südseite statt an der Nordseite fahren, meinen Sie nicht, daß wir dabei ebenso gut nach Kongsberg kommen?

– Ebenso gut und selbst noch besser! bestätigte Joël lächelnd.

– Ich danke Ihnen im Namen meines Bruders, Herr Sylvius, sagte das junge Mädchen.

– Und nicht im eigenen Namen, meine kleine Hulda, denn ich denke, es wird Ihnen Vergnügen machen, Ihre Freundin Sigrid im Vorüberkommen einmal wiederzusehen?«

Das Boot war zur Abfahrt fertig. Alle Drei nahmen auf einem Haufen im Hintertheile desselben aufgestapelter grüner Blätter Platz.

Rudernd und gleichzeitig steuernd trieben die zwei Fährleute das Fahrzeug hinaus.

Wenn man sich vom Ufer an dieser Stelle entfernt, beginnt der Tinn-See sich bald auszuweiten, und zwar von Haekenaës an, einem kleinen aus zwei bis drei Häusern bestehenden Gaard (Gehöft), erbaut auf dem felsigen Vorsprunge, der sich in dem schmalen Fjord badet, dem friedlich die Gewässer des Maan zufließen.

Der See erscheint noch immer stark eingedämmt; nach und nach jedoch weichen die seinen Rahmen bildenden Berge weiter zurück und man gewinnt erst eine Vorstellung von ihrer Höhe, wenn gerade ein Fahrzeug am Fuße derselben vorübergleitet und doch nicht größer als ein gewöhnlicher Wasservogel aussieht.

Hier und da tauchen etwa ein Dutzend nackte oder grünende Inseln und Eilande mit vereinzelten Fischerhäuschen auf. An der Oberfläche schwimmen daneben noch gänzlich unbehauene Baumstämme oder auch ganze Flöße in den benachbarten Sägemühlen bearbeiteter Balken.

Das veranlaßte Sylvius Hog scherzend – und er mußte wohl Neigung haben, gelegentlich zu scherzen – jetzt zu sagen:[150]

»Wenn nach dem Ausspruche unserer skandinavischen Dichter die Seen die Augen Norwegens sind, so muß man zugestehen, daß Norwegen mehr als einen Balken im Auge hat, wie die Bibel sagt.«

Gegen vier Uhr gelangte das Boot nach Tinoset, einem kleinen, keinerlei Bequemlichkeit bietenden Dörfchen. Das hatte jetzt indeß nichts zu bedeuten, da sich Sylvius Hog hier gar nicht, nicht einmal eine Stunde, aufzuhalten gedachte. Wie er Joël schon vorher angedeutet, erwartete sie hier am Ufer ein Wagen. Im Hinblick auf diese, von ihm schon längst fest beschlossene Reise hatte er Herrn Benett in Christiania ersucht, dafür Sorge zu tragen, daß er mit seinen Begleitern ohne Aufenthalt und Beschwerden Fortkommen finde. Deshalb befand sich an genanntem Tage auch ein alter Reisewagen, mit hinreichendem Lebensmittelvorrath im Kutschkasten, hier in Tinoset. Ihr Fortkommen war damit also ebenso gesichert, wie die Ernährung unterwegs, so daß sie nicht mehr auf die halb angebrüteten Eier, die geronnene Milch und die wahrhaft spartanische Kraftsuppe der Gaards von Telemarken angewiesen blieben.

Tinoset liegt fast am Ende des Tinn-Sees. Hier stürzt sich der Maan in herrlichem Falle nach dem unteren Thale hinab, wo er wieder seinen regelmäßigen Lauf annimmt. Die von der Schußstation entnommenen Pferde standen schon angespannt, und sofort rollte der Wagen in der Richtung nach Bamble hin.

Jener Zeit war das die einzige Art und Weise, durch Norwegen im Allgemeinen und durch Telemarken im Besonderen zu reisen, und vielleicht werden die Eisenbahnen viele Touristen noch die landesüblichen Schußkarren und die Kutschen des Herrn Benett schmerzlich vermissen lassen.

Es versteht sich von selbst, daß Joël diesen Theil des Gerichtssprengels, den er zwischen Dal und Bamble so oft durchmessen hatte, ganz genau kannte.

Um acht Uhr Abends traf Sylvius mit dem Geschwisterpaare an diesem kleinen Orte ein.

Obwohl sie hier natürlich nicht erwartet wurden, fanden sie seitens des Pächters Helmboë doch den herzlichsten Empfang. Zärtlich umarmte Sigrid ihre Freundin, die sie von vielem Kummer recht blaß aussehend fand. Kurze Zeit blieben die beiden Mädchen allein, um gegeneinander auszutauschen, was auf ihren Herzen lastete.

»Ich bitte Dich, liebste Hulda, sagte Sigrid, lass' Dich nicht von Deinem Schmerz überwältigen! Ich für meinen Theil habe noch nicht alle


Der See lag jetzt im vollen Glanze seiner Morgenschönheit da. (S. 149.)
Der See lag jetzt im vollen Glanze seiner Morgenschönheit da. (S. 149.)

Zuversicht verloren. Warum solltest Du auf jede Hoffnung verzichten, den armen Ole noch wiederzusehen? Wir haben durch die Zeitungen ja erfahren, daß man bemüht ist, den »Viken« wieder aufzufinden. Diese[151] Nachforschungen werden von Erfolg sein!... Gelt, ich glaube bestimmt, daß Herr Sylvius noch Hoffnung hat... Hulda... mein liebes Herz, ich bitte Dich, verzweifle noch nicht!«

Statt jeder Antwort konnte Hulda nur weinen, und Sigrid drückte sie warm an ihr Herz.


Der Wagen hielt vor dem Hotel Victoria. (S. 157.)
Der Wagen hielt vor dem Hotel Victoria. (S. 157.)

O, welche Freude hätte im Hause des Pächters[152] Helmboë geherrscht, inmitten dieser braven, einfachen und guten Menschen, wenn diese ganze kleine Welt ein Anrecht, glücklich zu sein, gehabt hätte!

»Sie gehen also geraden Wegs nach Christiania? fragte der Pächter Helmboë Herrn Sylvius Hog.

– Ja, Herr Helmbon.

– Um der Lotterieziehung beizuwohnen?

– Gewiß.[153]

– Doch was kann das nützen, da Ole Kamp's Loos sich jetzt in den Händen des schändlichen Sandgoïst befindet?

– Ole hat es gewünscht, antwortete der Professor, und wir haben die Pflicht, seinem Willen nachzukommen.

– Man sagt, der Wucherer in Drammen habe für dieses Loos, das ihm so viel kostete, keinen Abnehmer finden können.

– Ja, das sagt man wohl, Herr Helmboë.

– Gut, so hat er, was er verdient, dieser schändliche Kerl, dieser Schurke, Herr Hog, ja... diesem Schurken ist ganz...

– Gewiß, Herr Helmboë, ganz recht geschehen!«

Natürlich mußten Alle auf dem Pachthof zu Abend essen. Weder Sigrid, noch deren Vater hätten ihre Freunde fortgelassen, ohne daß dieselben diese Einladung annahmen. An einen längeren Aufenthalt war jedoch nicht zu denken, wenn die durch den Umweg über Bamble verlorenen Stunden in der Nacht wieder eingebracht werden sollten. Um neun Uhr wurden also die Pferde von der Schußstation durch einen Burschen aus dem Gaard geholt, der dieselben sofort anspannte.

»Bei meinem nächsten Besuche, lieber Herr Helmboë, sagte Sylvius Hog zu dem Pächter, bleib' ich, wenn Sie es wollen, sechs Stunden lang bei Tische sitzen; heute aber bitte ich Sie um die Erlaubniß, die Nachspeise durch einen ehrlichen Handschlag zu ersetzen, den Sie mir nicht verweigern werden, und durch einen herzlichen Kuß, den Ihre reizende Sigrid meiner Hulda geben wird.«

Nachdem dies geschehen, brach die kleine Gesellschaft auf

In jener hohen Breite mußte die Dämmerung noch einige Stunden andauern. Und auch lange nach Sonnenuntergang blieb der Horizont noch deutlich sichtbar, so klar war heute die Atmosphäre.

Es ist eine schöne, freilich ziemlich bergige Straße, die von Bamble über Hitterdal an der Südseite des Fol-Sees nach Kongsberg führt. Sie durchschneidet dabei den ganzen Mitteltheil von Telemarken, indem sie die Flecken, Weiler und Gaards der Nachbarschaft berührt.

Eine Stunde nach der Abfahrt konnte Sylvius Hog, ohne daß er hier anhielt, die Kirche von Hitterdal wahrnehmen, ein altes, höchst merkwürdiges Bauwerk, mit zinnengekrönten, aber ohne Rücksicht auf Regelmäßigkeit der Linien übereinander gepackten Stockwerken. Das Ganze besteht aus Holz, von den aus[154] dicht aneinander gefügten Balken und sich dachziegelartig deckenden Planken bestehenden unteren Umfassungswänden an bis hinauf zum obersten Glockenthürmchen. Diese Aufhäufung von Pfefferbüchsen ist, wie es scheint, ein ehrwürdiges und hochverehrtes Denkmal der skandinavischen Baukunst des dreizehnten Jahrhunderts.

Allmählich sank nun die Nacht herab eine jener Nächte, welche stets der letzte Schimmer des Tages durchzittert; gegen ein Uhr früh mischte sie sich aber schon wieder mit dem neuen Morgengrauen.

Auf dem Vordersitze saß Joël in Betrachtungen versunken; Hulda lehnte nachdenklich im Hintertheil des Wagens. Nur dann und wann wurden einige Worte zwischen Sylvius Hog und dem Kutscher gewechselt, welchem der Professor anempfahl, die Pferde tüchtig anzutreiben. Dann hörte man nichts als das Schellengeklingel der Bespannung, das Klatschen der Peitsche und das Knarren der Räder auf der tief ausgefahrenen Straße.

Ohne Pferdewechsel ging die Fahrt die ganze Nacht hindurch fort.

Es wurde nicht nothwendig, in Listhus, einer nur mangelhaften Station, anzuhalten, die in einem Kessel tannenbedeckter Berge verloren liegt, um welche sich noch ein zweiter Kreis nackter und wilder Bergmassen erhebt. Man fuhr auch geraden Wegs durch Tineß, ein kleines, malerisches Oertchen, in dem einige Häuser auf besonderen Steinpfeilern errichtet sind. Der Reisewagen rollte unter dem Geräusche seiner Eisentheile, dem Klappern halbgelockerter Bolzen und ausgedehnter Federn ziemlich schnell dahin. Dem Rosselenker waren gewiß keine Vorwürfe zu machen – obgleich der gute Alte halb schlafend seine Zügel führte. Ganz mechanisch vertheilte er zuweilen einige gut gemeinte Peitschenhiebe, von denen das linke Pferd die meisten erhielt. Das kam aber daher, daß das rechte Pferd ihm selbst, das linke dagegen seinem Hofnachbarn zugehörte.

Um fünf Uhr Morgens schlug Sylvius Hog die Augen auf, streckte die Arme behaglich aus und sog mit Vergnügen den würzigen Tannenduft ein, der die ganze Atmosphäre erfüllte.

Man war in Kongsberg. Der Wagen passirte die über den Laagen führende Brücke und hielt jenseits derselben an, nachdem er unsern der Wasserfälle von Larbrö an der Kirche vorübergekommen war.

»Liebe Freunde, begann da Sylvius Hog, wenn's Ihnen recht ist, werden wir hier nur die Pferde wechseln. Zu frühstücken ist es noch gar zu zeitig, d'rum ist es besser, wir machen erst in Drammen einen längeren Aufenthalt. Dort[155] stärken wir uns durch eine tüchtige Mahlzeit und schonen dabei gleichzeitig unsern Mundvorrath von Herrn Benett.«

Demgemäß begnügten sich der Professor und Joël vorläufig mit einem Gläschen Branntwein im Hôtel des Mines, und als eine Viertelstunde später frische Pferde eingetroffen waren, wurde die Reise fortgesetzt.

Vor der Stadt mußte der Wagen eine ziemlich steile Rampe, welche sehr kühn von der Seite eines Berges ausgeschnitten war, emporklimmen. Einen Augenblick hoben sich die hohen Thürme der Silberminen von Kongsberg als Schattenbilder vom Himmel ab. Darauf verschwand der ganze Horizont unter einem Vorhange ungeheurer Tannenwälder, in denen es so dunkel und kühl wie in einem Keller ist, da hier die Wärme der Sonne ebenso wenig Eingang findet, wie deren Licht.

Die hölzerne Stadt Hangsund lieferte dem Reisewagen neue Spannpferde. Hier fand man oft lange Straßen, doch häufig durch auf einem Bolzen drehbare Barrieren geschlossen, welche gegen Erlegung von fünf bis sechs Stillings geöffnet wurden. Es ist eine sehr fruchtbare Gegend mit zahlreichen Bäumen, welche wegen ihrer, durch die Last der Früchte niedergebeugten Zweige fast Trauerweiden ähnlich er schienen. Mit der Annäherung an Drammen wurde das Thal wieder bergiger.

Zu Mittag zeigte die an einem Arme des Christiania-Fjords gelegene Stadt ihre beiden endlosen Straßen mit bemalten Häusern an beiden Seiten, und ihren stets sehr belebten Hafen, in welchem die großen Holzflöße den Schiffen, welche hier Naturerzeugnisse des Nordens laden, meist nur wenig Raum frei lassen.

Der Wagen hielt vor dem Hôtel de Skandinavie. Der Besitzer, eine gewichtige Persönlichkeit, mit weißem Barte und höchst gelehrten Mienen, erschien auf der Schwelle seines Anwesens. Mit jener Findigkeit, welche die Gasthalter in allen Ländern der Welt kennzeichnet, sagte er sogleich:

»Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden Herren und die junge Dame bald frühstücken möchten.

– Ganz recht, wundern Sie sich darüber nicht, erwiderte Sylvius Hog, und lassen Sie uns so schnell wie möglich auftragen.

– Augenblicklich!«

Das Frühstück stand sehr bald bereit und ließ wirklich nichts zu wünschen übrig. Es bot unter Anderem einen gewissen, mit würzigen Kräutern zubereiteten Fisch aus dem Fjord, von dem der Professor mit sichtlichem Vergnügen zulangte[156] Um halb zwei Uhr kam der mit frischen Pferden versehene Wagen wieder bei dem Hôtel de Skandinavie vorgefahren und setzte in mäßigem Trabe die Reise auf der Landstraße von Drammen fort.

Als sie da an einem Hause von minder einladendem Aussehen, das mit den heiteren Farben der Nachbarhäuser auffallend contrastirte, vorüberkamen, konnte Joël einen Ausdruck von Widerwillen nicht zurückhalten.

»Sandgoïst! rief er.

– Ah, das ist also jener Herr Sandgoïst? sagte Sylvius Hog. In der That, er zeigt gerade kein hübsches Gesicht.«

Es war wirklich Sandgoïst, der rauchend vor seiner Thüre stand. Ob er auch Joël auf dem Vordersitz erkannte, muß dahin gestellt bleiben, denn der Wagen bewegte sich rasch zwischen großen Stößen dicker Balken und Haufen von geschnittenen Planken hin.

Jenseits einer von Vogelbeerbäumen – die reich mit korallenen Früchten beladen waren – eingefaßten Straße, wandte sich das Gespann nach einem dichten Fichtenwald, der das Thal des Paradieses erfüllt; eine wahrhaft prächtige Bodensenkung mit ihren weithin sichtbaren, bis zu den letzten Grenzen des Horizontes reichenden Bergabsätzen. Hier zeigten sich wohl Hunderte kleiner Hügel, von denen die meisten mit einem Landhause oder einem Gaard bekrönt waren. Bei herannahendem Abend, als der Wagen, zwischen grünen Wiesen hinabsteigend, mehr in die Nähe des Meeres kam, erblickte man Farmen mit lebhaft rothen Häusern, welche sich aus dem grünen Baumdickicht grell abhoben.

Endlich erreichten die Reisenden den eigentlichen Christiania-Fjord, der zwischen malerische Höhen hineingezwängt erscheint, und überblickten nun seine zahlreichen Buchten, seine vielen ganz kleinen Häfen mit ihren hölzernen »Piers«, an denen die Fahrzeuge der Bai und die Dampfomnibusse anlegen.

Um neun Uhr Abends – es war noch voller Tag – rollte die alterthümliche Kutsche nicht ohne lautes Geräusch in die Stadt ein und durch deren schon verlassene Straßen hin.

Auf Anordnung Sylvius Hog's hielt dieselbe hier vor dem Hôtel Victoria, in dem Hulda und Joël abstiegen, da für sie auf Vorausbestellung Zimmer aufbewahrt worden waren. Nach herzlichem Abschied begab sich der Professor dann nach seinem alten Hause, wo ihn seine alte Dienerin Kate und sein alter Diener Fink mit nicht weniger alter Ungeduld erwarteten.[157]

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 148-158.
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