XVIII.

[164] Das war eine Ansammlung von Menschen im größten Saale der Universität von Christiania, wo die Ziehung der Lotterie vor sich gehen sollte! – Selbst in den Gängen und Höfen, da der große Saal die ganze Volksmenge nicht zu fassen vermochte, stand Alles gedrängt voll, und sogar bis hinaus in die benachbarten Straßen, da selbst die Höfe noch zu klein waren, um alle Interessenten aufzunehmen.

An jenem Sonntag des 15. Juli hätte man die ganz außergewöhnlich erregten Norweger freilich nicht an der ihnen sonst angeborenen Ruhe erkennen können. Rührte diese Erregung wohl von dem Interesse her, das sich an die bevorstehende Lotterieziehung knüpfte, oder war nur die hohe Luftwärme dieses[164] Sommertages daran Schuld? Vielleicht trugen Interesse und Hitze mit gleichen Theilen dazu bei; wenigstens vermochte der gewaltige Consum erquickender Früchte, jener »Multers« (Berghimbeeren), welche in ganz Skandinavien in so großen Mengen verzehrt werden, sie heute nicht zu dämpfen.

Pünktlich um drei Uhr sollte die Ziehung stattfinden. Für dieselbe waren hundert Loose in drei Serien getheilt worden, deren erste neunzig Gewinne von hundert bis tausend Mark im Gesammtwerthe von fünfundvierzigtausend Mark enthielt; die zweite umfaßte neun Gewinne von tausend bis neuntausend Mark ebenfalls im Werthe von fünfundvierzigtausend Mark; die dritte nur einen Gewinn von hunderttausend Mark.

Entgegen der Gewohnheit, welcher man sonst bei derartigen Lotterien folgt, war hier der Haupttreffer bis zuletzt aufgehoben, nicht der ersten gezogenen Nummer sollte das große Loos zufallen, sondern der hundertsten Nummer. Selbstverständlich bewirkte das eine sich immer steigernde Spannung und immer heftigeres Herzklopfen bei den Anwesenden. Wir brauchen natürlich nicht zu betonen, daß eine Nummer, welche schon einmal gewonnen hatte, nicht ein zweites Mal gewinnen konnte, und für ungiltig erklärt wurde, im Falle sie noch einmal aus den Urnen hervorkam.

Alles das war Jedermann bekannt und es galt jetzt nur noch, die bestimmte wichtige Stunde abzuwarten. Um aber die Langeweile beim Warten hinwegzutäuschen, plauderten Alle lebhaft und zwar am häufigsten von der bedauernswerthen Lage der Hulda Hansen. Hätte sie jetzt das Loos Ole Kamp's noch besessen, gewiß hätte ihr Jedermann – natürlich nach dem eigenen lieben Ich – den besten Erfolg gewünscht.

Zu dieser Stunde hatten schon mehrere Personen Kenntniß von der im »Morgen-Blad« enthaltenen Depesche und sprachen darüber mit den Nebenstehenden. Bald wußte man nun in der ganzen Versammlung, daß die Nachforschungen des Avisos zu keinem Ziele geführt hatten; die Sache war abgeschlossen, man mußte darauf verzichten, nur eine einzige Planke des »Viken« wiederzufinden. Von der Besatzung hatte kein Mann den schrecklichen Schiffbruch überlebt. Hulda würde ihren Verlobten nimmer wiedersehen.

Da lenkte ein Zwischenfall die Aufmerksamkeit nach anderer Seite ab. Es verbreitete sich nämlich das Gerücht, Sandgoïst habe sich doch entschlossen, Drammen zu verlassen, und Einige behaupteten sogar, ihn in den Straßen von Christiania schon gesehen zu haben. Sollte er wirklich die Kühnheit haben, in[165] diesem Saale zu erscheinen? Wenn es der Fall war, durfte der schlechte Mann sich eines Ausbruchs der allgemeinen Entrüstung gegen ihn versehen. Er... der Ziehung der Lotterie selbst beiwohnen?... Nein, das war so unwahrscheinlich, daß es gar nicht möglich war, die Sache lief auch auf nichts weiter, als auf einen blinden Lärmen hinaus.

Gegen zweieinviertel Uhr entstand eine gewisse Bewegung im Saale.

Eben zeigte sich der Professor Sylvius Hog im Thore der Universität. Man wußte wohl, wie viel Antheil er an der ganzen Angelegenheit hatte und wie er nach erfolgter eigener Rettung durch die Kinder der Frau Hansen ehrlich bestrebt war, seine Schuld heimzuzahlen.

Sofort öffneten sich die Reihen der zunächststehenden Landleute. Ein schmeichelhaftes Murmeln, auf das Sylvius Hog durch freundliches Nicken mit dem Kopfe antwortete, lief durch die Menschenmenge und wuchs bald zu lebhaften Zurufen an.

Der Professor war jedoch nicht allein. Als die Ersten zurückwichen, um ihm Platz zu machen, sah man, daß er ein junges Mädchen am Arme führte, während ein junger Mann den Beiden nachfolgte.

Ein junger Mann und ein junges Mädchen! Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es die guten Leute. Derselbe Gedanke sprang in allen Köpfen so gleichzeitig auf, wie der Funken von ebenso vielen Accumulatoren.

»Hulda!... Hulda Hansen!«

Dieser Name drängte sich unwillkürlich aus jedem Munde.

Ja, es war Hulda, aber so erregt, daß sie sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte. Ohne den Arm Sylvius Hog's wäre sie gewiß zusammengebrochen. Dieser aber hielt sie ordentlich fest, die reizende Heldin dieser festlichen Stunde, der nur ihr Ole Kamp fehlte. Und doch, wie viel lieber wäre sie in ihrem kleinen Stübchen in Dal geblieben, und wie drängte es sie, sich dieser, wenn auch noch so wohlgemeinten theilnehmenden Neugier zu entziehen. Sylvius Hog hatte es jedoch gewollt, daß sie hierherkäme und so war sie gekommen.

»Platz! Platz!« rief man von allen Seiten.

So dicht die Menge gedrängt stand, wich sie doch vor Sylvius Hog, vor Hulda und Joël zurück. Aber wie viele Hände streckten sich aus, um die ihrigen zu erfassen! Wie viele freundliche Begrüßungsworte wurden ihnen beim Vorüberkommen zugerufen, und mit wie sichtlicher Befriedigung nahm Sylvius Hog diese freiwilligen Huldigungen entgegen![166]

»Ja, sie ist es, liebe Freunde!... Das ist meine kleine Hulda, die ich von Dal mit hergebracht habe!« sagte er.

Darauf wandte er sich um.

»Und das ist Joël, ihr wackerer Bruder!«

Dann setzte er aber noch hinzu:

»Nun thut mir noch den einzigen Gefallen, uns nicht aus Liebe zu erdrücken!«

Und während die Hand Joëls auf jeden Druck antwortete, wurde die minder kräftig gebaute Hand des Professors unter der Pressung, die sie zu erdulden hatte, fast zerbrochen. Gleichzeitig aber glänzte sein Auge vor Freude auf, obgleich eine kleine Thräne der Rührung in seinen Lidern hing. Aber – eine der Aufmerksamkeit der Ophtalmologen würdige Erscheinung – diese kleine Thräne war fast lachend.

Es bedurfte einer guten Viertelstunde, die Höfe der Universität zu durchschreiten, nach dem großen Saale zu gelangen und hier die Stühle zu erreichen, welche für den Professor aufbewahrt worden waren. Endlich war es jedoch, freilich nicht ohne einige Mühe, gelungen. Sylvius Hog nahm zwischen Joël und Hulda Platz.

Um einhalb drei Uhr öffnete sich eine Thür auf dem Podium an der Schmalseite des Saales. Es erschien der Vorsitzende des Bureau, ernst und würdig mit der bekannten Herrschermiene, der eigenthümlichen Haltung des Kopfes, welche man bei Jedermann beobachtet, der die Ehre hat, zu irgend einem Präsidium berufen zu sein. Zwei nicht minder ernste Beisitzer folgten ihm. Darauf sah man sechs kleine, mit Bändern und Blumen geschmückte Mädchen eintreten, lauter Blondköpfchen mit blauen Augen und rosigen Händen, an denen man deutlich die Hand der Unschuld erkannte, und welche ausersehen waren, die Loosnummern zu ziehen.

Diese Eintrittsscene begrüßte ein allgemeines Lärmen, das zunächst Zeugniß gab von dem Vergnügen, das die Leute empfanden, die Directoren der Lotterie von Christiania vor sich zu sehen, daneben auch von der dadurch hervorgerufenen Ungeduld, daß sie sich nicht eher auf der Estrade gezeigt hatten.

Wenn hier sechs kleine Mädchen erschienen, so geschah das deshalb, weil sechs Urnen auf einem Tische standen, aus welcher bei jeder einzelnen Ziehung sechs Ziffern hervorgehen sollten.

Diese sechs Urnen enthielten jede die zehn Ziffern 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 0, welche die Einer, die Zehner, Hunderte, Tausende, Zehntausende und


Dann war sie ohnmächtig geworden. (S. 173.)
Dann war sie ohnmächtig geworden. (S. 173.)

[167] Hunderttausende der Zahl Million darstellen sollten. Eine siebente Urne für die Zahl Million selbst gab es nicht, weil bei dieser Art und Weise der Ziehung ausgemacht war, daß sechs gleichzeitig aus den Urnen hervorgehende Nullen die Zahl Million bedeuten sollten – wodurch also für alle Nummern gleiche Gewinnaussichten geschaffen wurden.

Außerdem war die Bestimmung getroffen, daß die Nummern nach einander aus der Urne gezogen würden, und zwar zuerst diejenige, welche den Anwesenden zur linken Hand lag.[168]

Die gewinnende Zahl entstand so zu sagen auf diese Weise vor den Augen der Zuschauer, zuerst die Ziffer, welche die Hunderttausend bildete, dann die Zehntausend und so hinab bis zu den Einern.

Man kann sich bei dieser Anordnung denken, wie Jeder beim Erscheinen einer neuen Ziffer seine vielleicht winkende Aussicht auf Gewinn mit zunehmender Erregung wachsen sah.

Schlag drei Uhr machte der Vorsitzende mit der Hand ein Zeichen und erklärte die Ziehung für eröffnet.[169]

Das lange Gemurmel, das diese Erklärung begleitete, dauerte einige Minuten an, nach denen dann ein gewisses Stillschweigen eintrat.

Der Vorsitzende erhob sich nun. Sehr bewegt hielt er eine kleine angepaßte Rede, in der er bedauerte, daß eben nicht auf jede Nummer ein großes Loos fallen könne. Dann gab er Erlaubniß, mit der Ziehung der ersten Serie zu beginnen. Diese enthielt, wie wir wissen, neunzig gewinnende Nummern, was immerhin einige Zeit in Anspruch nahm.


Die Kirche von Hitterdal. (S. 178.)
Die Kirche von Hitterdal. (S. 178.)

Die sechs kleinen Mädchen begannen jetzt mit automatischer Regelmäßigkeit die Lösung ihrer Aufgabe, ohne daß die Geduld der Anwesenden nur ein einziges Mal ausgegangen wäre. Bei dem zunehmenden Werthe jeder gezogenen Nummer nahm freilich auch die Spannung Aller gleichmäßig zu, und Niemand fiel es ein, seinen Platz zu verlassen, nicht einmal Denjenigen, deren schon gezogene Nummern doch keine weitere Aussicht auf Gewinn bieten konnten.

So verlief eine volle Stunde ohne jeden Zwischenfall. Jeder hatte sich dabei überzeugen können, daß die Nummer 9672 noch nicht gezogen worden war, was ihr ja jede Aussicht entzogen hätte, den Gewinn von hunderttausend Mark zu erhalten.

»Das ist schon von guter Vorbedeutung für den Kerl, den Sandgoïst! bemerkte einer der Nachbarn des Professors.

– Bah, es wäre doch ein Wunder, wenn gerade ihm der größte Gewinn zufallen sollte, obwohl er eine berühmte Loosnummer hat, erwiderte ein Anderer.

– Wahrlich, eine berühmte! bestätigte Sylvius Hog; doch fragt mich nicht warum... ich wäre jetzt nicht im Stande, das zu erklären.«

Nun begann die Ziehung der zweiten Serie, welche neun Loose umfaßte. Das mußte nun schon hochinteressant werden, da die einundneunzigste Nummer tausend Mark gewann, die zweiundneunzigste schon zweitausend Mark, und so weiter bis zur neunundneunzigsten, der ein Gewinn von neuntausend Mark zufiel. Die dritte Serie endlich, wie der Leser nicht vergessen haben wird, bestand nur aus dem einen großen Loose.

Die Nummer 72521 erhielt einen Gewinn von fünftausend Mark. Das Loos war im Besitze eines wackeren Seemannes aus dem Hafen, dem alle Anwesenden zujubelten und der diese Huldigung mit großer Würde entgegennahm. Eine zweite Nummer, die 823752, gewann sechstausend Mark. Wie freute sich da Sylvius Hog, als Joël ihm zuflüsterte, daß diese Nummmer der reizenden Sigrid in Bamble gehörte.[170]

Da entstand aber eine ganz allgemeine, durch Gemurmel sich fortpflanzende Bewegung unter den Anwesenden, als die siebenundneunzigste Nummer gezogen wurde – zu der ein Gewinn von siebentausend Mark gehörte – und man eine kurze Zeit glauben konnte, daß Sandgoïst vom Schicksale, wenigstens bezüglich dieses Gewinnes, begünstigt werden könnte.

Die Nummer, welche jene Summe gewann, war nämlich 9627; es fehlten also nur fünfundvierzig Einer an der, welche Ole Kamp gehört hatte.

Die beiden folgenden Ziehungen ergaben die sehr weit von einander entfernt liegenden Nummern 775 und 76287.

Die zweite Serie war beendigt; jetzt war nur noch eine Nummer für den größten Gewinn von hundert tausend Mark zu bestimmen.

Die Erregung der Zuschauer stieg damit so hoch, daß es schwer werden möchte, dieselbe bezüglich ihrer Intensität genauer zu kennzeichnen.

Zunächst entstand ein langes Murmeln, das sich von dem großen Saale aus nach den Höfen und bis auf die Straße fortpflanzte. Es vergingen gewiß einige Minuten, ehe sich dasselbe legte. Allmählich trat jedoch ein gewisses Decrescendo ein, dem ein tiefes Stillschweigen folgte, so daß man die ganze Zuschauermenge hätte für scheintodt halten können. Unter dieser Ruhe verbarg sich wirklich eine Art Erstarrung, welche man empfindet, wenn man einen Verurtheilten auf dem Richtplatz erscheinen sieht. Diesmal freilich war der noch unbekannte leidende Theil nur verurtheilt, hunderttausend Mark zu gewinnen, aber nicht den Kopf zu verlieren, wenn das nicht etwa aus Freude geschah.

Die Arme gekreuzt, blickte Joël ziellos vor sich hin – er war vielleicht von der ganzen Menge am wenigsten erregt. Hulda, die ganz in sich zusammengesunken dasaß, dachte nur an ihren armen Ole und sachte ihn instinctiv mit den Augen, als müsse er jetzt im letzten Moment auftauchen.

Was Sylvius Hog betrifft... doch nein, wir müssen darauf verzichten, den Gemüthszustand Sylvius Hog's zu schildern.

»Ziehung des Gewinnes von hunderttausend Mark!«rief der Vorsitzende

Welche Stimme! Sie schien aus dem Inneren dieses feierlich-ernsten Mannes hervorzutönen. Es mochte das auch mit daher kommen, daß er selbst mehrere Loose besaß, von denen noch keines gezogen war und deren eines doch ebenso gut jetzt das große Loos gewinnen konnte.

Das erste kleine Mädchen zog eine Ziffer aus der Urne zur Linken und zeigte sie den Zuschauern.[171]

»Null!« rief der Vorsitzende.

Diese Null brachte keine besondere Wirkung hervor; es machte fast den Eindruck, als ob man ihr Erscheinen erwartet hätte.

»Null!« wiederholte der Vorsitzende, als er die von dem zweiten kleinen Mädchen gezogene Ziffer anmeldete.

Zwei Nullen! Man begreift, daß hiermit die Gewinnchancen beträchtlich für alle Nummern zwischen eins und neuntausendneunhundertneunundneunzig zunahmen. Ole Kamp's Loos trug aber, wie wir wissen, die Nummer neuntausendsechshundertzweiundsiebzig.

Sonderbar – Sylvius Hog begann auf seinem Stuhle unruhig zu werden, als ob er auf einem schlingernden Schiffe säße.

»Neun!« rief der Präsident, als er die von dem dritten kleinen Mädchen aus ihrer Urne gezogene Ziffer verkündigte.

»Neun!«... das war die erste Ziffer von Ole Kamp's Loose.

»Sechs!« fuhr der Vorsitzende fort.

Und richtig, das vierte Mägdlein zeigte eine Sechs allen Blicken, vor denen sie sich, da sie gleich geladenen Pistolen auf sie gerichtet waren, fast zu fürchten schien.

Die Gewinnmöglichkeit betrug jetzt eins zu hundert für alle Nummern zwischen eins und neunundneunzig.

Sollte das Loos Ole Kamp's wirklich dem schändlichen Sandgoïst die Summe von hunderttausend Mark in die Tasche zaubern? Wahrlich, man hätte an der Vorsehung zweifeln lernen können.

Das fünfte kleine Mädchen tauchte die Hand in die Urne und entnahm derselben die fünfte Ziffer.

»Sieben!« sagte der Vorsitzende, doch mit so erstickter Stimme, daß man ihn kaum in den vordersten Reihen verstehen konnte.

Wenn man aber nichts hörte, so sah man doch, worauf es ankam, denn die fünf kleinen Mädchen zeigten eben den Zuschauern die folgenden Ziffern:


00967.


Die gewinnende Nummer mußte also unbedingt zwischen 9670 und 9679 liegen.

Die Spannung hatte ihren höchsten Punkt erreicht.

Sylvius Hog stand aufrecht da und hatte Hulda Hansen's Hand ergriffen. Alle Blicke richteten sich auf das arme Mädchen. Hatte sie, während sie das[172] letzte Andenken von ihrem Ole Kamp hergab, wirklich ein Vermögen geopfert, das ihr Verlobter für sie erträumte?

Das sechste kleine Mädchen hatte einige Mühe, die Hand in ihre Urne einzuführen. Sie zitterte, das kleine Ding. Endlich erschien die Ziffer.

»Zwei!« rief der Vorsitzende.

Halb erstickt vor Erregung sank er damit auf seinen Stuhl zurück.

»Neuntausendsechshundertzweiundsiebzig!« verkündigte einer der Beisitzer mit laut schallender Stimme.

Das war die Nummer von Ole Kamp's Loos, jetzt im Besitz des wucherischen Sandgoïst. Alle Welt wußte es, und Niemand war es ein Geheimniß, auf welche Weise der Geizhals es erworben hatte. Es entstand auch eine Todtenstille statt des Donners der Hurrahs, von dem der große Saal der Universität wiedergehallt haben würde, wenn das Loos sich noch in Hulda Hansen's Händen befunden hätte.

Würde nun der Schurke, der Sandgoïst, sein Loos in der Hand hervortreten, um den darauf gefallenen Gewinn einzustreichen?

»Die Nummer 9672 erhält den Gewinn von hunderttausend Mark, wiederholte der Beisitzer. Wer hat Anspruch darauf?

– Ich!«

War das der Wucherer von Drammen, der dieses kurze Wort ausgesprochen hatte?

Nein, es war ein junger Mann gewesen – ein junger Mann mit blassem Gesicht, der in seinen Zügen, wie in der ganzen Erscheinung, zwar die Zeichen lange erduldeter Entbehrungen trug, aber doch lebte – lebte!

Bei dieser Stimme hatte Hulda sich erhoben und einen Schrei ausgestoßen, der von der ganzen Versammlung vernommen wurde, dann war sie ohnmächtig geworden...

Der junge Mann hatte jedoch schon die Menge getheilt und er fing das bewußtlose junge Mädchen in seinen Armen auf.

Es war Ole Kamp.[173]

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 164-174.
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