XIX.

[174] Ja, es war Ole Kamp – Ole Kamp, der wie durch ein Wunder den Schiffbruch des »Viken« überlebt hatte.

Daß ihn der »Telegraf« bei seiner Rückkehr nicht gleichzeitig mit nach Europa brachte, lag einfach daran, daß er sich damals nicht mehr in den von dem Aviso durchsuchten Gegenden befunden hatte.

Dort war er aber nicht mehr, weil er sich schon an Bord eines anderen Schiffes und auf dem Heimwege nach Christiania befand.

So etwa lautete die Darstellung Sylvius Hog's, die er vor Jedem wiederholte, der sie hören wollte, und man darf wohl glauben, daß Alle derselben begierig lauschten. Er erzählte die Rettungsgeschichte mit wirklich triumphirendem Ausdruck, und seine Nachbarn verbreiteten sie weiter an Diejenigen, welche nicht das Glück hatten, ihm nahe genug zu stehen. So pflanzte sich die Neuigkeit fort von Gruppe zu Gruppe bis zu der draußen in den Höfen und den angrenzenden Straßen aufgestauten Menge.

Binnen wenigen Minuten wußte ganz Christiania, daß der junge Schiffbrüchige vom »Viken« zurückgekehrt sei, daß er das große Loos in der Schulen-Lotterie gewonnen habe.

Sylvius Hog mußte sich schon herbeilassen, die Geschichte zu erzählen; Ole selbst hätte es nämlich nicht vermocht, denn Joël hatte ihn, während Hulda allmählich wieder zu sich kam, in die Arme gepreßt, daß er fast erstickte.

»Hulda!... Liebste Hulda! rief Ole nur. Ja... ich bin's... Dein Verlobter... und bald Dein Gatte!...

– Schon morgen, meine Kinder, schon morgen! jubelte Sylvius Hog. Noch heute Abend fahren wir nach Dal zurück, und wenn's auch noch nie vorgekommen sein mag, so wird man einen Professor der Rechtswissenschaft und Abgeordneten des Storthing da bei einer frohen Hochzeit tanzen sehen, wie den ausgelassensten Burschen von Telemarken!«

Daß Sylvius Hog die Geschichte Ole Kamp's kannte, erklärt sich durch den letzten Brief, der ihm vom Seeamte nach Dal gesendet worden war. Dieser[174] Brief – der letzte, den er erhalten und dessen er gegen Niemand Erwähnung gethan – enthielt nämlich ein aus Christiania datirtes zweites Schreiben, aus dem er Folgendes erfuhr:

Die dänische Brigg »Genius« war eben in Christiansand vor Anker gegangen und hatte einige Ueberlebende vom »Viken« an Bord, unter Anderen den jungen Steuermann Ole Kamp, der drei Tage später in Christiania eintreffen sollte.

Der Brief aus dem Seeamte fügte hinzu, daß die Schiffbrüchigen sich infolge der ausgestandenen entsetzlichen Leiden in höchst geschwächtem Zustande befänden. Aus diesem Grunde hatte Sylvius Hulda nichts von der Rückkehr ihres Verlobten sagen wollen. In seiner Antwort hatte er auch die strengste Geheimhaltung dieser Rückkehr erbeten, eine Geheimhaltung, der man sich gegenüber der Allgemeinheit befleißigt hatte.

Daß der Aviso »Telegraf« nun weder ein Wrackstück, noch einen Ueberlebenden vom »Viken« gefunden, bedarf jetzt kaum einer Erklärung.

Während eines sehr heftigen Sturmes hatte nämlich der »Viken«, als er sich etwa zweihundert Seemeilen südlich von Island befand, nach Nordwesten zu flüchten müssen. In der durch plötzliche starke Windstöße ausgezeichneten Nacht war er gegen einen der ungeheuren Eisberge gestoßen, die von den Grönländischen Meeren aus vorübertreiben. Die Collision war furchtbar – so stark, daß der »Viken« schon fünf Minuten nachher in die Tiefe versank.

Eben damals hatte Ole jene Zeilen abgefaßt, auf das Lotterie-Loos ein letztes Lebewohl an seine Verlobte geschrieben und es dann, nachdem er es in einer Flasche verschlossen, in's Meer geworfen.

Der größte Theil der Besatzung des »Viken«, darunter auch der Capitän, war bei jenem Zusammenstoß umgekommen. Ole Kamp und vier seiner Kameraden hatten noch auf ein Bruchstück des Eisberges springen können, als der »Viken« eben versank. Ihr elender Tod wäre dadurch freilich nur verzögert worden, wenn der entsetzliche Sturmwind das Eis nicht nach Nordwesten zu getrieben hätte.


Als sie am Arme ihres Gatten die kleine Kapelle verließ... (S. 178.)
Als sie am Arme ihres Gatten die kleine Kapelle verließ... (S. 178.)

Zwei Tage später konnten die erschöpften, schon vor Hunger halbtodten Ueberlebenden aus dem Schiff bruch sich an die Küste Grönlands retten – an jene verlassene Küste, wo sie nun der Gnade des Himmels anheimgegeben waren.

Ohne eine nach wenig Tagen eintreffende Hilfe wären sie auch hier noch elend umgekommen, da es ihnen ja viel zu sehr an Kräften fehlte, um die Fischereien oder die dänischen Niederlassungen an der Bassins-Bai am jenseitigen Ufer zu erreichen.[175]

Da kam zufällig die durch den Sturm ebenfalls aus ihrem Course verschlagene Brigg »Genius« in Sicht. Die Schiffbrüchigen gaben sich durch Zeichen zu erkennen, wurden aufgenommen und waren damit gerettet.

Bei der verhältnißmäßig kurzen Ueberfahrt von Grönland nach Norwegen erlitt der »Genius« jedoch durch widrige Winde noch namhafte Verzögerungen.

Das erklärt, warum er in Christiansand erst am 12. Juli und erst am Morgen des 15. Juli in Christiania eintraf.[176]

An eben diesem Morgen war aber Sylvius Hog auf das genannte Schiff gegangen, wo er Ole noch sehr schwach antraf und er ihm Alles, was sich seit Eintreffen seines letzten, aus Saint-Pierre-Miquelon abgesandten Briefes ereignet, mittheilte. Darauf hatte er ihn nach seiner Wohnung mitgenommen, nicht ohne die Mannschaft des »Genius« um vorläufiges Stillschweigen zu bitten. Das Uebrige ist dem freundlichen Leser bekannt.


Der Professor eröffnete den Ball. (S. 179.)
Der Professor eröffnete den Ball. (S. 179.)

Darauf wurde verabredet, daß Ole, wenn er sich dazu kräftig genug fühlte, der Ziehung der Lotterie beiwohnen sollte.[177]

Nun, an Kräften konnte es ihm ja nicht fehlen, da Hulda ebenfalls dort anwesend sein sollte. Doch hatte jene Ziehung denn noch ein Interesse für ihn? Ja, gewiß, das größte Interesse, für ihn, wie für seine Braut.

Sylvius Hog war es nämlich gelungen, das Loos aus der Hand Sandgoïst's noch wieder zu erhalten, indem er es für denselben Preis erkaufte, den der Wucherer aus Drammen der Frau Hansen dafür gezahlt hatte, und Sandgoïst war sogar herzlich froh gewesen, sich desselben noch zu entledigen, als ihm jetzt Keiner mehr ein Aufgeld bieten wollte.

»Mein wackerer Ole, hatte Sylvius Hog bei der Rückgabe des Looses geäußert, ich wollte damit Hulda keineswegs eine an und für sich höchst unwahrscheinliche Aussicht auf einen Gewinn wiedergeben, sondern nur das letzte Lebewohl, das Ihr im Augenblicke des drohenden Todes an sie gerichtet hattet.«

Man muß wohl zugeben, daß den Professor Sylvius Hog eine gute Eingebung leitete, eine bessere als den schurkischen Sandgoïst, der sich fast den Kopf an der Wand eingerannt hätte, als er den Ausgang der Ziehung erfuhr.

Jetzt waren auf einmal hunderttausend Mark in dem Hause in Dal! Ja, hunderttausend Mark ganz und voll, da Sylvius Hog nimmermehr das zurückerstattet genommen hätte, was er für den Rückkauf des Looses Ole Kamp's erlegt hatte.

Er betrachtete das als eine kleine Mitgift, die er am Tage ihrer Hochzeit seiner kleinen Hulda abzutreten sich höchst glücklich schätzte.

Vielleicht findet man es etwas wunderbar, daß gerade diese Nummer 9672, welche die allgemeine Aufmerksamkeit so lebhaft erregt hatte, mit dem großen Loose herausgekommen war.

Nun ja, es ist wohl ein wenig wunderbar, doch es war ja an und für sich nicht unmöglich, und kurz es ist Thatsache.

Sylvius Hog, Ole, Hulda und Joël verließen Christiania noch am nämlichen Abend. Die Rückkehr erfolgte über Bamble, um Sigrid gleich den Betrag, den sie auf ihr Loos gewonnen, zu überliefern. Als sie da bei der kleinen Kirche von Hitterdal vorüberkamen, entsann sich Hulda der traurigen Gedanken, die sie noch vor zwei Tagen bedrückten; der Anblick Oles führte sie jedoch bald zur glücklichen Wirklichkeit zurück.

Beim heiligen Olaf, wie reizend erschien Hulda unter der strahlenden Brautkrone, als sie vier Tage später am Arme ihres Gatten Ole aus der kleinen Kapelle von Dal heraustrat![178]

Das war ein Festjubel, der bis in die entferntesten Gaards von Telemarken hinaustönte. Und glücklich fühlten sich Alle, die hübsche Brautjungfer Sigrid, ihr Vater, der Pächter Helmboë, dessen zukünftiger Schwiegersohn Joël und auch Frau Hansen, welche das Gespenst Sandgoïst's jetzt nicht mehr zu ängstigen vermochte.

Vielleicht wirst Jemand die Frage auf, ob alle jene Freunde, alle Eingeladenen, die Gebrüder Help senior und junior und die vielen Anderen gekommen waren, Zeugen des Glücks der jungen Neuvermählten zu sein oder Sylvius Hog, den. Professor der Rechtswissenschaft und Abgeordneten des Storthing, tanzen zu sehen. Unnöthige Frage! Selbstverständlich tanzte er mit aller ihm zukommenden Würde, und nachdem er den »Ball« mit seiner lieben Hulda eröffnet, schloß er denselben mit der reizenden Sigrid.

Am folgenden Tage reiste er, begrüßt von den Hurrahs der gesammten Einwohnerschaft des Vestfjorddals, zwar schon ab, doch mit der ausdrücklichen Zusicherung, zur Hochzeit Joëls, die einige Wochen später zur Freude aller Betheiligten gefeiert wurde, wieder zu kommen.

Diesmal eröffnete der Professor den Ball mit der reizenden Sigrid und schloß ihn mit seiner lieben Hulda.

Seit diesem Tage aber tanzte Sylvius Hog nicht mehr.

Welch' reiches Glück wohnte nun in dem vorher so hart geprüften Hause in Dal! Ohne Zweifel war das ein Werk Sylvius Hog's, dieser wollte das freilich nicht zugestehen, sondern wiederholte immer und immer wieder:

»Schon gut! Aber ich, ich bleibe den Kindern der Frau Hansen doch immer noch etwas schuldig!«

Was das berühmte Loos betrifft, so hatte man dasselbe nach der Ziehung Ole Kamp zurückgegeben. Heute prangt es am Ehrenplatze unter sauberem Holzrahmen in der großen Stube des Gasthauses zu Dal. Doch was man davon sieht, ist nicht die Vorderseite des Looses mit der bedeutungsvollen Nummer 9672, sondern das auf die Rückseite geschriebene letzte Lebewohl, das der schiffbrüchige Ole Kamp einst an seine Braut Hulda Hansen gerichtet hatte.

Quelle:
Jules Verne: Nord gegen Süd. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LII–LIII, Wien, Pest, Leipzig 1889.
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