VIII.

[60] Am anderen Morgen brachen Beide mit Tagesgrauen aus dem Gasthause auf. Fünfzehn Kilometer von Dal bis nach den berühmten Wasserfällen, und ebenso viel zurück, das wäre für Joël nur ein Spazierweg gewesen, doch er mußte die Kräfte Huldas schonen. Joël hatte sich also den Schußkarren des Werkführers Lengling verschafft, und wie alle Wagen dieser Art, hatte auch dieser nur einen einzigen Sitzplatz. Jener gute Mann war aber so dick, daß er sich einen eigenen Sitzkasten hatte bauen lassen müssen, und dieser reichte hin, Joël und Hulda dicht nebeneinander aufzunehmen. Wenn sich der angemeldete Reisende also am Rjukansos befand, so sollte er Joëls Platz einnehmen, und[60] dieser gedachte zu Fuß zurückzukehren, wenn er nicht das Brett am hinteren Theile des Gefährtes benützte.

Obwohl er manche Hindernisse bietet, ist der Weg von Dal nach den Wasserfällen doch wirklich wunderschön; freilich besteht er mehr aus einem Pfad, als aus einer eigentlichen Straße. Kaum vierkantig behauene Blöcke, welche quer über die Zuflüsse des Maan gelegt sind, bilden, immer nur wenige Schritte von einander, kleine Brücken. Das norwegische Pferd ist aber schon gewöhnt, dieselben sicheren Fußes zu überschreiten, und wenn der Wagen auch keine Schwungfedern hat, so mildert doch die lange, etwas elastische Gabeldeichsel in gewissem Grade das unvermeidliche Stoßen beim Fahren.

Das Wetter war jetzt schön. Joël und Hulda fuhren in mäßigem Trabe längs der saftgrünen Wiesengründe hin, deren Rand zur Linken von den klaren Gewässern des Maan gebadet wird. Einige tausend Birken beschatteten da und dort angenehm den von der hellen Sonne beschienenen Weg. Die Dünste der Nacht hingen jetzt als schimmernde Tröpfchen an den Spitzen des langen Grases. Zur Rechten des Bergstromes glänzten in der Höhe von zweitausend Metern die Schneefelder des Gusta leuchtend in die Ferne hinaus.

Eine Stunde lang kam das Gefährt ziemlich schnell vorwärts, da der Weg nur unmerklich aufstieg. Bald verengte sich aber das Thal. Hier und da verwandelten sich die Wasserläufe in schäumende Sturzbäche. Trotz der vielen Windungen des Weges konnte dieser alle Unebenheiten des Bodens doch nicht umgehen. Es war also nun manchmal recht schwierig, vorwärts zu kommen, wenn Joël auch ein geschickter Rosselenker war. An seiner Seite kannte Hulda übrigens keine Furcht. Kam einmal eine gar zu steile Stelle, so klammerte sie sich fest an seinem Arm an. Der frische Morgen färbte jetzt ihr seit einiger Zeit recht blasses, hübsches Gesichtchen.

Es galt indeß eine noch bedeutendere Höhe zu erklimmen. Das Thal bot einen Durchgang nur an dem sehr verengten Bette des Maan zwischen zwei lothrecht aufstrebenden Felsenmauern. Auf dem benachbarten Fjeld zeigten sich etwa zwanzig Häuschen, Ruinen von Saeters oder aufgegebene Gaards, neben einzelnen, unter den Birken und Buchen verlorenen Schäferhütten. Bald war es nicht mehr möglich, den Fluß zu sehen, doch hörte man sein lautes Rauschen im felsigen Bett. Die Umgebung gewann allmählich ein ebenso großartiges, wie wildes Aussehen, da jetzt der Kamm der Gebirge ihren weitumfassenden Rahmen bildete.[61]

Nach zweistündiger Fahrt zeigte sich am Rande eines Wasserfalles von fünfzehnhundert Fuß eine von doppelten Rädern getriebene Sägemühle. Cascaden von einer Höhe wie die genannte, sind im Vestfjorddal nicht eben selten, doch ist ihre Wassermenge im Allgemeinen nur gering. Darin übertrifft Alle der Fall des Rjukanfos.

Bei dem Sägewerke angelangt, stiegen Joël und Hulda ab.

»Eine halbe Stunde Weg wird Dich nicht so sehr anstrengen, Schwesterchen? fragte Joël.

– Nein, Bruder, ich bin ja gar nicht müde, und es wird mir sogar wohlthun, ein wenig zu Fuße zu gehen.

– Ein wenig... ziemlich viel sogar, und immer bergauf.

– Dann stütze ich mich auf Deinen Arm, Joël.«

An dieser Stelle mußten sie unbedingt den Wagen zurücklassen. Dieser hätte nicht vorwärts kommen können auf den steilen Pfaden, den ganz engen Durchgängen, den mit kantigen Felsstücken übersäeten Abhängen, deren malerische, einmal von Bäumen beschattete und dann ganz nackte Formen die Nähe des großen Wasserfalles anzeigen.

Schon erhob sich eine Art dichter Nebel inmitten der bläulichen Ferne. Das waren die zerstäubten Gewässer des Rjukan, die sich wolkenartig zu großer Höhe erhoben.

Hulda und Joël benützten nun einen, den Führern wohlbekannten Fußpfad, der nach der engsten Stelle des Thales hinableitet, und auf dem sie zwischen Bäumen und Büschen hindurchgleiten mußten. Kurze Zeit darauf saßen Beide schon auf einem, von gelblichem Moose bedeckten Felsstück, fast genau gegenüber dem Falle, dem man nur von dieser Seite so nahe kommen kann.

Hier hätten die Geschwister Mühe gehabt, einander zu verstehen, wenn sie gesprochen hätten. Ihre Gedanken waren aber von der Art, welche sich, ohne daß die Lippen sie aussprechen, durch das Herz allein mittheilen.

Die Wassermasse des Rjukan ist eine ungeheure, seine Höhe eine sehr bedeutende und sein donnerndes Rauschen wahrhaft überwältigend. Neunhundert Fuß tief fehlt hier im Bett des Maan, zwischen dem Mjös-See stromauf- und dem Tinn-See stromabwärts, plötzlich der Boden. Neunhundert Fuß, das heißt sechsmal so hoch wie der Niagara, dessen Breite vom amerikanischen bis zum canadischen Ufer freilich drei (englische) Meilen beträgt.[62]

Hier bietet der Rjukansos einen so großartigen Anblick, daß man diesen durch eine Beschreibung nur sehr schwer wiederzugeben vermag; selbst die Malerkunst würde nicht im Stande sein, ihn ganz entsprechend darzustellen. Es gibt eben gewisse Wunderwerke der Natur, die man sehen muß, um ihre Schönheit ganz zu verstehen; dazu gehört auch dieser Wasserfall, der berühmteste unter allen Fällen des europäischen Festlandes.

Gerade jetzt saß auch ein Lustreisender im Anschauen versunken auf der linken Felswand des Maan, von wo er den Rjukansos ganz aus der Nähe und vom höchsten Standpunkt aus betrachten konnte.

Weder Joël, noch Hulda hatten ihn bisher bemerkt, obgleich er von ihrem Platz aus sichtbar war. Es war nicht die Entfernung, sondern eine in Berggegenden oft bemerkte optische Wirkung, die ihn sehr klein und deshalb weit entfernter, als er wirklich von ihnen war, erscheinen ließ.

In diesem Augenblick hatte sich der Reisende gerade erhoben und wagte sich schon ziemlich unbedacht auf einen Felsenvorsprung hinaus, der kuppelartig über das Bett des Maan hinausging.

Er wollte offenbar die beiden Höhlen des Rjukansos, eine zur rechten, die andere zur linken, sehen, von denen die erstere immer mit dichten Dunstmassen, die zweite von brodelndem Wasser erfüllt ist. Vielleicht suchte er auch zu erkennen, ob sich nicht noch eine dritte niedrigere, etwa in halber Höhe des Falles gelegene Höhle entdecken ließe. Dadurch würde sich nämlich erklären, warum der Rjukan, nachdem er in eine solche gestürzt, zu gewissen Perioden in starkem Schwalle rückwärts zu springen scheint. Man möchte sagen, das Wasser würde durch eine Minensprengung, welche durch ihre Dampfwolken die umgebenden Fjelds verhüllt, in die Höhe geschleudert.

Noch immer schritt der Tourist auf diesem abgerundeten, steinigen und schlüpfrigen Rücken weiter vor, auf dem sich keine Baumwurzel, kein Gras oder Strauch findet und der den Namen Maristien führt.

Der Unvorsichtige kannte offenbar die Fabel nicht, welche diese Stelle berühmt gemacht hat. Eines Tages wollte Eystein auf diesem gefährlichen Wege die schöne Mari von Vestfjorddal besuchen. Von der an deren Seite der Bergschlucht streckte ihm seine Braut die Arme entgegen. Plötzlich verliert er den Halt, fällt und gleitet aus, ohne sich auf der eisglatten Felsfläche anklammern zu können, und verschwindet im Abgrund, ohne daß die Stromschnellen des Maan je nur seinen Leichnam wieder zurückgegeben hätten.


Sie saßen auf einem Felsstück, gegenüber dem Falle. (S. 62.)
Sie saßen auf einem Felsstück, gegenüber dem Falle. (S. 62.)

[63] Was dem unglücklichen Eystein widerfahren war, sollte das auch dem Unbesonnenen begegnen, der sich auf diesem Abhang des Rjukansos immer weiter vorwagte?

Es war das wohl zu fürchten. Er wurde auch endlich selbst der Gefahr gewahr, doch leider zu spät. Plötzlich fehlte seinem Fuße jeder Stützpunkt er stieß einen Schrei aus, rollte etwa zwanzig Schritt weit hinunter und hatte nur noch Zeit, sich an einem vorspringenden Felsstück, dicht am Rande des Abgrundes festzuhalten.[64]

Joël und Hulda hatten ihn auch jetzt noch nicht bemerkt, wohl aber ihn nun gehört.

»Was war das? rief Joël sich erhebend.

– Ein Schrei, antwortete Hulda.

– Ja... Ein Verzweiflungsschrei!

– Von welcher Seite?...

– Hören wir!«

Beide blickten nach der rechten, wie nach der linken Seite des Falles; sie konnten nichts wahrnehmen. Indeß hatten sie deutlich die Worte: »Zu[65] Hilfe! Zu Hilfe!« verstanden, wenn der Rjukan zwischen seinen Sprüngen wie gewöhnlich etwa eine Minute lang stiller herabrauschte.

Das Rufen wiederholte sich.

»Joël, sagte Hulda, da ist ein Reisender in Gefahr, der nach Hilfe verlangt. Wir müssen zu ihm hin...

– Gewiß, Schwester, er kann auch nicht fern von uns sein. Aber auf welcher Seite?... Wo ist er?... Ich sehe nichts!«


Joël begann nun zu klettern. (S. 67.)
Joël begann nun zu klettern. (S. 67.)

Hulda stieg hinter dem Felsblock, auf dem sie saßen, den Abhang wieder ein Stück empor, indem sie sich an das dürftige Gestrüpp hielt, welches das linke Ufer des Maan bedeckt.

»Joël! rief sie endlich.

– Siehst Du ihn?...

– Ja... da... da!«

Hulda zeigte nach dem unvorsichtigen Wanderer, der fast über dem Schlunde schwebte.

Wenn sein gegen einen ganz kleinen Vorsprung gestützter Fuß abglitt, ihm versagte, wenn er nur ein Stückchen weiter herabrollte oder vom Schwindel ergriffen wurde, so war er rettungslos verloren.

»Wir müssen ihn retten! drängte Hulda.

– Natürlich! erwiderte Joël ohne Bedenken. Mit Vorsicht und der nöthigen Kaltblütigkeit können wir schon zu ihm hingelangen!«

Joël stieß nun einen langgezogenen Schrei aus. Dieser wurde von dem Reisenden gehört, denn dieser wandte den Kopf nach seiner Seite hin. Dann überlegte sich Joël wenige Augenblicke, wie er jenen am schnellsten und sichersten aus seiner schlimmen Lage befreien könnte.

»Hulda, sagte er, Du hast doch keine Furcht?

– Nein, Bruder!

– Der Maristien ist Dir doch bekannt?

– Ich bin schon mehrere Male darüber weggekommen.

– Nun, so geh' Du oben auf dem Kamm hin und suche Dich dem Fremden so weit wie möglich zu nähern. Dann läßt Du Dich zu ihm hinabgleiten und ergreifst seine Hand, um ihn einstweilen mit zu halten. Er soll aber noch nicht versuchen, aufzustehen, da würde ihn der Schwindel packen, würde ihn hinabziehen, und Ihr wäret Beide verloren.

– Und Du, Joël?[66]

– Nun, während Du von oben herkommst, krieche ich längs des Maan an dem Felsen hin. Ich werde schon zur Stelle sein, wenn Du hinkommst, und wenn er ausgleitet, könnte ich Euch vielleicht Beide noch halten!«

Dann rief Joël mit lautschallender Stimme, während einer neuen Pause des Rjukansos: »Rühren Sie sich nicht, Herr!... Warten Sie!... Wir versuchen, zu Ihnen zu gelangen!«

Hulda war schon hinter dem hohen Gebüsch des Abhanges verschwunden, um sich von der anderen Seite nach dem Kamm des Maristien zu begeben.

Joël sah das muthige Mädchen um die Ecke der Bäume wieder erscheinen.

Er selbst begann mit wahrer Lebensgefahr langsam längs des abschüssigen Theiles dieses runden Steinrückens, der den Einschnitt des Rjukansos überragt, hinab zu klettern oder zu kriechen. Welch' ruhiges Blut, welche Sicherheit des Fußes wie der Hand gehörte aber dazu, sich neben diesem Schlunde zu halten, dessen Wände von dem Staubregen des Wasserfalles immer feucht gehalten wurden!

In gleicher Linie mit ihm, nur etwa hundert Fuß höher oben, drang Hulda in schräger Richtung vor, um so bequem als möglich, nach der Stelle zu gelangen, an der der Fremde bewegungslos lag. Bei der von demselben eingehaltenen Lage konnte man das Gesicht, das sich nach dem Falle wendete, nicht erkennen.

Unter Jenem angekommen, hielt Joël ein. Nachdem er sich in einer Felsenspalte fest eingeklemmt, rief er laut:

»Heda!... Herr!«.

Der Reisende wendete den Kopf.

»Machen Sie ja keine Bewegung, Herr, fuhr Joël fort, nicht die geringste, und halten Sie sich nur tüchtig fest!

– Ohne Sorge, Freund, ich halte mich schon ordentlich! antwortete dieser in einem Tone, der Joël beruhigte. Wenn ich mich nicht fest hielte, läge ich wohl schon eine Viertelstunde im Grunde des Rjukansos.

– Meine Schwester wird bis zu Ihnen hinabgleiten, sagte Joël weiter, und wird Sie an der Hand erfassen. Doch bevor ich auch bei Ihnen bin, versuchen Sie nicht, etwa aufzustehen!... Rühren Sie sich am liebsten gar nicht...

– So wenig wie ein Felsen!« erwiderte der Reisende.

Schon begann Hulda von ihrer Seite aus herbeizuklimmen, indem sie die wenigst schlüpfrigen Stellen des Gesteins aussuchte und den Fuß in kleine[67] Aushöhlungen setzte, wo er einen verläßlichen Stützpunkt fand – immer kühn und sicher, wie man es von diesen Mädchen aus Telemarken kennt, die von Kindheit an mit den Abhängen der Fjelds vertraut sind.

Und ebenso wie Joël gerufen, rief auch sie:

»Halten Sie fest, Herr!

– Ja, ich halte fest... und werde sicherlich festhalten, so lange ich irgend kann!«

An guten Rathschlägen, die von oben und unten kamen, fehlte es ihm also gerade nicht.

»Vorzüglich haben Sie keine Furcht! setzte Hulda hinzu.

– Ich habe keine Furcht!

– Wir retten Sie! rief Joël.

– Ich hoffe darauf, denn – beim heiligen Olaf – allein mich zu retten, wäre ich außer Stande!«

Offenbar hatte sich der Fremde alle seine Geistesgegenwart bewahrt; nach dem Niederfallen mochten ihm wohl Arme und Beine den Dienst versagt haben, und was er jetzt thun konnte, bestand nur darin, sich an den schwachen Vorsprung zu klammern, der ihn noch vom Abgrund trennte.

Hulda kam inzwischen tiefer herunter. Wenige Augenblicke später befand sie sich neben dem Fremden und ergriff diesen, nachdem sie den Fuß gegen eine rauhere Stelle des Gesteins gestemmt, an der Hand.

Der Fremde versuchte, sich ein wenig aufzurichten.

»Rühren Sie sich nicht, mein Herr!... Nicht rühren!... sagte Hulda. Sie würden mich mit hinabziehen und ich wäre dann nicht stark genug, Sie zu halten. Wir müssen noch meinen Bruder abwarten. Wenn er sich zwischen uns und dem Rjukansos befindet, werden Sie sich erheben dürfen, um...

– Mich erheben, liebes Kind, das ist freilich leichter gesagt, als gethan, und ich fürchte am Ende, es kaum im Stande zu sein.

– Haben Sie sich etwa gar verletzt?

– Hm, gebrochen oder verrenkt hab' ich wahrscheinlich nichts, ich hoffe es wenigstens, aber eine tüchtige Schramme werde ich wohl am Bein haben.«

Joël befand sich jetzt noch zwanzig Schritte von der Stelle, wo sich Hulda und der Reisende festhielten. Der gekrümmte Verlauf des Felsrückens hatte ihm nicht gestattet, geradenwegs auf dieselben zuzuklettern, und jetzt mußte er noch den abgerundeten Grat desselben emporklimmen. Das war das schwierigste und auch das gefährlichste Stück Arbeit – es ging dabei um Tod und Leben.[68]

»Keine Bewegung! ermahnte er zum letzten Male den Fremden. Wenn Sie Beide abglitten, wäre ich, da meine Lage zu unsicher ist, nicht im Stande, Sie zurückzuhalten und Sie wären Beide verloren!

– Sei ohne Sorge, Joël, antwortete Hulda. Denke nur an Dich und. Gott möge Dir beistehen.«

Joël begann nun auf dem Bauch zu kriechen, indem er sich wirklich wie in Schlangenwindungen vorwärts schob. Zwei- oder dreimal fühlte er, daß ihm jeder Stützpunkt fehlte; endlich gelang es ihm aber mit Aufwand aller Geschicklichkeit, bis zu dem Reisenden hinauf zu kommen.

Dieser, ein zwar schon etwas bejahrter, aber doch noch recht rüstiger, gut erhaltener Mann, zeigte ein hübsches, einnehmendes und lächelndes Gesicht. Joël hatte wirklich eher erwartet, hier einen jungen Wagehals zu finden, der es unbedacht versucht hatte, über den Maristien weg zu gehen.

»Das war recht unklug, was Sie da begonnen haben, bester Herr, sagte er, sich halb niederlegend, um ein wenig Athem zu schöpfen.

– Wie, das war unklug? erwiderte der Reisende, sagen Sie lieber, es war die reine Tollheit!

– Sie haben Ihr Leben auf's Spiel gesetzt...

– Ich bin Schuld, daß Sie mir das nachgethan haben.

– Ich?... O, das ist so mein Geschäft!« antwortete Joël.

Dann stand er auf.

»Jetzt, sagte er, handelt es sich darum, wieder nach oben zu gelangen. Doch das Schwerste ist ja schon geschehen.

– Oh, das Schwerste!...

– Ja, lieber Herr, das Schwerste war es, hier zu Ihnen zu kommen. Jetzt brauchen wir nur einen weniger steilen Abhang hinaufzuklimmen.

– Dabei dürften Sie freilich gut thun, nicht zu viel auf mich zu rechnen, junger Mann. Das eine meiner Beine wird mir wohl jeden Dienst versagen, und wahrscheinlich jetzt ebenso, wie noch im Verlauf mehrerer Tage.

– Versuchen Sie, sich zu erheben.

– Recht gern... das heißt mit Ihrer Hilfe.

– Sie nehmen den Arm meiner Schwester; ich werde Sie unterstützen und schiebe Sie vorwärts.

– Werden Sie fest halten können?

– Ganz fest.[69]

– Nun gut, lieber Freund, ich verlasse mich ganz auf Euch. Da Ihr nun einmal den Gedanken gehabt, mich aus der Klemme zu befreien, müßt Ihr schon sehen, wie Ihr damit fertig werdet.«

Alle begannen, wie Joël angeordnet hatte, den Rückweg. Wenn dieses Erklimmen des obersten Felsrückens auch nicht ganz gefahrlos war, so ging die Sache doch besser, als sie gehofft hatten. Der Reisende war in der That ohne Knochenbruch und Gliederverrenkung davongekommen, er hatte sich nur eine ziemlich lange und tiefreichende Abschürfung der Haut zugezogen. Jedenfalls konnte er aber beide Beine besser brauchen, als er vorher selbst glaubte, wenn es auch nicht ohne Schmerz für ihn abging. Zehn Minuten später waren Alle jenseits des Maristien in Sicherheit.

Hier hätte der Fremde unter den ersten Weiden, welche den oberen Fjeld des Rjukansos begrenzten, etwas ausruhen können; Joël muthete ihm aber noch eine weitere kleine Anstrengung zu. Es lag ihm daran, eine unter Bäumen verlorene Hütte, wenige Schritte hinter dem Felsen, wo er mit seiner Schwester gesessen hatte, als sie nach dem Falle kamen, zu erreichen. Der Reisende versuchte bereitwillig dieser Aufforderung nachzukommen, und auf der einen Seite von Hulda, auf der anderen von Joël unterstützt, gelang es ihm auch, und er stand bald, ohne zu viel gelitten zu haben, vor der Thür der Hütte.

»Treten Sie ein, mein Herr, sagte das junge Mädchen, hier können Sie besser einen Augenblick ausruhen.

– Wird dieser Augenblick sich auf eine gute Viertelstunde ausdehnen dürfen?

– Gewiß, werther Herr; dann werden Sie sich aber schon dazu verstehen müssen, mit uns bis nach Dal zu gehen.

– Nach Dal?... O, gerade dahin wollte ich mich ja begeben.

– Wären Sie vielleicht der Reisende, fragte Joël, der vom Norden herkommt und dessen Eintreffen mir von Hardanger angemeldet wurde?

– Derselbe.

– Meiner Treu, da hatten Sie nicht gerade den besten Weg eingeschlagen...

– Ich hege daran auch einigen Zweifel.

– Und wenn ich hätte voraussehen können, was Ihnen widerfahren ist, hätte ich Sie bestimmt an der anderen Seite des Rjukansos erwartet.

– Das wäre freilich ein recht glücklicher Einfall gewesen, mein wackerer, junger Mann. Sie hätten mir da eine für mein Alter ganz unverzeihliche Unbesonnenheit erspart.[70]

– Für jedes Alter, werther Herr!« ließ sich Hulda vernehmen.

Alle Drei betraten nun die Hütte, in der sich eine ganze Bauernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Töchtern, aufhielt. Diese erhoben sich Alle höflich und bewillkommneten freundlich die unerwarteten Gäste.

Joël konnte sich nun überzeugen, daß der Reisende nur ein wenig unter dem Knie eine ziemlich lange Hautwunde hatte, welche zur Heilung gewiß eine Woche Ruhe bedingte. Das Bein war aber weder verrenkt, noch gebrochen, überhaupt kein Knochen dabei verletzt worden, und das war ja die Hauptsache.

Die Bewohner der Hütte boten den Gästen vorzügliche Milch, Erdbeeren in Ueberfluß und etwas Schwarzbrot an, was ebenso gern angenommen wurde.

Joël that sich gar keinen Zwang an und zeigte einen recht tüchtigen Appetit, wenn dagegen Hulda nur wenig aß, so that es der Reisende desto mehr ihrem Bruder gleich.

»Wahrlich, sagte er, diese Leibesübung hat mir den Magen leer gemacht, ich gestehe jedoch gern zu, daß es eine große Unbesonnenheit war, den Weg über den Maristien einzuschlagen. Es ist doch recht thöricht, die Rolle des unglücklichen »Eystein« spielen zu wollen, wenn man sein Vater... sogar sein Großvater sein könnte!

– Ah, Sie kennen also jene Sage? fragte Hulda.

– Ob ich sie kenne... Meine Amme sang mich schon damit in Schlaf zu jener glückseligen Zeit, wo ich noch eine Amme hatte. Ja, ich kenne dieselbe, Sie liebes, muthiges Kind, und deshalb erscheine ich mir doppelt strafbar. – Und nun, mein Freund, Dal ist für einen Invaliden, wie ich jetzt bin, noch ein wenig weit. Wie denken Sie mich dahin befördern zu können?

– Darum beunruhigen Sie sich nicht, mein Herr, antwortete Joël. Unser Schußkarren wartet unten am Fußwege. Sie werden nur dreihundert Schritte zu ma chen haben....

– Hm, dreihundert Schritte!...


Gestützt von Hulda und Joël... (S. 70.)
Gestützt von Hulda und Joël... (S. 70.)

– Und bergabwärts, setzte das junge Mädchen hinzu.

– O, wenn es bergabwärts geht, dann wird es sich schon machen, lieber Freund; dann genügt mir schon ein einziger Arm....

– Und warum nicht deren zwei, fiel ihm Joël ins Wort, da wir ja vier zu Ihrer Verfügung haben?

– Nun, mögen's zwei oder vier sein! Das kostet doch nicht mehr, nicht wahr?[71]

– Das kostet gar nichts.

– Doch, mindestens einen Dank, und da fällt mir ein, daß ich Ihnen noch nicht einmal meinen Dank zu erkennen gegeben habe...

– Wofür, lieber Herr? fragte Joël.

– Nun, ich dächte... dafür, daß Sie mir das Leben mit eigener Lebensgefahr gerettet haben!...

– Wenn es Ihnen gefällig wäre... sagte Hulda, die sich erhob, um jede Lobpreisung abzuschneiden.[72]

– Wie? Natürlich will ich!... Was mich betrifft, ich will gern Alles, was man von mir will!«

Mit diesen Worten beglich der Reisende schon die geringen Kosten, die er den Bauern in der Hütte verursacht. Dann begann er, ein wenig von Hulda und desto mehr von Joël gehalten, den gewundenen Fußpfad, der nach den Ufern des Maan führt, wo er an der Straße nach Dal mündet, vorsichtig hinabzusteigen. Das ging freilich nicht ohne einige »Ach!« und »Oh!« ab, diese liefen aber doch gewöhnlich in ein herzliches Lachen aus.[73]

Endlich erreichten Alle die Sägemühle und Joël brachte sofort den Wagen in Ordnung.

»Und Sie? wendete er sich fragend an Joël. Ich habe Ihnen nun den Platz weggenommen...

– Einen Platz, den ich Ihnen von Herzen gern abtrete...


Joël ging neben dem Kopfe des Pferdes. (S. 74.)
Joël ging neben dem Kopfe des Pferdes. (S. 74.)

– Aber vielleicht mit schwerem Herzen?

– Nein... Nein! Ich habe meine Beine, werther Herr, ordentliche Beine, die sind für Landstraßen geschaffen...

– Und für so vorzügliche Landstraßen... nicht wahr, junger Freund?«

So fuhren sie denn die Straße hin, welche sich allmählich dem Maan nähert. Joël ging neben dem Kopfe des Pferdes, das er am Zügel führte, um den Unebenheiten des Bodens besser ausweichen zu können.

Die Heimfahrt verlief ganz heiter – wenigstens was den Fremden anging. Er plauderte schon wie ein alter Freund der Familie Hansen. Noch bevor sie nach Hause kamen, nannten Bruder und Schwester ihn schon »Herr Sylvius«, und Herr Sylvius nannte sie nur Joël und Hulda, als ob sie schon wer weiß wie lange alle Drei mit einander bekannt wären.

Gegen vier Uhr zeigte der Glockenthurm von Dal seine feine Spitze zwischen den Bäumen des Weilers, und einen Augenblick später hielt das Pferd vor dem Gasthause an. Der Reisende stieg nicht ohne einige Mühe aus dem Wagen. Frau Hansen war zum Empfange an der Thür erschienen, und obwohl Jener nicht das beste Zimmer verlangt hatte, wurde er doch, als ob sich das von selbst verstände, dahin geführt.

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 60-74.
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