VII.

[52] Es war am Nachmittag des folgenden Tages, wo Joël nach Dal zurückkehren wollte, nachdem er den Touristen, dem er als Führer gedient, nach der Straße, die durch Hardanger geht, gebracht hatte.

Hulda, welche wußte, daß ihr Bruder vom Gusta längs des linken Ufers des Maan zurückkommen würde, war ihn zu erwarten nach der Stelle gegangen,[52] wo man gewöhnlich über den ungestümen Wasserlauf setzte. Dort ließ sie sich auf der kleinen Landungsbrücke nieder, welche zum Anlegen der Fähre errichtet ist, und überließ sich ihren trüben Gedanken. Zu der lebhaften Unruhe, die ihr das Ausbleiben des »Viken« erweckte, gesellte sich jetzt noch eine andere große Angst. Diese Angst entsprang dem Besuche jenes Sandgoïst und dem Benehmen ihrer Mutter gegen denselben. Warum hatte diese, sobald sie seinen Namen erfuhr, die Rechnung zerrissen und sich geweigert, anzunehmen, was ihr mit Recht zukam? Hier lag ein Geheimniß und gewiß ein sehr ernstes zu Grunde.

Durch das Eintreffen Joëls wurde Hulda endlich aus ihrem Nachsinnen wachgerufen; sie gewahrte ihn schon, als er den Bergabhang herunterkam. Bald erschien er inmitten einer beschränkten Lichtung unter niedergeschlagenen oder stellenweise abgebrannten Bäumen; bald verschwand er wieder unter dem dichten Gezweig von Fichten, Birken und Buchen, mit denen die Bergwand bekleidet ist. Endlich erreichte er das jenseitige Ufer und sprang in die kleine Fähre. Mit wenigen kräftigen Ruderschlägen hatte er den Wirbel des rauschenden Wasserlaufs durchschnitten, sprang auf das Ufer hinauf und befand sich neben seiner Schwester.

»Ist Ole gekommen?« fragte er.

An Ole dachte auch er zuerst. Seine Frage blieb jedoch ohne Antwort.

»Kein Brief von ihm?

– Nein, keiner!«

Hulda drangen Thränen aus den Augen.

»Nein, rief da Joël, weine nicht, liebe Schwester, weine nicht!... Du thust mir zu weh!... Ich kann Dich nicht weinen sehen!... Sieh einmal, Du sagst: »Kein Brief!« Ich gebe ja zu, daß das allmählich beunruhigend wird, doch zu verzweifeln ist es noch gar kein Grund. Wenn Du willst, begebe ich mich sofort nach Bergen und ziehe dort Erkundigungen ein; ich suche die Herren Gebrüder Help auf; vielleicht haben diese Nachrichten von Neufundland. Könnte der »Viken« nicht in Folge erlittener Beschädigungen in irgend einen Hafen haben einlaufen oder vor dem schlechten Wetter entfliehen müssen? Es steht ja fest, daß der Wind seit einer ganzen Woche schon recht stürmisch weht. Schon mehr als einmal haben Schiffe von Neufundland aus bei Island oder zwischen den Färöern Schutz suchen müssen. Ole hat es ja selbst schon erlebt, als er vor zwei Jahren auf dem »Strenna« fuhr. Man hat eben nicht alle Tage Gelegenheit, einen Brief abzusenden. Ich sage Dir das, ganz wie ich's mir[53] denke, Schwesterchen. Fasse Dich! Beruhige Dich! Wenn Du mich auch zum Weinen bringst, was soll dann aus uns werden?

– Ach, der Kummer überwältigt mich doch!

– Hulda... Hulda... Verlier' den Muth nicht!... Ich versichere Dich, daß ich noch lange nicht verzweifle!

– Darf ich Dir glauben, Joël?

– Ob Du das kannst! Doch willst Du, um Deiner Beruhigung willen, daß ich nach Bergen aufbreche... morgen früh... oder noch heut' Abend...?

– Ich will nicht, daß Du mich allein läßt!... Nein!... Das will ich nicht!« antwortete Hulda, die sich an ihren Bruder klammerte, als ob sie in der Welt Niemand außer ihm habe.

Beide schlugen den Weg nach dem Gasthause ein. Es hatte jedoch wieder zu regnen angefangen und auch der Wind blies so heftig, daß sie sich wenige hundert Schritte vom Ufer des Maan in die Hütte des Fährmannes flüchten mußten.

Hier warteten sie nun wohl oder übel, bis sich das Wetter etwas besserte. Joël empfand das Bedürfniß zu sprechen, was es auch sei. Das Stillschweigen schien ihm schlimmer, als Alles was er sagen konnte, wenn das auch keine Trostworte waren.


Hier warteten sie nun, bis sich das Wetter etwas besserte. (S. 54.)
Hier warteten sie nun, bis sich das Wetter etwas besserte. (S. 54.)

»Und unsere Mutter? begann er.

– Sie wird immer niedergeschlagener, immer trauriger, antwortete Hulda.

– Ist während meiner Abwesenheit Jemand gekommen?

– Ja, ein Reisender, der aber schon wieder fort ist.

– Jetzt ist also kein Fremder im Hause und es hat auch Niemand einen Führer verlangt?

– Nein, Joël.

– Desto besser, denn es ist mir lieber, Dich nicht zu verlassen. Wenn die schlechte Witterung übrigens jetzt so fortdauert, fürchte ich sehr, daß die Lustreisenden dieses Jahr darauf verzichten, Telemarken zu besuchen.

– Es ist noch sehr zeitiges Frühjahr, Bruder.

– Gewiß, aber ich habe so eine Art Vorgefühl, daß es für uns kein gutes Jahr wird. Indeß, das wird sich ja zeigen. Doch sage mir, gestern hat jener Reisende Dal schon wieder verlassen?

– Ja, noch des Vormittags.

– Und wer war es?[54]

– Ein älterer Mann, der von Drammen kam, wo er dem Anscheine nach wohnt, und der sich Sandgoïst nennt.

– Sandgoïst?

– Solltest Du ihn kennen?

– Nein!« antwortete Joël.

Hulda hatte sich schon die Frage vorgelegt, ob sie Joël Alles, was sich während seiner Abwesenheit im Gasthaus zugetragen, erzählen solle.


Eine Sägemühle wurde sichtbar. (S. 62.)
Eine Sägemühle wurde sichtbar. (S. 62.)

Wenn Joël vernahm, mit welcher Ungenirtheit jener Mann sich benommen, wie er offenbar[57] den Werth des Gebäudes und des Mobiliars berechnet, und welches Benehmen ihre Mutter Jenem gegenüber einzuhalten für angezeigt gehalten habe – was würde er davon denken? Mußte er nicht auf die Vermuthung kommen, daß die Mutter sehr wichtige Gründe haben müsse, so zu handeln, wie sie es gethan hatte? Und doch, was konnte sie mit jenem Sandgoïst zu thun haben? Hier lag sicherlich ein der ganzen Familie unheildrohendes Geheimniß vor. Joël würde das erfahren wollen, er würde seine Mutter darum fragen, würde sie bestürmen.... Frau Hansen aber, die im Allgemeinen wenig mittheilsam und nicht leicht geneigt war, Jemand in ihr Inneres blicken zu lassen, würde doch ihr Stillschweigen ebenso bewahren, wie sie es bis letzt gethan hatte. Das schon so betrübende Verhältniß zwischen ihr und ihren Kindern drohte damit aber nur ein noch peinlicheres zu werden.

Doch hätte das junge Mädchen gegen Joël schweigen können? Eher schien es, als wenn ein Riß in dem Freundschaftsband entstände, das die beiden Geschwister von jeher vereinte. Denn diese Freundschaft durfte nimmermehr gelockert werden! Hulda entschloß sich also, zu reden.

»Du hast niemals von diesem Sandgoïst reden hören, wenn Du nach Drammen kamst? nahm sie wieder das Wort.

– Niemals.

– Nun, so wisse denn, daß unsere Mutter ihn, wenigstens dem Namen nach, schon kannte.

– Sie kannte Sandgoïst?

– Ja, Bruder.

– Doch hab' ich sie diesen Namen noch nie nennen hören.

– Aber sie kannte ihn, obwohl sie den Mann vor seinem gestrigen Besuche gewiß niemals gesehen hatte.«

Hulda erzählte ihm alle auffallenden Erscheinungen während des Verweilens jenes Reisenden im Gasthause, ohne die fast verblüffende Handlungsweise der Frau Hansen bei der Abfahrt Sandgoïst's unerwähnt zu lassen. Dann fügte sie noch hinzu:

»Ich denke, Joël, es ist besser, unsere Mutter nicht darum zu fragen Du kennst sie ja. Sie würde dadurch nur unglücklicher werden. Die Zukunft wird es ja noch enthüllen, was uns bisher verborgen blieb. Gebe der Himmel, daß Ole bald zurückkehrt, und wenn ein Unglück unsere Familie bedrohte, wären wir wenigstens Drei, dasselbe zu theilen!«[58]

Joël hatte seiner Schwester mit schweigender Aufmerksamkeit zugehört. Ja, zwischen der Mutter und jenem Sandgoïst bestand irgend ein Verhältniß, welches die erstere von letzterem völlig abhängig machte. Nach dem Vorgefallenen konnte man ja gar nicht daran zweifeln, daß Jener nur gekommen war, um sich ein Inventar-Verzeichniß des Gasthauses von Dal zu verschaffen. Und das Zerreißen der Rechnung, im Augenblicke, da Jener abfahren wollte, was demselben noch dazu fast selbstverständlich erschienen war, was konnte das bedeuten?

»Du hast Recht, Hulda, ich werde der Mutter gegenüber hiervon nichts erwähnen. Vielleicht bereut sie es einst noch, sich uns nicht anvertraut zu haben. Wenn es nur nicht schon zu spät ist! O, sie mag wohl schwer leiden, die arme Frau! Warum ist sie so verschlossen? Warum begreift sie nicht, daß das Herz der Kinder geschaffen ist, ihre Sorgen in dasselbe zu ergießen?

– Sie wird es noch einsehen. Joël.

– Ja, also warten wir es ab. Doch inzwischen wird es mir nicht verwehrt sein können, zu erfahren zu suchen, wer und was jenes Individuum ist. Vielleicht kennt ihn Herr Helmboë. Ich werde ihn darum fragen, sobald ich wieder nach Bamble komme, und wenn es sein muß, begebe ich mich sogar selbst nach Drammen. Dort kann es nicht schwer sein, auszukundschaften, was dieser Mann betreibt, welche Art Geschäfte er macht und was die Leute darüber urtheilen.

– Nichts Gutes, das glaube ich bestimmt, erwiderte Hulda. Seine Erscheinung ist abstoßend und er hat einen bösen Blick; es sollte mich sehr wundern, wenn unter dieser rauhen Außenseite eine edelmüthige Seele wohnte.

– Ei nun, entgegnete Joël, wir wollen die Leute nicht nach ihrer äußeren Erscheinung beurtheilen. Ich wette darauf, Du würdest ihn gewiß ganz anders ansehen, wenn jener Sandgoïst etwa gar wiederkäme und im Arme Deinen Ole führte....

– Ach, mein armer Ole! seufzte das junge Mädchen.

– Der wird schon wieder kommen, er kommt wieder, er ist schon unterwegs! rief Joël. Habe nur Vertrauen, Hulda! Ole ist nicht mehr fern von uns, und wir werden es ihm vergelten, daß er so lange gezögert hat!«

Der Regen hatte nachgelassen. Die Geschwister verließen die Hütte und schlugen den Fußpfad wieder ein.

»Da fällt mir noch ein, sagte Joël, daß ich morgen wieder fortgehe.

– Du willst wieder fort?[59]

– Ja, schon am frühen Morgen.

– So zeitig, Bruder?

– Es muß sein, Hulda. Als ich von Hardanger heimkehren wollte, wurde mir von einem meiner Kameraden gemeldet, daß ein Reisender von Norden her über die Höhen des Rjukansos komme, wo er morgen eintreffen müsse.

– Wer ist dieser Reisende?

– Meiner Treu, ich weiß nicht einmal seinen Namen. Es ist aber nothwendig, daß ich mich rechtzeitig einstelle, um ihn nach Dal zu führen.

– Nun, so geh', wenn Du nicht anders kannst, antwortete Hulda mit einem schweren Seufzer.

– Morgen mit Tagesanbruch mache ich mich auf den Weg. Das betrübt Dich, Hulda?

– Ja, Bruder. Ich bin so unruhig, wenn Du mich verläßt... und wär's auch nur für wenige Stunden!

– Nun, so wisse, daß ich diesmal nicht allein fortgehe.

– Und wer wird Dich begleiten?

– Du, Schwesterchen, Du selbst! Du mußt eine Zerstreuung haben, deshalb nehme ich Dich mit.

– O, ich danke Dir, lieber Joël!«

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 52-55,57-60.
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