Sechzehntes Capitel.
Abendunterhaltung und musikalische Soirée.

[70] Als ich wieder den großen Saal betrat, bemerkte ich folgendes Programm, das an der Thür befestigt war:


16. Capitel

[70] Es war, wie man sieht, die Ankündigung eines vollständigen Concertes mit erstem Theil, Zwischenact, zweitem Theil und Finale. Irgend Etwas mußte aber trotzdem daran fehlen, denn als ich es bis zu Ende gelesen hatte, hörte ich Jemanden hinter mir murmeln:

»Ein schönes Programm! nichts von Mendelssohn!«

Ich wandte mich um und erblickte zu meiner Ueberraschung einen schlichten deutschen Kellner, der in solcher Weise gegen die Fortlassung seiner Lieblingsmusik protestirte.

Ich begab mich wieder auf's Verdeck, um Mac Elwin aufzusuchen, denn Corsican hatte mir soeben mitgetheilt, daß Fabian seine Cajüte verlassen habe, und ich wollte ihn gern aus seiner Isolirung herausreißen. Bald begegneten wir ihm auf dem Vorderdeck des Steamers und plauderten eine Zeit lang, ohne daß er jedoch eine Anspielung auf die Erlebnisse seiner Vergangenheit gemacht hätte. Zuweilen war er stumm und nachdenklich, wie in tiefes Sinnen versunken; er schien dann nicht auf meine Worte zu hören und drückte seine Hand fest auf die Brust, wie um dort einen Schmerz zusammenzupressen. Während wir spazieren gingen, kam Harry Drake mehrmals, wie gewöhnlich lärmend und gesticulirend, an uns vorüber. Ob ich mich darin täuschte, weiß ich nicht, denn mein Geist war von vornherein eingenommen, aber es schien mir, als ob Drake meinen Freund mit einer gewissen, unverschämten Beharrlichkeit beobachtete. Auch Fabian mußte diese Bemerkung gemacht haben, denn er fragte mich:

»Was ist das für ein Mensch?

– Ich kenne ihn nicht, antwortete ich.

– Er mißfällt mir im höchsten Grade!« bemerkte Mac Elwin.

Setzt zwei Schiffe auf's offene Meer, ohne Wind, und ohne Strömung – sie werden schließlich aneinander stoßen. Werft zwei unbewegliche Planeten in den Weltenraum – sie werden aufeinander prallen, und bringt zwei Feinde in eine ungeheure Menschenmenge; sie werden sich unvermeidlich begegnen; es ist nur eine Frage der Zeit. Das Verhängniß will es so.


Ein hübscher Junge und Tenor. (S. 74.)
Ein hübscher Junge und Tenor. (S. 74.)

Als der Abend herangekommen war, fand das Concert nach dem mitgetheilten Programm statt. Der große Saal war glänzend erleuchtet und mit Zuhörern gefüllt; durch die halbgeöffneten Luken zeigten sich die sonnenverbrannten Gesichter und dicken, schwarzen Hände der Matrosen. Man hätte sie[71] für in die Decke eingelassene Masken halten können. Vor den halbgeöffneten Thüren standen dicht gedrängt die Stewards.

Die eigentlichen Zuschauer, Herren wie Damen, saßen auf den Divans an den Seiten, und in der Mitte des Saales auf Fauteuils, Klappsesseln und Stühlen, alle dem Clavier zugewandt, das zwischen den beiden Thüren stand, die zu dem Damensalon führten. Zuweilen entstand unter dem Auditorium durch das Rollen des Schiffes eine Bewegung; Stühle und Klappsessel glitten[72] aus, eine große Schlagwelle brachte alle Köpfe in dieselbe schwankende Bewegung; man hielt sich dann schweigend, ohne zu scherzen, einander fest, in Summa aber war, Dank der Bauart des Schiffes, kein Fall zu fürchten.

Das Concert begann mit der »Ocean Time«; dies war eine täglich erscheinende, politische, commercielle und literarische Zeitung, die von einigen Passagieren für die Bedürfnisse an Bord gegründet war. Bei Amerikanern und Engländern ist diese Art Zeitvertreib sehr beliebt. Das Blatt wird während[73] des Tages redigirt, und wenn die Redacteure in Bezug auf ihre Artikel nicht besonders difficil sind, so kann man dies von den Lesern noch weniger behaupten. Das Publicum ist mit Wenigem zufrieden, ja sogar mit zu Wenigem.


Der Obersteuermann auf dem Stege. (S. 76.)
Der Obersteuermann auf dem Stege. (S. 76.)

Die Nummer vom 1. April enthielt einen ziemlich schwerfälligen Leitartikel, allgemeine Politik betreffend, und verschiedene Thatsachen, die einem Franzosen wohl kaum ein Lächeln abgenöthigt hätten, wenig scherzhafte Börsencourse, sehr naive Telegramme, und einige ziemlich matte, geflügelte Worte. So viel stand fest, daß all diese Scherze nur die, von denen sie ausgingen, entzückten.

Der sehr ehrenwerthe Herr Mac Alpine, ein amerikanischer Dogmatiker, las sehr selbstgefällig seine wenig geistreichen Ausarbeitungen und endete seine Lectüre mit folgenden Nachrichten:

»Soeben wird gemeldet, daß Präsident Johnson zu Gunsten des General Grant abgedankt hat.

– Man giebt als gewiß aus, daß Papst Pius IX. den kaiserlichen Prinzen zu seinem Nachfolger bestimmt hat.

– Ferdinand Cortez soll Napoleon III. wegen seiner Eroberung Mexico's der betrüglichen Nachahmung angeklagt haben.«

Als der »Ocean Time« genügender Beifall gezollt war, seufzte der sehr ehrenwerthe Mr. Ewing, ein hübsches junges Bürschchen, das sich als Tenorist aufspielte, mit der vollen Rauheit englischer Kehlen »die schöne Meeresinsel« herunter.

Das »Reading«, die Vorlesung hatte ihre unbestreitbaren Reize ein würdiger Texaner las ganz einfach zwei oder drei Seiten aus einem Buche vor; er begann mit leiser Stimme und endete dann sehr laut und pathetisch. Natürlich wurde ihm donnernder Applaus zu Theil.

Der Chant du berger für piano solo, ausgeführt von Mrs. Alloway, einer Engländerin, die, um mich eines Ausdrucks von Théophile Gautier zu bedienen, »en blond mineur« spielte, und eine schottische kleine Farce von Dr. T ...., endeten den ersten Theil des Programms.

Nach einem Zwischenact von etwa zehn Minuten, während dessen die Zuhörer geduldig auf ihren Plätzen verblieben, begann der zweite Theil des Concerts.[74]

Der Franzose Paul V ... spielte zwei ganz reizende, bisher noch nicht veröffentlichte Walzer, die rauschenden Beifall fanden; der Schiffsarzt, ein braunlockiger, sehr selbstgefälliger junger Mann, las eine burleske Scene vor, eine Art Parodie auf die »Dame von Lyon«, ein seiner Zeit in England sehr beliebtes Drama.

Dem »Burlesken« folgte das »Entertainment«. Was gedachte uns Sir James Anderson unter diesem Namen aufzutischen? eine Disputation, oder vielleicht eine Predigt? Nichts von dem Allen! Sir James Anderson erhob sich mit liebenswürdigem Lächeln, zog ein Spiel Karten hervor, streifte seine weißen Manschetten zurück, und machte mit solcher Anmuth und Grazie Kartenkunststücke, daß dies für ihre Naivetät reichlich Ersatz bot. Als unvermeidliche Folge auch dies Mal Hurrahs und lebhafte Beifallsrufe.

Nach dem »Happy moment« von Mr. Norville und einem Liede: »You remember«, gesungen von Mr. Ewing, kündigte das Programm »God save the Queen« an. Einige Amerikaner baten jedoch Paul V ..., ihnen das französische Nationallied vorzusingen, worauf denn mein gefälliger Landsmann das unvermeidliche »Partant pour la Syrie« anhob, aber von einer Gruppe Zuhörer aus den Nordstaaten energischen Einspruch erfuhr, da diese die Marseillaise wünschten.

Ohne sich weiter bitten zu lassen, und mit einer Nachgiebigkeit, die mehr auf musikalische Fertigkeit als individuelle politische Ueberzeugung schließen ließ, griff der folgsame Pianist kräftig in die Tasten und trug die Hymne Rouget de l'Isle's1 vor.

Zum Schluß endlich stimmte die Versammlung stehend den englischen Nationalgesang »God save the Queen« an.

Alles in Allem konnte man von dieser Soirée sagen, was man so ziemlich von allen Dilettanten-Soireén sagen kann, daß sie für ihre Arrangeure und deren Freunde ganz den gewünschten Erfolg hatte.

Fabian war während des Abends im Saale nicht sichtbar gewesen.

Fußnoten

1 Joseph Rouget de l'Isle, Dichter und Componist der Marseillaise, † 1836.


Quelle:
Jules Verne: Eine schwimmende Stadt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 76.
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