Sechzehntes Kapitel.
Robur der Sieger.

[163] Eine mittelgroße Gestalt, geometrisch viereckig... etwa ein regelrechtes Trapez, dessen größere Seite durch die Schulterlinie gebildet wird. Auf diese Linie aufgesetzt ein kräftiger Hals mit einem ungeheuern, kugelförmigen Kopfe darüber. Augen, die bei der geringsten Erregung zum Glühen kamen, und darüber, das Kennzeichen unbeugsamer Willens- und Tatkraft, ein stets angespannter Augenbrauenmuskel, kurze, schwach gekräuselte Haare mit metallischem Scheine, etwa gleich einer Kopfbedeckung aus stählernem Stroh, eine breite Brust, die sich gleich einem Schmiedeblasebalge ausdehnte und zusammenzog, Arme, Hände und Beine... alle des Rumpfes würdig, kein Schnurr- und kein Backenbart, nur ein dichter Kinnbart, wie er in Amerika beliebt ist und der das Gelenk der Kinnladen sehen ließ, deren Masseter (Kaumuskeln) gewiß sehr stark entwickelt waren...

Das war das Bild des außerordentlichen Mannes, das am 13. Juni 18.. in allen Zeitungen der Union erschien, das jedermann mit Interesse am Morgen nach dem Tage betrachtete, wo dieser Mann, das größte Aufsehen erweckend, in einer Sitzung des Weldon-Instituts in Philadelphia erschien.

Jener Robur der Sieger war der, der sich eben vor mir emporgereckt hatte und mir seinen berühmten Namen wie eine Drohung ins Gesicht schleuderte... hier. hier mitten in der Felsenumwallung des Great-Eyry!

Es erscheint mir an dieser Stelle geboten, mit kurzen Worten der Tatsachen zu gedenken, die dem genannten Robur einst die Aufmerksamkeit des ganzen[163] Landes zulenkten.1 Von jenen Tatsachen und Vorfällen leitet sich dieses wunderbare Abenteuer her, dessen endlichen Ausgang kein Menschenwitz ahnen konnte.

Am Abend des 12. Juni wurde in Philadelphia eine Versammlung der Mitglieder des Weldon-Instituts abgehalten. Den Vorsitz dabei führte Uncle Prudent, eine der hervorragendsten Persönlichkeiten in der Hauptstadt des Staates Pennsylvanien. Als Schriftführer fungierte Phil Evans, ebenfalls ein in der Stadt hochangesehener Mann. Man behandelte eben die wichtige Frage der lenkbaren Luftschiffe. Auf Veranlassung des Verwaltungsrates war ein Ballon von vierzigtausend Kubikmeter Fassungsvermögen, der Go a head, hergestellt worden. Seine horizontale Bewegung sollte durch eine leichte, doch sehr kräftige Dynamomaschine erfolgen, die einen Propeller antrieb und von der man sich der besten Resultate versah. Doch wo sollte diese Schraube angebracht werden, hinter der nachenförmigen Gondel nach der Ansicht der einen, oder vor dieser nach der Ansicht der anderen?

Diese Frage war noch nicht entschieden, und am genannten Tage gerieten darüber die, sagen wir: »Vordersteurer« und die »Hintersteurer« heiß aneinander. Der Wortwechsel wurde schließlich so lebhaft, daß einige Mitglieder des Weldon-Instituts nahe daran waren, handgemein zu werden, als, mitten im größten Wirrwarr, ein Fremder darum ersuchte, ihm den Eintritt in den Sitzungssaal zu gestatten.

Er stellte sich hier unter dem Namen Robur vor, bat ums Wort und erhielt dieses unter allgemeinem Stillschweigen. In seiner Rede nahm er freimütig Stellung zu den in der Debatte über lenkbare Luftschiffe geäußerten Ansichten und erklärte, daß der Mensch, der sich mit dem durch Segel, Schaufelrad oder Schraube bewegten Schiffe zum Herrn der Meere aufgeschwungen hätte, zum Beherrscher des Luftmeeres nur werden könnte, wenn er Apparate benützte, die schwerer als die Luft wären, da man schwerer als diese sein müsse, um sich darin nach Belieben zu bewegen.

Das berührte den schon so alten Streit über Ballonflug und Vogelflug. In der Versammlung, wo die Parteigänger des Grundsatzes »leichter als die Luft« in der Mehrheit waren, entbrannte dieser Streit jetzt wie der mit solcher Heftigkeit, daß Robur, den man spottender Weise gleich den »Sieger« nannte, den Saal verlassen mußte.[164]

Einige Stunden nach dem Weggange des seltsamen Fremdlings wurden der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts aber durch einen frechen Handstreich entführt. Als sie, begleitet von dem Diener Frycollin, durch den Fairmont-Park gingen, stürzten sich mehrere Männer über sie und knebelten und fesselten die drei. Trotz ihres Widerstandes schleppten sie dieselben durch die menschenleeren Alleen des Parkes fort und brachten sie in einen Apparat, der in der Mitte einer freien Stelle des Gehölzes lag. Als es Tag wurde, schwebten sie, als Gefangene des Lustseglers Robur, hoch in der Luft über einem Lande, das sie sich vergeblich zu erkennen bemühten.

Uncle Prudent und Phil Evans mußten sich bald überzeugen, daß der Redner des gestrigen Abends sie nicht getäuscht oder gar belogen habe, daß er ein nach dem Grundsatze »schwerer als die Luft« konstruiertes Fahrzeug besaß, das ihnen, mit glücklichem oder unglücklichem Ausgange, jedenfalls eine interessante Luftreise versprach.

Der vom Ingenieur Robur erfundene und erbaute Apparat beruht auf der zweifachen Wirkung der Archimedischen Schraube, die sich bei der Umdrehung in der Richtung ihrer Achse fortbewegt. Steht die Achse lotrecht, so steigt sie hinauf oder hinunter, liegt sie wagrecht, so erfolgt auch ihre Fortbewegung wagrecht... ganz wie die sogenannte Helicoptera, die sich erhebt, weil ihre Flügelflächen die Luft in schräger Stellung durchschneiden, so als bewegte sie sich auf einer geneigten Ebene.

Der Aviator (etwa: Vogelflugapparat), der »Albatros« genannt, bestand aus einem dreißig Meter langen Rahmen oder Gestell mit zwei Motoren, je einen nahe dem vorderen und dem hinteren Ende, und aus einer Garnitur von siebenunddreißig frei schwebenden Propellern mit lotrechter Achse: fünfzehn auf jeder Seite, und sieben, die in der Mitte des Apparates etwas höher angebracht waren. Das bildete insgesamt siebenunddreißig Masten, die statt der Segel mit Schraubenflügeln ausgerüstet waren, und diesen verliehen endlich die in Hütten auf der Plattform aufgestellten Maschinen eine überraschend schnelle Umdrehung.

Was die Kraft betrifft, die hier benutzt wurde, den Luftsegler schwebend zu erhalten und fortzutreiben, so wurde diese nicht durch den Dampf des Wassers oder einer anderen Flüssigkeit erzeugt, ebensowenig durch Preßluft oder ein anderes elastisches Gas. Robur hatte auch nicht auf die Explosions- und Sprengstoffe zurückgegriffen, die zu so vielen Zwecken gern benutzt werden, sondern nur auf die ebenso vielseitig verwendungsfähige Elektrizität. Doch wie und von woher[165] bezog der Erfinder diese Elektrizität, womit er seine Akkumulatoren lud?... Höchst wahrscheinlich – sein Geheimnis ist jedoch niemals enthüllt worden – aus der ihn umgebenden Luft, die ja stets mehr oder weniger mit diesem Fluidum geladen ist... also ganz so, wie sie der berühmte Kapitän Nemo aus dem Wasser gewann, als er mit seinem »Nautilus« die Tiefen der Ozeane durchkreuzte.

Dieses Geheimnis sollte – das verdient hervorgehoben zu werden – auch weder Uncle Prudent noch Phil Evans durchschauen, als sie an der Luftreise teilnahmen, die der »Albatros« weit über die Erde hin ausführte.

Das Personal, über das der Ingenieur Robur verfügte, bestand aus einem Werkmeister Namens John Turner, drei Mechanikern, zwei Hilfsmaschinisten und einem Koch, zusammen mit ihm selbst acht Mann, die für den Dienst an Bord bequem ausreichten.

»Und, wie Robur gegen seine Begleiter wider Willen äußerte, mit meinem Luftschiffe bin ich der Herr dieses siebenten Weltteiles (d. h. des Luftmeeres), der größer ist als Australien, Ozeanien, Asien, Amerika und Europa, dieses Ikariens der Luft, des unermeßlichen Reichs der Atmosphäre, das in naher Zukunft durch Tausende von Ikariern belebt sein wird!«

Nun begann die abenteuerliche Fahrt an Bord des »Albatros«, die zunächst über die weiten Gebiete Nordamerikas hinführte. Vergeblich erhoben Uncle Prudent und Phil Evans dagegen gewiß gerechtfertigten Einspruch... sie wurden von Robur nach dem Rechte des Stärkeren zurückgewiesen.

Der »Albatros« überflog, sich nach Westen wendend, die mächtige Kette der Felsengebirge und die kalifornischen Ebenen; bald ließ er dann San Francisco hinter sich und steuerte quer über den nördlichen Teil des Stillen Ozeans nach der Halbinsel Kamtschatka. Weiterhin erschienen vor den Augen der Insassen des Luftschiffes die Gebiete des Himmlischen Reiches, und Peking, die Hauptstadt Chinas, wurde mit seinem vierfachen Mauerkranze sichtbar. Durch seine Schrauben emporgetrieben, stieg das Luftschiff auf ungeheure Höhe und kreuzte die Gipfel des Himalaya mit seinen schneebedeckten Bergmassen und glitzernden Gletschern. Von dem Kurse nach Westen wich es nun nicht mehr ab. Nachdem es durch die Luft über Persien und den Kaspisee dahingeglitten war, überschritt es die europäische Grenze, flog über die russischen Steppen, folgte dem Tale der Wolga und bekam Moskau, später auch Petersburg in Sicht. Weiterhin wurde es von den Bewohnern Finnlands und von den Fischern auf der Ostsee beobachtet. Schweden berührte es unter dem Breitengrade von Stockholm, Norwegen unter[166] dem von Christiania, dann wandte es sich nach Süden, schwebte in der Höhe von tausend Metern über Frankreich hin, senkte sich darauf über Paris tiefer hinab, so daß es sich kaum hundert Fuß über den Turmspitzen der großen Hauptstadt hielt, während seine Scheinwerfer blendende Lichtstrahlen auf das Häusermeer hinuntersandten. Endlich führte der »Weg« über Italien mit Florenz; Rom und Neapel und das Mittelländische Meer wurden in schräger Linie überschritten. Das Luftschiff hatte damit die Küsten des so ausgedehnten Erdteils Afrika erreicht, denen es vom Kap Spartel bis nach Ägypten folgte, indem es über Algerien, Tunis und Tripolis dahinzog. Von hier aus kehrte es nach Timbuktu, der Königin des Sudans, um und steuerte endlich nach dem Atlantischen Ozean hinaus.

Jetzt hielt es beständig einen südwestlichen Kurs ein, nichts konnte den über der ungeheuern Wasserfläche schwebenden Apparat aufhalten... nichts, nicht einmal die Gewitterstürme, die hier mit unheimlicher Gewalt auftraten, und auch nicht eine der furchtbaren Wasserhosen, die ihn mit ihren schäumenden Wirbeln umhüllten und aus denen er sich, dank der Kaltblütigkeit und dem Geschick seines Führers, bald durch einen wohlgezielten Kanonenschuß befreite. Als wieder Land sichtbar wurde, war das am Eingange der Magellansstraße. Der »Albatros« passierte diese von Norden nach Süden, verließ das Land am Ende des Kap Horn und steuerte von da aus nach dem Süden des Großen Ozeans hinaus.

Hier schwebte er über die verlassenen Gebiete des antarktischen Meeres, nachdem er gegen einen Wirbelsturm hatte ankämpfen müssen, dessen verhältnismäßig ruhiges Zentrum es zu erreichen gelang. Robur wandte sich hierauf den dortigen, fast unbekannten Küsten des Grahamlandes, zuweilen unter dem prächtigen Glanze eines Südpolarlichtes, zu und hielt sich auch einige Stunden genau über dem Südpole auf. Da packte ihn ein Orkan, der ihn nach dem vulkanische Flammen speienden Erebus trieb, und es war wirklich ein Wunder, daß er hier der Vernichtung entging.

Gegen Ende des Monats Juli hielt er endlich, nach wiederholter Fahrt über den Großen Ozean, in geringer Höhe über einer Insel des Indischen Meeres an. Der ausgeworfene Anker faßte an den Felsen des Ufers, und der »Albatros« lag, zum ersten Male seit seiner Abfahrt, hundertfünfzig Fuß über der Erde regungslos, nur durch seine Auftriebspropeller schwebend erhalten.

Das Land unter ihnen war, wie Uncle Prudent und sein Kollege bald erfuhren, die fünfzehn Grad östlich von Neuseeland gelegene Insel Chatam. Wenn das Luftschiff hier »anlief«, geschah das, weil seine durch den letzten[167] Orkan beschädigten Treibschrauben einer Ausbesserung bedurften, ohne die der Apparat die Insel X. nicht hätte erreichen können, die noch zweitausendachthundert Meilen weit entfernt lag... eine unbekannte Insel des Großen Ozeans, aus der der »Albatros« erbaut worden war.


Der »Albatros«.
Der »Albatros«.

Uncle Prudent und Phil Evans sagten sich, daß das Luftschiff nach Beendigung der Reparaturen seine endlosen Reisen wieder aufnehmen werde. Jetzt wo es mit der Erde fest verbunden war, schien den Beiden die Gelegenheit zu einem Fluchtversuche günstig zu sein.


Der »Albatros« überflog die mächtige Kette der Felsengebirge. (S. 166.)
Der »Albatros« überflog die mächtige Kette der Felsengebirge. (S. 166.)

Das Ankerkabel, das den »Albatros« hielt, war höchstens hundertfünfzig Fuß lang. Ließen sie sich[168] daran hinuntergleiten, so mußten die beiden Passagiere und ihr Diener Frycollin den Erdboden ohne große Mühe erreichen, und wenn die Flucht in der Nacht erfolgte, liefen sie kaum Gefahr, ertappt zu werden. Mit dem Morgenrote mußte man ihr Verschwinden freilich entdecken, und da die Flüchtlinge die Insel Chatam nicht verlassen konnten, wurden sie wahrscheinlich wieder eingefangen. Da rafften sie sich zu dem kühnen Entschlusse auf, den Apparat zu zersprengen, und zwar mittels einer Dynamitpatrone, die sie[169] sich aus der Munition an Bord zu verschaffen wußten; sie wollten dem mächtigen Segler der Lüfte die Schwingen zerbrechen, wollten ihn samt seinem Erfinder und dessen Mannschaft vernichten. Ehe diese Patrone zur Explosion käme, würden sie Zeit genug haben, sich am Kabel hinunter gleiten zu lassen, und dann konnten sie noch dem Sturze des »Albatros« beiwohnen, von dem sicherlich keine zusammenhängenden Stücke übrig blieben.

Was sie beschlossen hatten, führten sie auch aus. Die Zündschnur der Patrone wurde, als es dunkel genug war, in Brand gesetzt, und alle drei glitten, ohne dabei gesehen worden zu sein, zur Erde hinunter. Da, im letzten Augenblicke, wurde ihr Entweichen noch bemerkt. Mehrere Flintenschüsse knatterten von der Plattform herab, doch ohne daß einer von ihnen getroffen wurde. Schnell stürzte sich Uncle Prudent auf das Ankertau und durchschnitt es mit fester Hand. Der »Albatros«, dem ja seine Treibschrauben fehlten, wurde vom Winde fortgetragen, und bald darauf durch die Explosion zerschmettert, versank er in den Wogen des Großen Ozeans.

Der Leser erinnert sich wohl, daß es in der Nacht vom 12. zum 13. Juni gewesen war, wo Uncle Prudent, Phil Evans und Frycollin auf dem Heimwege vom Weldon-Institut spurlos verschwanden. Seit dieser Zeit fehlte jede Nachricht von ihnen und es konnte sich auch niemand über den seltsamen Vorfall Rechenschaft geben. Bestand denn eine Beziehung zwischen diesem unerklärlichen Verschwinden und dem Zwischenfalle mit jenem Robur bei der denkwürdigen Sitzung?... Dieser Gedanke kam niemand und konnte füglich auch niemand kommen.

Die Kollegen der beiden Vorstandsmitglieder beunruhigten sich aber doch sehr darüber, sie nicht wiederzusehen. Man veranlaßte Nachforschungen, die Polizei nahm sich der Sache an, Telegramme flogen nach allen Himmelsgegenden, durch die Neue, wie durch die Alte Welt. Vergeblich... alles vergeblich. Selbst eine Belohnung von fünftausend Dollars für jedermann, der eine Nachricht über die Verschwundenen bringen könnte, blieb unberührt in der Kasse des Weldon-Institutes liegen.

So war die Sachlage. Die allgemeine Aufregung wuchs, vor allem in den Vereinigten Staaten, immer mehr... ich entsinne mich dessen ganz genau.

Am 20. September verbreitete sich eine Nachricht, die zuerst nach Philadelphia gekommen war. mit Blitzesschnelle überall hin:

Uncle Prudent und Phil Evans waren am Nachmittage in die Präsidentenwohnung des Weldon-Institutes zurückgekehrt.[170]

In einer noch am nämlichen Abend zusammengerufenen Versammlung empfingen die Mitglieder ihre beiden Kollegen mit heller Begeisterung. Auf alle an die Beiden gerichteten Fragen antworteten diese mit größter Zurückhaltung, oder richtiger: sie antworteten eigentlich darauf gar nicht. Erst später erfuhr man folgendes:

Nach ihrer Entweichung und nach dem Verschwinden des »Albatros« beschäftigten sich Uncle Prudent und Phil Evans zunächst mit der Frage bezüglich ihres Lebensunterhalts und warteten auf eine Gelegenheit, die Insel Chatam zu verlassen, sobald sich eine solche bieten würde. An der Westküste trafen sie auf einen Stamm von Eingebornen, die ihnen wenigstens nicht unfreundlich entgegenkamen. Diese Insel wird aber wenig besucht, Seeschiffe legen nur selten daran an. Hier hieß es also: sich mit Geduld wappnen, und es vergingen volle fünf Wochen, ehe die »Schiffbrüchigen der Luft« sich nach Amerika einschiffen konnten.

Doch als sie zurückgekehrt waren, weiß jemand, welche die erste Beschäftigung Uncle Prudents und Phil Evans' war?... Ganz einfach: sie nahmen ihre unterbrochene Arbeit wieder auf, den Bau des Ballons Go a head zu vollenden, um noch einmal emporzusteigen nach den hohen Schichten der Atmosphäre, die sie kurz zuvor – und unter welchen Verhältnissen! an Bord eines Luftschiffes – durchstreift hatten. Hätten sie das nicht getan, so wären sie ja keine waschechten Amerikaner gewesen!

Am 20. April des nächsten Jahres war der Aërostat fertig, unter Führung Harry W. Tinders', eines berühmten Luftschiffers, aufzusteigen, und diesen sollten der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts begleiten.

Ich muß hier einfügen, daß seit deren Rückkehr kein Mensch von Robur reden gehört hatte, so als ob dieser gar nicht existiert hätte. Lag denn auch nicht hinreichender Grund vor, zu glauben, daß seine abenteuerliche Laufbahn mit der Explosion des darauf vom Großen Ozeane verschlungenen »Albatros« beendet gewesen wäre?

Der zum Aufstieg bestimmte Tag kam heran. Ich befand mich mit vielen tausend Zuschauern im Fairmont-Parke. Der Go a head war bestimmt, sich infolge seiner ungeheuern Größe bis zu den größten Höhen zu erheben. Namentlich war der Streit zwischen den »Vordersteurern« und den »Hintersteurern« jetzt auf eine einfache Weise geschlichtet worden; man hatte vor und hinter der nachenförmigen Gondel je einen Propeller angeordnet, die beide durch Elektrizität mit einer Kraft angetrieben werden sollten, welche alles übertraf, was in dieser Beziehung bisher geleistet worden war.[171]

An dem genannten Tage herrschte eine günstige Witterung, der Himmel war wolkenlos und man spürte keinen Windhauch.

Zwanzig Minuten nach elf Uhr verkündete ein Kanonenschuß der harrenden Menge, daß der Go a head zum Aufsteigen bereit war.

»Alles los!«

Der entscheidende Ruf tönte laut aus dem Munde Uncle Prudents über den Platz hinaus. Majestätisch und langsam stieg der Ballon in die Luft empor. Dann begann man die Versuche, ihn horizontal fortzutreiben, was scheinbar vom besten Erfolge gekrönt wurde.

Plötzlich erscholl ein entsetzlicher Schrei... ein Aufschrei, der von hunderttausend Lippen wiederholt wurde.

Im Nordwesten tauchte plötzlich ein sich bewegender Körper auf, der mit größter Geschwindigkeit näher kam.

Es war derselbe Apparat, der die beiden Kollegen vom Weldon-Institut nach deren gewaltsamen Aufhebung über Europa, Asien, Afrika und die beiden Amerika hingeführt hatte.

»Der ›Albatros‹!... Der ›Albatros‹!«

Ja, dieser war es, und es unterlag keinem Zweifel, daß er auch seinen Erfinder Robur – Robur den Sieger – an Bord hatte.

Wie groß mußte erst die Überraschung Uncle Prudents und Phil Evans' sein, den »Albatros« wieder zu sehen, den sie doch für zerstört hielten. Das war auch tatsächlich der Fall gewesen und seine Trümmer waren samt dem Erfinder und seinem Personale in den Großen Ozean gestürzt. Fast gleichzeitig aber von einem Schiff aufgenommen, hatte sie dieses nach Australien gebracht, von wo aus es ihnen gelang, die Insel X. zu erreichen.

Robur trug sich nur mit einem Gedanken: mit dem der Rache. Um dieser genug zu tun, erbaute er ein zweites, noch mehrfach verbessertes Luftschiff. Als er dann erfuhr, daß der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts, seine ehemaligen Passagiere, beschäftigt wären, die Fliegversuche mit dem Go a head wieder aufzunehmen, war er nach den Vereinigten Staaten gefahren oder geflogen und befand sich zur genannten Stunde an Ort und Stelle.

Wollte sich der riesige Raubvogel nun vielleicht auf den Go a head stürzen? Beabsichtigte Robur, während er seine Rache nahm, etwa auch die Überlegenheit der mechanischen Flugmaschine gegen die sogenannten lenkbaren Ballons und andere Apparate, die leichter als die Luft waren, öffentlich darzulegen?


Der Albatros« senkte sich tiefer über Paris hinab. (S. 167.)
Der Albatros« senkte sich tiefer über Paris hinab. (S. 167.)

Uncle Prudent und Phil Evans verhehlten sich in ihrer Nachengondel keinen Augenblick die Gefahr, in der sie schwebten, und das Schicksal, das ihrer wartete. Sie mußten fliehen, doch nicht in wagrechter Richtung, da der Go a head dann sehr bald eingeholt worden wäre, sondern indem sie nach größerer Höhe hinaufstiegen, wo sie vielleicht Aussicht hatten, ihrem schrecklichen Feinde zu entgehen.

Der Go a head stieg deshalb bis auf fünftausend Meter empor. Der »Albatros« folgte ihm in dieser Bewegung und manövrierte, wie die Zeitungen sagten – ich habe die Berichte noch treu im Gedächtnis – erst wie spottend an dessen Seite und umkreiste ihn dann, wobei er immer näher an ihn herankam. Da fragten sich alle, ob er den Ballon wohl mit einem Ansprunge vernichten wolle, indem er dessen schwache Hülle sprengte.

Der Go a head warf einen Teil seines Ballastes aus und stieg noch um weitere tausend Meter. Der »Albatros«, der seine Steigschrauben jetzt so schnell wie nur möglich arbeiten ließ, folgte ihm auch dahin nach.

Plötzlich erfolgte eine Explosion. Die Ballonhülle war unter dem Drucke des in dieser Höhe allzu stark ausgedehnten Gases gesprengt worden, und nur noch halbgefüllt senkte sich der Go a head rasch nach der Erde.

Da stürzt der »Albatros« auf ihn zu, nicht um seine Zerstörung zu vollenden, sondern um Rettung zu bringen. Ja: seines Rachedurstes uneingedenk, fliegt Robur an den Go a head und seine Insassen heran und läßt Uncle Prudent, Phil Evans und den Luftschiffer packen und nach der Plattform seines Luftschiffs bringen. Der fast vollständig entleerte Ballon fiel – ein formloser Fetzen – auf die Bäume des Fairmont-Parks nieder.

Die Volksmenge keuchte vor Aufregung, vor Entsetzen.

Was mochte nun der Ingenieur Robur, da der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts wieder seine Gefangenen waren, wohl über sie beschließen? Wollte Robur sie etwa mit sich, und diesmal für immer, in das Luftmeer entführen? Hierüber sollte man bald Aufschluß erhalten. Nachdem der »Albatros« in der Höhe von fünf- bis sechshundert Metern einige Minuten stillgehalten hatte, begann er zu sinken, als wollte er auf der Blöße im Fairmont-Park landen. Würde aber die erhitzte Volksmenge, wenn er in den Bereich ihrer Hände kam, sich wohl genügend zähmen können, nicht auf das Luftschiff loszustürmen, und würde es die Gelegenheit vorübergehen lassen, sich Roburs des Siegers zu bemächtigen?[174]

Der »Albatros« näherte sich dem Erdboden immer weiter, und als er nur noch fünf bis sechs Fuß darüber schwebte, hielt er, während seine Steigschrauben langsamer weiterarbeiteten, endlich angesichts der Volksmenge an.

Da entstand eine allgemeine Bewegung... alle drängten sich mit Gewalt nach der freien Stelle des Parkes.

Doch jetzt ließ sich die Stimme Roburs vernehmen, der – wörtlich wiederholt – folgendes sagte:

»Bürger der Vereinigten Staaten!... Der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts sind aufs neue in meiner Gewalt. Hielte ich sie fest, so übte ich ja nur das Recht der Vergeltung. Aus der erstaunlichen Aufregung über die mit dem ›Albatros‹ erzielten Erfolge erkenne ich jedoch, daß die Allgemeinheit noch nicht reif ist, die tiefgreifende Umwälzung zu fassen, die die Eroberung des Luftmeeres eines Tages noch herbeiführen wird. Uncle Prudent, Phil Evans, Sie sind frei!«

Der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts sowie der Aëronaut Tynders waren im nächsten Augenblick auf die Erde hinunter gesprungen, das Luftschiff aber stieg sofort etwa bis dreißig Fuß über den Boden auf, wo es gegen jeden Überfall geschützt war.

Dann fuhr Robur mit folgenden Worten in seiner Ansprache fort:

»Bürger der Vereinigten Staaten!... Meine Versuche und Erfahrungen sind abgeschlossen, zu ihrer Verwertung aber ist es noch nicht die richtige Zeit. Noch lassen die einander widersprechenden und geteilten Interessen sich nicht vereinigen: Ich scheide also wieder und nehme mein Geheimnis mit mir. Für die Menschheit wird es deshalb aber nicht verloren sein, sondern an dem Tage enthüllt werden, wo sie geistig auf genügend hoher Stufe steht, es nicht zu mißbrauchen. Heil euch, Bürger der Vereinigten Staaten!«

Von seinen Steigschrauben gehoben und von den übrigen Propellern fortgetrieben, verschwand der »Albatros« in östlicher Richtung, und das Hurra der großen Volksmenge donnerte ihm noch lange nach. Ich habe mich bestrebt, diesen letzten Auftritt eingehend zu schildern, um den Geisteszustand jener seltsamen Persönlichkeit klar erkennen zu lassen. Von feindlichen Empfindungen der Menschheit gegenüber schien der Mann vorläufig ja nicht erfüllt zu sein. Er begnügte sich, seine Hoffnung auf die Zukunft zu setzen. Jedenfalls fühlte man aus seiner Haltung das unerschütterliche Vertrauen auf sein Genie, den ungeheuern Stolz, den seine übermenschliche Macht ihm einflößte.[175]

Da kann es denn auch kaum wundernehmen, diese Gefühle sich allmählich dahin steigern zu sehen, daß er sich berufen glaubte, die ganze Welt zu beherrschen, wie das aus seinem letzten Briefe und den deutlichen Drohungen darin hervorging. Konnte man da nicht befürchten, daß seine geistige Überreizung mit der Zeit in erschreckendem Maße zunahm, so daß sie ihn vielleicht zu den schlimmsten Ausschreitungen verführte?

Was seit der Abfahrt des »Albatros« vorgegangen war, kann ich mit dem, was nur ich wußte, leicht im Zusammenhange darstellen. Es hatte dem wunderbaren Erfinder nicht genügt, nur ein Luftschiff, so vollkommen des auch war, herzustellen. Vielmehr war ihm der Gedanke gekommen, einen Apparat herzustellen, mit dem er sich gleichzeitig auf der Erde, auf und unter dem Wasser und auch durch die Luft fortbewegen könnte. Mit ausgewählten Hilfskräften, die sein Geheimnis bewahrten, gelang es ihm dann, jedenfalls auf der Insel X., jenen Apparat mit seiner dreifachen Verwandlungsfähigkeit zu konstruieren. Darauf wurde der zweite »Albatros« zerstört, wahrscheinlich im Innern des für jeden andern unzugänglichen Great-Eyry. Jetzt erschien nun die »Epouvante« auf den Landstraßen der Vereinigten Staaten, auf den benachbarten Meeresteilen und in der Luft über Amerika. Der Leser weiß schon, unter welchen Verhältnissen sie, nach ihrer vergeblichen Verfolgung auf dem Eriesee und dem Niagarastrome durch die Luft hin entfloh, während ich mich auf ihr als... Gefangener befand.

Fußnoten

1 Siehe in unserer Collection Verne das Werk unter dem Titel »Robur der Sieger« (Band 50).


Quelle:
Jules Verne: Herr der Welt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVI, Wien, Pest, Leipzig 1905, S. 176.
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