Viertes Capitel.
An Bord des »Boundary«.

[37] Am folgenden Tage stand im Prospect-House Alles frühzeitig auf. Das Wetter war prächtig, und die Brise, welche vom Lande kam, trieb rasch den Nebel nach dem Meere hinaus. Die Amme zog den kleinen Wat an, während Mrs. Branican Toilette machte. Man war übereingekommen, daß sie bei Mrs. Burker frühstücke. Auch begnügte sie sich mit einer einfachen Mahlzeit, was ihr erlaubte, bis Mittag zu warten, denn wahrscheinlich würde der Besuch bei dem Capitän Ellis zwei gute Stunden dauern. Hatte sie doch so viel zu fragen!

Mrs. Branican und die Amme, welche das Kind trug, verließen das Haus, als es eben an den Uhren von San-Diego halb neun schlug. Die breiten Wege der Stadt, welche von reizenden Villen und Gärten begrenzt waren, lagen bald hinter ihnen, und Dolly befand sich nun in den engeren Straßen des Handelsviertels.

Len Burker wohnte in der Fleet Street, nicht weit von der Werfte entfernt, welche der Gesellschaft der Pacific Coast-Steamship gehörte. Kurz, da sie die ganze Stadt durchgehen mußten, war dies ein förmlicher Ausflug für sie, so daß sie erst um neun Uhr in dem Hause Burker's ankamen.

Die Wohnung war einfach und gewährte mit ihren persischen Vorhängen, die fast immer geschlossen waren, einen traurigen Anblick. Len Burker, der höchstens einige Geschäftsleute empfing, hatte weiter keine Bekannte. Man kannte ihn sogar in der Fleet Street nur wenig, und seine Geschäfte hielten ihn gewöhnlich von Morgens bis Abends von dem Hause fern. Er reiste viel herum und begab sich oft nach San-Francisco in Geschäftsangelegenheiten, die er seiner Frau gegenüber nie berührte. An diesem Morgen befand er sich eben in dem Comptoir, als Mrs. Branican ankam. Mrs. Burker entschuldigte ihren Gatten, daß er sie beide nicht an Bord des »Boundary« begleiten könne, und setzte hinzu, daß er sicher an dem Dejeuner theilnehmen werde.

»Ich bin fertig, liebe Dolly, sagte Jane, nachdem sie das Kind herzlich geküßt hatte. Willst Du Dich nicht einen Augenblick ausruhen?

– Ich bin nicht müde, erwiderte Mrs. Branican.[37]

– Brauchst Du nichts?

– Nein, Jane!... Ich möchte nur schon bei dem Capitän Ellis sein... Ich bitte Dich, gehen wir sogleich!«

Mrs. Burker hatte eine alte Frau zur Dienerin, eine Mulattin, welche ihr Gatte aus New-York mitgebracht hatte, als er sich in San-Diego niederließ. Diese Mulattin, Nô, war die Amme Len Burker's gewesen. Da sie schon früher in den Diensten der Familie stand, so war sie ihm sehr ergeben und dutzte ihn noch immer, wie sie es gewohnt war, als er noch ein Kind war. Dieses Geschöpf, dem Len Burker die ganze Hauswirthschaft überließ, konnte sich allein eines gewissen Einflusses auf ihn rühmen. Wie oft hatte Jane unter einer Herrschaft zu leiden, die oft jede Rücksicht außeracht ließ! Aber sie unterwarf sich der Herrschaft der Mulattin, wie sie sich der ihres Mannes unterwarf. In ihrer Resignation, die nichts als Schwäche war, ließ sie Allem freien Lauf, und Nô fragte sie in keiner Hausangelegenheit um Rath.

In dem Augenblicke, als Jane fortgehen wollte, befahl ihr die Mulattin, gewiß vor Mittag zurück zu sein, weil Len Burker heimkehren werde, und sie ihn doch erwarten müßte. Er hätte übrigens noch mit Mrs. Branican in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen.

»Um was handelt es sich denn? fragte Dolly ihre Cousine.

– Wie kann ich das wissen, erwiderte Mrs. Burker. Komm, Dolly, komm!«

Es war keine Zeit zu verlieren. Mrs. Branican und Jane mit der Amme und dem Kinde begaben sich nach dem Quai, wo sie binnen zehn Minuten ankamen.

Der »Boundary«, dessen Quarantaine soeben aufgehoben worden war, hatte noch nicht jenen Ort des Hafens bezogen, der den heimkehrenden und ausruhenden Schiffen des Hauses Andrew bestimmt war. Er lag bei der Lomaspitze vor Anker, weshalb man über den Golf setzen mußte, um an Bord des Schiffes zu gelangen. Das war eine Ueberfahrt von ungefähr zwei Meilen, welche kleine Dampfer jede Stunde zweimal besorgten.

Dolly und Jane Burker nahmen in einem solchen Dampfer Platz, inmitten von zahlreichen Passagieren, die meistens Freunde oder Verwandte der Mannschaft des »Boundary« waren und die aufgehobene Quarantaine sofort benutzten, um sich an Bord des Schiffes zu begeben. Bald durchkreuzte der Schraubendampfer in einer schiefen Linie den Golf.[38]

Der Golf sah bei diesem prächtigen Wetter herrlich aus: Die große Wasserfläche, im Hintergrunde die amphitheatralisch aufsteigenden Häuser San-Diegos, der Hügel, der die Altstadt beherrschte, die offene See zwischen den Spitzen von Island und Loma, das ungeheuere Hôtel von Coronado und der Leuchtthurm, der nach dem Untergange der Sonne weithin sein Licht wirst.

Der Schraubendampfer fuhr an den zahlreichen Schiffen, die zerstreut vor Anker lagen, geschickt vorüber, ebenso wie auch an den Booten oder an den auslaufenden Fischerkähnen.

Mrs. Branican saß neben Jane auf einer Bank des Hinterdecks. Die Amme hielt neben ihr das Kind in den Armen.

Wat schlief nicht und seine Augen füllten sich mit jenem schönen Lichte, das eine frische Brise zu entflammen pflegt. Er sah blühend aus mit seinen rothen Wangen und rosigen Lippen, die noch feucht waren von der Milch, welche er aus dem Busen der Amme vor Verlassen des Hauses Burker's gesogen hatte. Seine Mutter sah ihn zärtlich an und beugte sich oft über ihn, um ihn zu küssen, was der Kleine immer mit einem Lächeln erwiderte.

Aber die Aufmerksamkeit Dollys wurde bald durch den Anblick des »Boundary« gefesselt, der sich jetzt von den übrigen Schiffen deutlich abhob und seine Flaggen lustig gegen den sonnenklaren Himmel flattern ließ.

Das ganze Leben Dollys hing an diesem Anblicke. Sie dachte an John, der von einem ähnlichen Schiffe, das man einen Bruder jenes dort nennen konnte, entführt worden war. Wie sich die beiden Schiffe ähnlich sahen! Waren sie nicht Kinder desselben Hauses Andrew? Hatten sie nicht die gleiche Heimat? Waren sie nicht auf derselben Werfte erbaut worden? Dolly, ganz in Nachdenken versunken, ganz von ihrer Phantasie erfaßt, glaubte, John wäre dort auf jenem Schiffe... daß er sie erwarte... daß er ihr zuwinken werde... daß sie werde in seine Arme fallen können... sein Name war auf ihren Lippen... sie nannte ihn... und er antwortete, indem er den ihrigen aussprach...


... saß die junge Frau auf dem Balkon. (S. 34.)
... saß die junge Frau auf dem Balkon. (S. 34.)

Ein kleiner Schrei ihres Kindes entriß sie den Gedanken. Ja, es war der »Boundary«, auf den sie zufuhren, und nicht der »Franklin«... weit, weit war dieser... Wie viele tausende Meilen trennten ihn von der amerikanischen Küste!

»Eines Tages wird er auch dort sein... sagte sie leise, indem sie Mrs. Burker ansah.[39]

– Ja, liebe Dolly, erwiderte Jane, und dann wird uns John an Bord erwarten.«


Dann trennten sich die beiden Schiffe. (S. 42.)
Dann trennten sich die beiden Schiffe. (S. 42.)

Sie verstand, daß eine leichte Unruhe das Herz der jungen Frau erfaßte, als diese sie nach der Zukunft fragte.

Unterdessen hatte der Schraubendampfer in einer Viertelstunde die zwei Meilen, die den Quai San-Diegos von der Lomaspitze trennen, zurückgelegt. Die Passagiere stiegen aus, und Mrs. Branican mit Jane, der Amme und dem Kinde gingen zu Fuß. Die Entfernung bis zum »Boundary« war nur noch eine kurze.[40]

Gerade neben der Landungsbrücke stand unter der Aufsicht zweier Matrosen ein Boot, das die Verbindung mit dem Dreimaster vermittelte. Mrs. Branican nannte ihren Namen, und die beiden Männer stellten sich ihr zur Verfügung, sie an Bord des »Boundary« zu bringen, nachdem sie sich versichert hatte, daß Capitän Ellis sich auch dort befand.

Einige Ruderschläge genügten, und sobald Capitän Ellis Mrs. Branican erkannt hatte, eilte er zur Schiffstreppe; während sie hinaufstieg, schärfte sie der Amme ein, das Kind festzuhalten. Der Capitän führte sie auf das Verdeck,[41] während der Officier die Vorbereitungen traf, den »Boundary« zum Quai von San-Diego zu geleiten.

»Herr Ellis, fragte sofort Mrs. Branican, ich habe gehört, daß Sie dem »Franklin« begegnet sind?...

– Ja, Mistreß, erwiderte der Capitän, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß er sich wohl befindet, wie ich es auch Mr. William Andrew mitgetheilt habe.

– Haben Sie... John gesehen?

– Der »Franklin« und der »Boundary« konnten sich einander soweit nähern, daß der Capitän Branican und ich einige Worte wechselten.

– Ja... Sie haben ihn gesehen!...« wiederholte Mrs. Branican, indem sie dem Capitän Ellis in die Augen sah, als hoffte sie in denselben einen Reflex des »Franklin« zu entdecken.

Mrs. Burker stellte dann einige Fragen, denen Dolly aufmerksam zuhörte, obwohl ihre Blicke weit in die Ferne schweiften.

»An jenem Tage, erwiderte der Capitän Ellis, war das Wetter sehr hübsch und der »Franklin« fuhr mit vollen Segeln dahin. Der Capitän John stand, das Fernrohr in der Hand, auf dem Verdecke. Er lavirte ein Viertel, um sich dem »Boundary« zu nähern, denn ich konnte von meinem Curse nicht abweichen, weil der Wind mir gerade entgegenkam.«

Mrs. Branican konnte sich die Stellung der beiden Schiffe aus den Worten des Capitäns Ellis zwar nicht ganz klar vorstellen, aber was sie sich merkte war, daß er John gesehen, daß er mit ihm gesprochen habe.

»Als wir ganz nahe waren, fügte er hinzu, grüßte mich Ihr Gatte, Mistreß Branican, mit der Hand und rief: »Alles geht gut, Ellis! Grüßen Sie mir bei der Ankunft in San-Diego meine Frau... meine liebe Dolly!« Dann trennten sich die beiden Schiffe und waren einander bald entschwunden.

– An welchem Tage sind Sie dem »Franklin« begegnet? fragte Mrs. Branican.

– Am 23. März, erwiderte Ellis, um elf Uhr fünfundzwanzig Minuten Vormittags.«

Nun mußte man noch auf die Einzelheiten eingehen, und der Capitän gab auf der Karte genau an, wo sich beide Schiffe gekreuzt hatten. Es war im 148. Längen- und im 20. Breitengrade, daß der »Boundary« dem »Franklin« begegnet war, d. h. 1700 Meilen von San-Diego entfernt. Wenn das Wetter[42] günstig blieb – und dazu war alle Hoffnung vorhanden – so würde Capitän John eine gute Fahrt durch den Norden des Stillen Oceans haben. Wenn er außerdem gleich nach seiner Ankunft in Calcutta laden könnte, so würde er sich nur kurze Zeit in der indischen Hauptstadt aufhalten und seine Rückkehr nach Amerika bald von statten gehen. Der »Franklin« würde also, den früheren Absichten gemäß, nur einige Monate abwesend sein.

Während der Capitän Ellis bald auf die Fragen der Mrs. Burker, bald auf die der Mrs. Branican antwortete, bildete sich diese immer noch ein, an Bord des »Franklin« zu sein!... Das war nicht Ellis... das war John, der ihr dies Alles erzählte... Sie glaubte seine Stimme zu hören....

In diesem Augenblicke kam der Officier auf den Capitän zu und meldete, daß die Vorbereitungen sich ihrem Ende näherten. Die Matrosen standen alle in Bereitschaft und warteten nur auf den letzten Befehl.

Der Capitän machte nun Mrs. Branican das Anerbieten, sie wieder an das Land bringen zu lassen, wenn sie es nicht vorzöge, an Bord zu bleiben und den Golf auf dem »Boundary« zu durchschneiden, so daß sie auf der Werfte aussteigen könnte. Das würde ungefähr zwei Stunden dauern.

Mrs. Branican hätte gern das Anerbieten des Capitäns angenommen, aber sie wurde zum Diner erwartet. Sie sah ein, daß Jane nach dem, was ihr die Mulattin gesagt hatte, sehr beunruhigt sein würde, wenn sie nicht vor der Ankunft ihres Gatten zu Hause wäre. Sie ersuchte daher den Capitän Ellis, sie zur Landungsbrücke fahren zu lassen, um den nächsten Schraubendampfer nicht zu versäumen. Sofort wurden die Befehle ertheilt, Mrs. Branican und Mrs. Burker verabschiedeten sich von dem Capitän, nachdem dieser die rothen Wangen des kleinen Wat geküßt hatte. Dann stiegen sie, die Amme voraus, die Schiffstreppe hinab, und das Boot brachte sie wieder zu der Landungsbrücke.

Indem sie nun die Ankunft des Schraubendampfers, der eben den Quai von San-Diego verlassen hatte, erwarteten, sah Mrs. Branican mit großem Interesse den Manövern des »Boundary« zu. Unter dem rauhen Gesange der Matrosen wurde der Anker aufgezogen, und am zweiten Mast wurde das große Focksegel und die Brigantine gehißt. Mit diesen Segeln näherte sich das Schiff graciös seinem Posten.

Bald war der Schraudendampfer an der Landungsbrücke. Dann stieß er noch einige Pfiffe aus, um die verspäteten Touristen zu schnellen Schritten anzutreiben.[43]

Der Schraubendampfer hatte nur fünf Minuten Aufenthalt. Mrs. Branican, Jane Burker und die Amme setzten sich auf eine Bank des Verdecks, während die übrigen Reisenden – etwa zwanzig – auf der Brücke hin und hergingen. Ein letzter Pfiff ertönte, die Schraube setzte sich in Bewegung und das Schiff entfernte sich von der Küste.

Es war erst halb zwölf und Mrs. Branican wäre daher noch zur rechten Zeit in das Haus der Fleet Street gekommen, da die Ueberfahrt nur eine Viertelstunde dauerte. In dem Maße, als das Schiff sich der Küste näherte, hingen die Blicke der Mrs. Branican an dem »Boundary«. Der Anker war, oben, die Segel waren geschwellt, und das Schiff begann langsam dahinzugleiten. Wenn es vor der Werfte in San-Diego liegen würde, so konnte es Dolly besuchen, so oft sie wollte.

Der Schraubendampfer fuhr schnell dahin. Die Häuser der Stadt wuchsen wie ein Amphitheater empor, und das Schiff war keine Viertelmeile mehr von dem Ufer entfernt.

»Achtung!« rief in diesem Augenblicke ein Matrose, der vorn bei der Spitze stand.

Als Mrs. Branican diesen Ruf hörte, blickte sie nach dem Hafen hinüber, wo eben ein aufregendes Schauspiel die Aufmerksamkeit aller Passagiere auf sich zog, die sich auch Alle zu dem Vordertheile des Schiffes hindrängten. Ein großer Ziegelchooner war eben den zahlreichen Schiffen an dem Quai entlang gefahren und schickte sich an, mit dem Bug gegen die Islandspitze, den Golf zu verlassen. Er war von einem Remorqueur ins Schlepptau genommen, der ihn nun hinausbringen sollte.

Dieser Schooner lag gerade in der Fahrtlinie des Schraubendampfers, und zwar so nahe, daß es schwer war, ihm auszuweichen.

Ein ängstliches Gefühl ergriff die Passagiere, eine Unruhe, die um so gerechtfertigter war, als der Hafen voll von zerstreut liegenden Schiffen war. Eine innere Stimme drängte sie Alle nach dem Hinterdecke zurück. Man mußte »stoppen« und so den Schlepper mit dem Schooner vorüber lassen. Einige Fischerboote, die von dem Winde hin- und hergeworfen wurden, machten den Durchgang noch schwieriger, da sie vor dem Quai von San-Diego kreuzten.

»Achtung! rief von neuem der Matrose.

– Ja... ja... erwiderte der Steuermann. Da ist keine Gefahr!... Ich habe Platz genug!«[44]

Da aber dahinter plötzlich ein großer Dampfer kam, so machte der Remorqueur eine Wendung, auf die man nicht gefaßt sein konnte. Man schrie, und dazu kamen noch die Rufe der Bemannung des Schooners, welche die Drehung des Remorqueurs durch ihr eigenes Steuer unterstützen wollten.

Kaum zwanzig Fuß waren die beiden Schiffe von einander entfernt.

Jane hatte sich voll Angst umgewendet. Mrs. Branican nahm, von einer plötzlichen Furcht erfaßt, den kleinen Wat aus den Armen der Amme und drückte ihn an sich.

»Nach Steuerbord!... Nach Steuerbord!« rief der Capitän, indem er mit der Hand die Richtung angab, die man einzuschlagen hätte.

Dieser Mensch, der seine Kaltblütigkeit nicht verlor, riß das Steuer kräftig herum, um sich aus dem Curse des Remorqueurs zu bringen, denn dieser konnte unmöglich stoppen, und der Schooner drohte ihn in die Flanke zu schlagen.

Durch das plötzliche Herumreißen des Steuerruders verloren die Reisenden das Gleichgewicht und fielen auf die Seite.

Nun ertönten neue Schreie des Entsetzens, weil man glaubte, daß soeben die beiden Schiffe zusammengestoßen seien.

In diesem Augenblicke konnte sich Mrs. Branican nirgends anhalten und wurde mit dem Kinde in das Meer geschleudert.

Der Schooner glitt vorüber und jede Gefahr eines Zusammenstoßes war beseitigt.

»Dolly!... Dolly!...« rief Jane, welche einer der Passagiere schnell bei der Hand erfaßte, als sie zu fallen drohte.

Plötzlich sprang ein Matrose, ohne lange zu zögern, über die Brüstung in das Meer, um Mrs. Branican und das Kind zu retten.

Dolly, welche die Kleider oben hielten, schwamm auf der Oberfläche; sie hielt das Kind in den Armen; aber sie war schon dem Untersinken nahe, als der Matrose auf sie zugeschwommen kam.

Sofort hatte der Schraubendampfer gestoppt und es war dem Matrosen nichts Schweres, ihn mit Mrs. Branican wieder zu erreichen. Unglücklicherweise hatten sich in dem Augenblicke, wo sie von dem Matrosen um die Taille genommen wurde, die Arme der Frau geöffnet, und während sie dem Ertrinken nahe war, verschwand das Kind. Als Dolly an Bord getragen und dort auf eine Matratze gelegt wurde, war sie ganz bewußtlos.[45]

Von neuem sprang dieser muthige Matrose – es war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, namens Zach Fren – in das Meer, tauchte mehrmals unter, suchte herum... vergebens!... Er konnte das Kind nicht wiederfinden, das durch einen Wirbel in die Tiefe gezogen worden war.

Unterdessen ließen die Passagiere Mrs. Branican alle Pflege angedeihen, die ihr Zustand erheischte. Jane, die ganz bestürzt war, und die Amme, die den Kopf verloren hatte, suchten sie zu sich zu bringen. Der Schraubendampfer stand noch immer und wartete, bis Zach Fren jede Hoffnung, den kleinen Wat wiederzufinden, aufgeben würde.

Endlich kam Dolly wieder zum Bewußtsein. Sie stöhnte den Namen Wats, ihre Augen öffneten sich und ihr erster Schrei war:

»Mein Kind!«

Sie sah Zach Fren über die Brüstung heraufklettern... Wat war nicht in seinen Armen.

»Mein Kind!« rief noch einmal Dolly.

Dann sprang sie auf, stieß die Umstehenden zur Seite und eilte zur Brüstung...

Wenn man sie nicht aufgehalten haben würde, so hätte sie sich in das Meer gestürzt... Man mußte die unglückliche Frau halten, während der Dampfer seine Fahrt fortsetzte.

Mrs. Branican war mit verzerrten Zügen und ringenden Händen auf dem Verdecke hingesunken.

Nach einigen Augenblicken hatte das Schiff die Landungsbrücke erreicht und Dolly wurde in das Haus Janes getragen. Len Burker war eben heimgekehrt. Auf seinen Befehl lief die Mulattin nach einem Arzt.

Dieser war bald da, und es gelang ihm nur mit Mühe, Mrs. Branican wieder in das Leben zurückzubringen.

Dolly sah ihn mit starrem Blicke an:

»Was giebt es?... Was ist vorgefallen?... Ach!... Ich weiß!...«

Dann sagte sie lächelnd:

»Es ist mein John... Er kommt zurück!... Er kommt zurück!... Er wird seine Frau und sein Kind wiederfinden... John!... Da kommt John!«... Mrs Branican hatte den Verstand verloren.[46]

Quelle:
Jules Verne: Mistreß Branican. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LIX–LX, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 37-47.
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