Zwölftes Capitel.
Was Zermah hörte.

[366] »Du, auf der Insel Carneral?

– Ja, seit einigen Stunden.

– Ich glaubte Du seiest jetzt in Adamsville1 in der Umgebung des Apopka-Sees2?

– Da war ich vor acht Tagen.

– Und warum bist Du hierher gekommen?

– Weil es mir unumgänglich nöthig schien.

– Wir dürfen uns, das weißt Du ja, niemals begegnen, außer im Sumpfe der Schwarzen Bucht, und auch dann nur, wenn ein paar Zeilen von Dir mich vorher davon verständigt haben.[366]

– Ich wiederhole Dir, ich mußte unverzüglich davon gehen und mich nach den Evergladen flüchten.

– Warum?

– Das wirst Du gleich hören.

– Riskirst Du nicht, uns zu compromittiren?...

– Nein, ich bin in der Nacht gekommen, und keiner Deiner Sclaven hat mich sehen können.«

Wenn Zermah von diesem Gespräch zunächst nichts verstand, so errieth sie ebensowenig, wer dieser so wenig erwartete Gast des Wigwams sein möge. Ganz bestimmt waren hier zwei Männer, welche sprachen, und doch hatte es den Anschein, als ob es nur ein Einziger wäre, der Fragen stellte und Antwort gab.

Bei der ganz gleichen Färbung und Stärke der Stimme mußte man annehmen, daß jene Worte alle aus ein und demselben Munde kämen. Vergeblich bemühte sich Zermah, durch einen Spalt der Thüre zu blicken. Das nur schwach erleuchtete Zimmer lag in einer Art Halbschatten, der nicht das Geringste zu erkennen gestattete. Die Mestizin mußte sich also damit begnügen, möglichst viel von diesem Zwiegespräch, das für sie von größter Bedeutung sein konnte, zu erlauschen.

Nach kurzem Stillschweigen fuhren die beiden Männer wie folgt fort. Offenbar war es Texar, der die Frage stellte:

»Du bist nicht allein gekommen?

– Nein, einige unserer verläßlichsten Genossen haben mich bis nach den Evergladen begleitet.

– Wie viele sind es?

– Gegen vierzig.

– Fürchtest Du denn nicht, daß sie durchschauen lernen könnten, was wir seit so langer Zeit geheim zu halten vermochten?

– Keineswegs. Sie werden uns eben nie beisammen sehen. Wenn sie von der Insel Carneral wieder abziehen, wissen sie auch noch weiter nichts, und im Programm unseres Lebens tritt also keine Veränderung ein.«

Hier glaubte Zermah das Einschlagen zweier Hände in einander zu hören, als ob die Männer damit diese Worte bekräftigen wollten.

Dann wurde das Zwiegespräch mit folgenden Worten weiter geführt:

»Was ist denn seit der Einnahme von Jacksonville vorgefallen?[367]

– O, eine ziemlich ernsthafte Sache. Du weißt doch, daß Dupont sich Saint-Augustines bemächtigt hat?

– Ja, das weiß ich; und Dir kann ja nicht wohl unbekannt sein, warum ich das wissen muß.

– Nein, wirklich nicht! Die Geschichte mit dem Eisenbahnzug bei Fernandina ist Dir wieder prächtig zu statten gekommen, um ein Alibi nachzuweisen, auf Grund dessen der dortige Kriegsrath Dich wohl oder übel freilassen mußte.

– Und dazu schien er vorher nicht besonders Lust zu haben! – Bah!

– 'Sist ja nicht das erstemal, daß wir den Gerichten auf diese Weise ein Schnippchen schlagen...

– Und wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Vielleicht weißt Du aber doch nicht, was die Föderirten mit der Einnahme von Saint-Augustine eigentlich bezweckten. Es kam ihnen weniger darauf an, die Hauptstadt der Grafschaft Saint-John in ihre Gewalt zu bringen, als die Blockade auf die ganze Küste des Atlantischen Oceans auszudehnen.

– Das ist mir gerüchtweise zu Ohren gekommen.

– Nun wohl; aber die Ueberwachung der Küste von den Mündungen des Saint-John bis zu den Bahama-Inseln erschien Dupont noch nicht hinreichend, der jedem Verkehr mit Kriegscontrebande auch im Innern Floridas ein Ende machen wollte. Zu diesem Zwecke sandte er also zwei Schaluppen mit einer Abtheilung See-Soldaten und unter Führung zweier Officiere von seinem Geschwader ab.

– Wußtest Du etwas von dieser Expedition?

– Nein.

– An welchem Datum hast Du denn die Schwarze Bucht verlassen?... Wenige Tage nach Deiner Freilassung?...

– Ja, am 22. dieses Monats.

– Nun ja, jene Geschichte spielte sich am 22. ab.«

Es muß hierbei bemerkt werden, daß Zermah, von dem Ueberfall beim Kissimmee, dessen der Capitän Howick nach seinem Zusammentreffen mit Gilbert gegen diesen erwähnte, noch nichts wußte.

Sie vernahm also jetzt gleichzeitig mit dem Spanier, daß nach Verbrennung der nordstaatlichen Schaluppen kaum ein Dutzend Ueberlebende die Nachricht von jenem Unfall dem Commodore hatte bringen können.


Zermah lauschte gespannten Ohres. (S. 365.)
Zermah lauschte gespannten Ohres. (S. 365.)

»Gut!... Gut!... rief Texar. Das ist eine glückliche Wiedervergeltung für die Einnahme von Jacksonville, und könnten wir diese verdammten Nordstaatler nur noch wiederholt in's Innere unseres Florida verlocken! Da sollten sie bis zum letzten Mann aufgerieben werden!

– Ja, bis zum letzten Mann, wiederholte der Ande[368] re, vorzüglich, wenn sie sich bis in die Sümpfe der Evergladen vorwagten. Und wahrscheinlich werden wir sie bald genug hier zu sehen bekommen.

– Was sagst Du?[369]

– Dupont hat geschworen, den Tod seiner Officiere und Mannschaften nicht ungerächt zu lassen, und so hat er eine neue Expedition nach dem Süden der Grafschaft Saint-John ausgesendet.

– Die Föderirten sollten von dieser Seite her vorzudringen suchen?...

– Ja, aber in großer Anzahl, gut ausgerüstet und vorsichtig, um nicht wieder in einen Hinterhalt zu gerathen.

– Bist Du mit ihnen zusammengestoßen?

– Nein; unsere Leute waren ihnen zunächst nicht gewachsen, und wir mußten langsam zurückweichen. Doch gerade im Zurückgehen lockten wir sie nach. Wenn wir dann die Milizen zusammengezogen haben, welche in hiesiger Gegend umherschweifen, fallen wir über sie her, und dann soll schon Keiner davonkommen.

– Von wo sind jene ausgegangen?

– Vom Mosquito-Eiland.

– Und welchen Weg schlugen sie ein?

– Den durch den Cypressenwald.

– Wo mögen sie sich augenblicklich wohl befinden?

– Etwa vierzig Meilen von der Insel Carneral.

– Schön, erwiderte Texar. Wir müssen sie sich nach dem Süden hinziehen lassen, und wir dürfen keinen Tag verlieren, die Milizen zusammenzurufen. Wenn nöthig, brechen wir aber schon morgen auf, um Zuflucht auf der anderen Seite des Bahama-Canals zu suchen.

– Und dort werden wir, wenn man uns zu sehr auf den Fersen wäre, bevor unsere Parteigänger zusammentreten könnten, auf den englischen Inseln sicheren Schutz finden!«

Die verschiedenen Einzelheiten, welche im Laufe dieses Gespräches erwähnt wurden, hatten für Zermah natürlich das größte Interesse, schon da sie ja nicht wußte, ob Texar, wenn er sich für Aufgebung der Insel entschied, auch seine Gefangenen mitnehmen oder diese unter Aufsicht Squambo's im Wigwam zurücklassen würde. In letzterem Falle schien es ihr gerathener, einen Fluchtversuch erst nach dem Fortgange des Spaniers zu unternehmen; denn dann konnte die Mestizin wahrscheinlich mit mehr Aussicht auf Erfolg handeln und außerdem war ja nicht ausgeschlossen, daß die föderirte Abtheilung, welche eben jetzt durch Unter-Florida zog, an den Ufern des Okee-cho-bee-Sees und in Sicht der Insel Carneral eintraf. Doch alle Hoffnung, welche Zermah aus diesen Erwägungen schöpfte, sollte leider wieder erblassen.[370]

Auf die an ihn gerichtete Frage nämlich, was mit der Mestizin und dem Kinde werden solle, antwortete Texar ohne Zögern:

»O, die nehm' ich mit, und wenn es sein muß, bis nach den Bahama-Inseln.

– Wird das kleine Mädchen auch die Strapazen einer nochmaligen Reise aushalten können?...

– Ja, dafür steh' ich ein; und übrigens wird es Zermah's Aufgabe sein, ihr solche unterwegs möglichst zu ersparen.

– Doch wenn das Kind trotzdem sterben sollte?...

– Ich würde es lieber todt sehen, als daß ich es seinem Vater zurücklieferte.

– Ah, Du hast einen gründlichen Haß gegen diese Burbanks!...

– Ebensoviel wie Du selbst sie hassest!«

Zermah vermochte sich kaum noch zu zügeln und war nahe daran, die Thür aufzustoßen, um diesen beiden Männern, die einander nicht nur der Stimme, sondern auch ihren bösen Leidenschaften und dem völligen Mangel an Gewissen und Gefühl nach so außerordentlich gleich waren, Aug' in Auge gegenüber zu treten. Doch einmal noch bezwang sie sich, da es ihr nützlicher schien, bis zum letzten den Worten zu lauschen, welche zwischen Texar und seinem Genossen gewechselt wurden. Sollten sie nach Beendigung dieses Gesprächs etwa in Schlaf versinken, da würde es für sie Zeit sein, eine Flucht zu wagen, die jetzt nothwendig geworden war, ehe sie noch weiter hinaus verschleppt wurde.

Offenbar befand sich der Spanier in der Lage eines Mannes, der alles von dem mit ihm sprechenden Anderen zu erfahren hat. So fuhr er denn auch fort zu fragen:

»Was giebt es denn Neues im Norden?

– Nichts von Bedeutung. Leider scheint es allerdings, als ob die Föderirten allenthalben im Vortheil blieben, und es ist wohl zu befürchten, daß die Sache der Sclaverei endgiltig eine verlorene ist.

– Bah! rief Texar mit sehr gleichgiltigem Ausdruck.

– Im Grunde genommen halten wir Beide es ja ebenso wenig mit dem Süden wie mit dem Norden, meinte der Andere.

– Nein; und es handelt sich nur darum, während beide Parteien sich zerfleischen, immer auf der Seite zu stehen, wo am meisten zu holen ist.«

Mit diesem Ausspruche enthüllte Texar sein Inneres vollständig. Im trüben Wasser des Bürgerkrieges zum eigenen Vortheile zu fischen, das war der einzige Zweck, den diese beiden Männer im Auge hatten.[371]

»Doch, fügte er hinzu, was hat sich speciell in Florida seit den letzten acht Tagen ereignet?

– Nichts, was Dir unbekannt wäre. Stevens beherrscht noch immer den Fluß bis hinauf nach Picolata.

– Und es weist nichts darauf hin, daß er noch über diesen Punkt hinaus stromaufwärts zu gehen beabsichtigte?

– Nein, nach dem Süden der Grafschaft dehnen die Kanonenboote ihre Recognoscirungen nicht aus. Uebrigens glaub' ich, wird diese Occupation bald zu Ende sein, und in diesem Falle steht der Fluß dem Verkehre der Conföderirten wieder völlig offen.

– Wie kommst Du zu dieser Ansicht?

– Nun, es geht schon das Gerücht, Dupont beabsichtige, von Florida in nächster Zukunft ganz wieder abzuziehen und nur zwei oder drei Schiffe zur Blockade der Küsten zurückzulassen.

– Wäre das möglich?

– Ich wiederhole Dir, daß davon die Rede ist, und wenn es so weit kommt, wird Saint-Augustine bald geräumt sein.

– Und Jacksonville?...

– Jacksonville ebenso.

– Alle Wetter! Dann könnt' ich also dahin zurückkehren, unseren Ausschuß wieder zusammenrufen und den mir durch die Föderirten geraubten Platz wieder einnehmen! Ah, verdammte Nordstaatler, laßt mich nur noch einmal zur Gewalt kommen – ich will schon davon Gebrauch machen!...

– Bravo!

– Und wenn James Burbank und seine Familie Camdleß-Bay noch nicht verlassen, wenn sie sich nicht durch die Flucht meiner Rache entzogen haben, so werden sie mir diesmal nicht wieder entschlüpfen.

– Einverstanden! Was Du durch diese Leute zu leiden hattest, litt ich ja mit! Was Du willst, will ich auch! Was Du hassest, hasse auch ich! Wir Beide bilden ja immer nur...

– Ja wohl, nur Einen!« schloß Texar.

Das Gespräch wurde einen Augenblick unterbrochen. Gläsergeklirr verrieth Zermah, daß der Spanier und »der Andere« mit einander tranken.

Zermah war wie angewurzelt. Nach dem was sie gehört, schien es, als ob diese beiden Männer gleichen Theil an den in letzterer Zeit in Florida und[372] im Besonderen gegen die Familie Burbank gerichteten Verbrechen hätten, das trat ihr noch deutlicher vor Augen, als sie Jenen noch eine halbe Stunde zuhörte. Nun wurden ihr verschiedene Vorkommnisse aus dem Leben des Spaniers klar Immer aber war es dieselbe Stimme, welche Fragen stellte und Antwort ertheilte, als wäre Texar allein im Zimmer gewesen. Hier lag noch ein Räthsel vor, an dessen Lösung der Mestizin begreiflicherweise sehr viel gelegen sein mußte. Doch wenn diese Elenden nur zu der Ahnung kamen, daß Zermah wenigstens in einen Theil ihrer Geheimnisse eingedrungen war, würden sie wohl einen Augenblick gezögert haben, diese Gefahr dadurch, daß sie die Frau umbrachten, abzuwenden? Was sollte aber aus dem verlassenen Kinde werden, wenn Zermah todt war?

Es mochte jetzt gegen elf Uhr Nachts sein. Das Wetter war noch immer ganz abscheulich. Wind und Regen pfiff und fiel ohne Unterlaß, so daß kaum zu erwarten war, daß Texar und sein Begleiter sich der Unbill der Witterung aussetzen würden. Jedenfalls verbrachten sie die Nacht im Wigwam und verschoben die Ausführung ihrer nächsten Pläne wenigstens bis zum folgenden Tage.

Zermah überzeugte sich davon noch mehr, als sie den Genossen Texar's – denn dieser mußte es sein – fragen hörte:

»Nun, was beginnen wir also?

– Sehr einfach, erwiderte der Spanier. Morgen schon früh bei Zeiten durchstreifen wir mit unseren Leuten die Umgebungen des Sees. Auf drei bis vier Meilen hinein durchsuchen wir den Cypressenwald, wobei diejenigen unserer Genossen, die ihn am besten kennen, und vor Allen Squambo, ein Stück vorausgeschickt werden. Deutet dann nichts auf die Annäherung der föderirten Abtheilung, so gehen wir einfach wieder zurück und warten es ab, bis der Augenblick kommt, wo wir zum Rückzug wirklich genöthigt sind. Sollte sich unsere Lage dagegen als unmittelbar bedroht erweisen, so ziehe ich meine nächsten Anhänger und meine Sclaven zusammen und bringe Zermah nach dem Bahama-Canale. Du selbst aber läßt es Dir angelegen sein, inzwischen die in Unter-Florida zerstreuten Milizen zusammenzuraffen.

– Einverstanden, antwortete der Andere. Morgen, während Ihr jene Recognoscirung vornehmt, verberg' ich mich im Gehölz der Insel. Es darf uns Niemand zusammen sehen.

– Natürlich nicht! rief Texar. Der Teufel soll mich behüten, eine solche Unklugheit zu begehen, die unser profitables Geheimniß entschleiern würde. In keinem Falle sehen wir uns vor nächster Nacht im Wigwam wieder. Und selbst[373] wenn ich gezwungen wäre, im Laufe des Tages weiter zu ziehen, verläßt Du die Insel erst nach mir. Als Stelldichein mag dann das Cap Sable gelten.«

Zermah sah zu ihrem Schmerze ein, daß sie durch die Föderirten wohl kaum errettet werden könne.

Denn beabsichtigte der Spanier nicht, wenn er morgen von dem Herannahen der Föderirten erfuhr, mit ihr die Insel zu verlassen?

Die Mestizin konnte das Heil der Zukunft also nur von sich selbst erwarten, trotz der Gefahren, um nicht zu sagen der Unmöglichkeiten, welche sich einem Entweichen unter so schwierigen Umständen entgegenstellten.

Und doch, mit welch' frohem Muthe hätte sie das scheinbar Unmögliche versucht, wenn sie gewußt hätte, daß James Burbank, Gilbert, Mars nebst einigen seiner Kameraden von der Ansiedlung sich schon unterwegs befanden, sie den Händen Texar's zu entreißen; daß ihr Billet Jene unterrichtet hatte, wohin sie ihre Nachforschungen zu lenken hätten; daß Mr Burbank schon den Saint-John bis über den Washington-See hinaufgesegelt war; daß Alle einen großen Theil des Cypressenwaldes schon durchmessen; daß die kleine Gesellschaft von Camdleß-Bay sich der von Capitän Howick geführten Abtheilung angeschlossen hatte; daß es Texar, Texar selbst war, den man für den Urheber jenes blutigen Ueberfalles beim Kissimmee betrachtete; daß dieser gewissenlose Verbrecher mit Aufgebot aller Mittel verfolgt und daß er, sobald man sich seiner Person bemächtigte – was nicht ausbleiben konnte, da ihm auch die Flucht über den Bahama-Canal verlegt war – ohne weitere Untersuchung standrechtlich erschossen werden sollte!...

Zermah konnte das jedoch nicht wissen; sie durfte auf Hilfe von außen also nicht zählen... Und doch blieb sie auf jeden Fall entschlossen, Allem Trotz zu bieten, um von der Insel Carneral zu entkommen.

Indessen mußte sie die Ausführung ihres Vorhabens um vierundzwanzig Stunden verschieben, wenn die sehr dunkle Nacht einer Entweichung auch sehr günstig schien. Die Parteigänger ihres Peinigers, welche ein Obdach unter den Bäumen gesucht hatten, befanden sich jetzt in der nächsten Umgebung des Wigwams. Man hörte sie am Ufer plaudernd und rauchend umhergehen. Mißlang aber ihr Unternehmen und wurde ihre Absicht entdeckt, so hatte sie damit ihre Lage nur weiter verschlimmert und mußte sich wohl der gräulichsten Gewaltthätigkeiten Texar's versehen.

Uebrigens versprach ja der nächste Tag, ihr weit bessere Aussichten zur Flucht zu bieten. Der Spanier hatte ja ausgesprochen, daß seine Genossen, seine[374] Sclaven, selbst der Indianer Squambo ihn begleiten sollten, um das Vorwärtsdringen der föderirten Abtheilung zu belauern. Damit bot sich ihr ein Umstand, den Zermah benutzen konnte, ihre Aussichten auf Erfolg zu erweitern. Gelang es ihr nur, den Canal zu überschreiten, ohne von Jemand gesehen zu werden, so zweifelte sie, einmal im Walde, gar nicht daran, mit Gottes Hilfe so gut wie gerettet zu sein. Wenn sie sich da verbarg, würde sie es schon zu vermeiden wissen, nochmals in Texar's Hände zu fallen. Der Capitän Howick konnte ja gar nicht mehr fern sein. Da er sich bestimmt auf den Okee-cho-bee-See zu bewegte, hatte sie ja einige Aussicht, von ihm aufgenommen und befreit zu werden.

Es erschien ihr also am gerathensten, den folgenden Tag abzuwarten. Da sollte aber ein Zwischenfall das ganze Gebäude umstürzen, auf das Zermah ihre letzten Aussichten gegründet hatte, während er gleichzeitig ihre Stellung gegenüber Texar compromittirte.

In diesem Augenblicke klopfte es nämlich an die Thüre des Wigwams. Es war Squambo, der sich auf eine Anfrage von innen seinem Herrn zu erkennen gab.

»Tritt ein!« sagte der Spanier.

Squambo folgte der Einladung.

»Haben Sie mir für diese Nacht Befehle zu ertheilen? fragte er.

– Keine, als daß man scharf Wache hält, antwortete Texar, und daß man mich bei dem geringsten auffallenden Zeichen benachrichtigt

– Dafür steh' ich ein, versicherte Squambo.

– Morgen früh durchsuchen wir dann den Cypressenwald auf einige Meilen von hier aus.

– Und die Mestizin und Dy?...

– Werden ebenso gut bewacht sein wie gewöhnlich. Und nun, Squambo, erwarte ich, daß uns im Wigwam hier Keiner stört.

– Das versteht sich von selbst.

– Was machen unsere Leute?

– Sie gehen auf und ab und scheinen wenig Neigung zu haben, sich einige Ruhe zu gönnen.

– Daß keiner derselben sich entfernt!

– Nicht einer.

– Und die Witterung?...

– Ist jetzt etwas besser geworden. Es regnet nicht mehr, und auch der scharfe Wind dürfte sich bald legen.


Da klopfte es an die Thür des Wigwams. (S. 375.)
Da klopfte es an die Thür des Wigwams. (S. 375.)

– Gut.«

Zermah hatte noch immer gelauscht. Das Gespräch[375] schien sich offenbar seinem Ende zuzuneigen, als sich ein erstickter Seufzer, eine Art Röcheln hören ließ.

Alles Blut stürmte der Mestizin zum Herzen.


Hierher brachten sie einige Sclaven. (S. 382.)
Hierher brachten sie einige Sclaven. (S. 382.)

Sie richtete sich auf, eilte nach dem Laublager und neigte sich über das kleine Mädchen...

Dy war eben erwacht, aber in welchem Zustande! Keuchende Athemzüge kamen über ihre Lippen; ihre kleinen Hände peitschten die Luft, als wolltensie diese dadurch dem Munde reichlicher zuführen. Zermah vermochte nur die Worte zu verstehen:

»Zu trinken!... Etwas zu trinken!«

Das unglückliche Kind schien dem Ersticken nahe. Sie mußte dasselbe ohne Zögern hinaus in's Freie tragen. In der tiefen Dunkelheit nahm Zermah, halb ihrer Sinne verlustig, die Kleine in die Arme, um sie durch ihren eigenen Athem wieder etwas zu beleben. Sie fühlte, wie dieselbe sich in beängstigenden Krämpfen wand. Da entfuhr ihr ein Schrei – sie stieß die Thür ihres Zimmers auf...

Da standen vor Squambo zwei Männer, nach Gesicht und ganzer Erscheinung einander aber so ähnlich, daß Zermah unmöglich erkennen konnte, welcher von Beiden Texar war.

Fußnoten

1 Eine kleine Stadt in der Grafschaft Putnam.


2 Ein See, der die Hauptzuflüsse des Saint-John speist.


Quelle:
Jules Verne: Nord gegen Süd. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LII–LIII, Wien, Pest, Leipzig 1889, S. 379.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Nord gegen Süd
Nord gegen Süd
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