Fünftes Kapitel.
Ein Handstreich.

[55] Ein tollkühner Handstreich fast ohnegleichen war es, den Harry Markel und seine Genossen wagen wollten, um sich der Verfolgung durch die Polizei zu entziehen. Noch diese Nacht und inmitten der Bai von Cork, nur wenige (englische) Meilen von Queenstown, wollten sie versuchen, sich eines Schiffes zu bemächtigen, worauf sich dessen Kapitän jedenfalls mit seiner vollständigen Mannschaft befand. Selbst wenn von dieser noch zwei oder drei Mann am Lande zurückgeblieben waren, mußten sie, da es schon zu dunkeln begann, bald an Bord zurückkehren. Vielleicht waren die Übeltäter dann also nicht einmal in der Mehrzahl.

Freilich mußten gewisse Umstände den durchschlagenden Erfolg des Vorhabens begünstigen. Zählte die Besatzung des »Alert«, den Kapitän inbegriffen, auch zwölf Mann, die Räuberbande aber mit Harry Markel nur zehn, so hatte diese doch den Vorteil des überraschenden Angriffs für sich. Auf dem in der Farmarbucht liegenden Schiffe war jetzt gewiß kein besonders scharfer Wachtdienst eingerichtet. Vom Schiffe ausgehende Rufe konnten nirgends gehört werden. Die Mannschaft würde umgebracht und ins Wasser geworfen werden, ehe sie zu einer Abwehr Zeit gewann. Dann wollte Harry Markel die Anker lichten und brauchte, unter Entfaltung aller Segel, nur durch den Sankt-Georgskanal zu steuern, um aufs Atlantische Meer hinaus zu kommen.

In Cork würde sich freilich niemand erklären können, warum der Kapitän Paxton unter solchen Umständen und sogar noch vorher ausgelaufen wäre, ehe die Pensionäre der Antilian School, für die das Schiff doch gemietet war, an Bord gekommen wären. Und was würden Horatio Patterson und seine jungen Begleiter dazu sagen, daß sie, nach ihrem vorher angemeldeten Eintreffen in Cork, das Fahrzeug an seinem Ankerplatze in der Farmarbucht nicht mehr vorfänden?... Schwamm der »Alert« einmal auf dem offenen Meer, so mußte es schwierig werden, ihn aufzuspüren, und die Räuber, die die Mannschaft ermordet hatten, einzufangen. Harry Markel hoffte übrigens nicht ohne[55] Berechtigung, daß die Passagiere erst am folgenden Morgen zu Schiffe gehen wollten, und dann war der »Alert« schon ein gutes Stück von Irland weg.

Gleich vor der Schenke und nach Überschreitung des Hofes, von dem eine Tür nach einem Seitengäßchen führte, schlichen sich Harry Markel und Corty auf der einen, John Carpenter und Ranyah Cogh auf der andern hin in der Voraussetzung, dadurch die Polizei leichter zu täuschen, wenn sie sich nach dem Hafen hinunter begaben, nach der Stelle, wo das Boot mit ihren übrigen sechs Genossen sie an einer Landungsbrücke erwartete. Der Obersteuermann kannte die örtlichen Verhältnisse vollkommen, denn er hatte in Queenstown schon wiederholt gelegen.

Harry Markel und Corty gingen zuerst die Straße aufwärts und taten gut daran. denn deren niedriger gelegener, auf den Kai mündender Ausgang war schon von Konstablern besetzt. Ebenso befanden sich, inmitten einer immer anwachsenden Volksmenge, bereits mehrere Polizisten in der Straße selbst. Männer und Weiber aus diesem Stadtteile wollten der Verhaftung der Seeräuber von der »Halifax« beiwohnen, die aus dem Hafengefängnisse entwichen waren.

Binnen wenigen Minuten hatten Harry Markel und Corty das andere, noch freie und obendrein nur dürftig beleuchtete Ende der Straße erreicht. Dann schlüpften sie durch ein winkeliges Gäßchen, das diese mit einer Parallelstraße verband und trabten nachher nach dem Hafen hinunter.

Unterwegs entgingen ihnen da die Bemerkungen nicht, die in den überall versammelten Menschenhaufen laut wurden, und obwohl diese hauptsächlich aus der ambulanten Bevölkerung des Hafenquartiers bestand, klangen jene Bemerkungen doch recht ungünstig für die Verbrecherrotte, die reichlich den Strick um den Hals verdient hatte. Natürlich bekümmerten sie sich aber um die öffentliche Meinung blutwenig. Ihre Sorge ging nur dahin, allen Polizisten aus dem Wege zu gehen, ohne den Anschein von Flüchtenden zu erwecken, und vor allem, den Ort des Zusammentreffens zu erreichen.

Beim Austritt aus der Schenke waren Harry Markel und Corty einzeln gegangen, da sie wußten, daß sie nur die Straße weiter zu verfolgen hatten um zum Kai zu gelangen. Am Ende der Straße schlossen sie sich wieder zusammen und schritten nach der Landungsbrücke hin.

Der Kai war fast menschenleer und nur durch wenige Gasflammen matt beleuchtet. Jetzt und auch vor Ablauf mehrerer Stunden kam kein Fischerbootvom Fange herein. Die Flut machte sich noch kaum bemerkbar. Das Boot lief also nicht Gefahr, bemerkt zu werden, wenn es über die Bai von Cork dahinglitt.

»Dorthin!« sagte Corty, und wies nach der linken Seite, wo das Hafenlicht sichtbar war und auf einer Anhöhe weiter draußen der Leuchtturm, die Einfahrt nach Queenstown bezeichnend, seine glänzenden Strahlen hinaussandte.

»Ist es weit? fragte Harry Markel.

– Fünf- bis sechshundert Schritte.

– Ich sehe aber weder John Carpenter noch Ranyah Cogh...

– Vielleicht haben sie am unteren Ende der Straße nicht herausgekonnt und sind nicht auf den Kai gekommen...

– Dann werden sie haben einen Umweg machen müssen und wir erleiden eine Verzögerung.


Cork. Patrick Street.
Cork. Patrick Street.

– Wenigstens wenn sie nicht bereits an der Landungsbrücke sind, meinte Corty.

– Nun, jedenfalls vorwärts!« sagte Harry Markel.

Beide nahmen ihren Marsch wieder auf, immer bedacht, den wenigen Vorüberkommenden auszuweichen, die der Gegend des »Blauen Fuchses« zustrebten, von wo noch immer das Lärmen der Volksmenge herüberdrang.

Eine Minute später machten Harry Markel und sein Begleiter auf dem Kai Halt.

Die sechs andern waren zur Stelle; sie saßen in dem Boote, das sie auch beim tiefsten Ebbestand schwimmend erhalten hatten. Für die neuen Ankömmlinge war noch genügend Platz vorhanden.

»Habt ihr denn John Carpenter und Ranyah Cogh nicht gesehen? fragte Corty.

– Nein, antwortete einer der Matrosen, der sich an der Fangleine haltend aufstand.

– Sie können nicht mehr fern sein, erklärte Harry Markel. Wir wollen hier auf sie warten.«

Die Stelle war in Dunkel gehüllt, sie liefen also kaum Gefahr, bemerkt zu werden.

Fünf bis sechs Minuten verstrichen. Weder der Obersteuermann noch der Koch wurde sichtbar. Das erregte einige Beunruhigung. Sollten sie etwa schon verhaftet sein?... Man konnte sie doch unmöglich im Stich lassen. Übrigens[59] hatte Harry Markel von seinen Leuten auch nicht zu viele beisammen, das Unternehmen zu wagen und vielleicht ernsthaft gegen die Mannschaft des »Alert« zu kämpfen, wenn sich diese nicht überraschen ließ.

Schon war es fast neun Uhr... ein dunkler Abend mit einem Himmel, den schwere, fast stillstehende Wolken bedeckten. Wenn es auch nicht regnete, rieselte doch ein feuchter Nebel auf die Bai nieder, ein günstiger Umstand für die Flüchtlinge, wenn er ihnen auch die Auffindung des »Alert« erschwerte.

»Wo liegt das Schiff? fragte Harry Markel.

– Dort,« antwortete Corty, nach Südwesten weisend.

Wenn das Boot mehr in seine Nähe kam, mußte man ja die am Stag des Fockmastes hängende Laterne erkennen.

Voller Ungeduld und Unruhe ging Corty noch einmal ein halbes hundert Schritt längs der den Kai begrenzenden Häuserreihe hin, wo verschiedene Fenster erleuchtet waren. Er kam damit in die Nähe der Straßen, aus deren einer John Carpenter und der Koch herauskommen mußten. Wenn da nur ein Mensch auftauchte, fragte sich Corty, ob es nicht einer der Beiden wäre, die sich ja vielleicht hatten trennen müssen. Dann hätte der Obersteuermann auch noch den andern abgewartet, der ja nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, das Boot am Fuße der Landungsbrücke zu finden.

Corty schlich sich nur mit größter Vorsicht weiter. Er glitt, auf das geringste Geräusch lauschend, längs der Hausmauern hin; jeden Augenblick konnte ja eine Konstablerpatrouille auftauchen. Nach vergeblicher Durchsuchung der Schenken setzte die Polizei ihre Nachforschungen im Hafen fort und besichtigte alle Boote, die dort angeseilt lagen.

Gerade in diesem Augenblicke wurden Harry Markel und die andern aufgestört und mußten glauben, daß das bisherige Glück sich gegen sie wenden werde.

Am Ausgange der Straße, worin der »Blaue Fuchs« lag, entstand nämlich ein lautes Getümmel. Unter Schreien und Stoßen wich die Volksmenge zurück. Eine Gaslaterne beleuchtete die Ecken der nächsten Häuser, und der Ort des Gedränges war also weniger dunkel.

Harry Markel, der am Rande des Kais stehen blieb, konnte sehen, was dort vorging. Auch Corty kam bald zurück, da ihm doch nichts daran gelegen war, in den Tumult hineinzugeraten, wo er ja vielleicht erkannt werden konnte.

Aus der aufgeregten Menge hatten die Konstabler zwei Männer verhaftet, die sie fest gepackt hielten und nach der anderen Seite des Kais abführten.[60]

Die beiden Burschen wehrten sich heftig und setzten den Polizisten den ärgsten Widerstand entgegen. Zu dem Geschrei, das sie ausstießen, kam noch das von zwanzig andern, die für oder gegen die Verhafteten Partei nahmen. Daß diese der Obersteuermann und der Koch wären, eine solche Vermutung lag ja nicht gerade fern.

Dasselbe glaubten auch die Genossen Harry Markels, denn einer von diesen rief wiederholt:

»Sie sind abgefaßt... sind verhaftet worden!

– Und wie könnten wir sie aus der Schlinge ziehen? fragte ein anderer.

– Legt euch platt nieder!« befahl Harry Markel..

Das war eine kluge Maßregel, denn im Falle daß sich John Carpenter und der Koch in der Gewalt der Polizisten befanden, würden diese vermuten, daß die übrigen auch nicht fern sein könnten; jedenfalls mußten sie annehmen, daß auch die anderen die Stadt noch nicht verlassen hätten und dann suchten sie nach ihnen den ganzen Hafen ab. Sie visitierten ohne Zweifel alle auf der Reede verankerten Schiffe, nachdem ein allgemeines Verbot des Auslaufens erlassen war. Kein Boot, keine Fischerschaluppe würde dabei übergangen werden, und die Entdeckung der Flüchtlinge war also so gut wie gewiß.

Harry Markel verlor aber deswegen den Kopf noch nicht.

Als seine Genossen sich im Boote ausgestreckt hatten, so daß sie bei der herrschenden Dunkelheit kaum jemand sehen konnte, verliefen einige Minuten, die den Verbrechern freilich sehr lang erschienen. Das Getöse auf dem Kai wurde noch lauter. Die Gefangenen leisteten noch immer Widerstand. Aus der Volksmenge erschallten höhnende Zurufe, von denen anzunehmen war, daß sie Leuten wie denen aus der Räuberhorde Harry Markels galten. Zuweilen glaubte Markel auch die Stimmen John Carpenters und Ranyah Coghs herauszuhören. Da fragte es sich doch, ob diese nach der Landungsbrücke zu geführt würden und ob die Konstabler wüßten, daß deren Spießgesellen unten an dieser in einem Boote lagen. Dann würden freilich alle abgefangen und ins Gefängnis geschleppt, woraus sie ein zweites Mal gewiß nicht entweichen konnten.

Endlich legte sich der Lärm ein wenig. Die Gruppe der Polizisten entfernte sich mit den in der Straße des »Blauen Fuchses« ergriffenen Burschen und führte diese die andere Seite des Kais hinaus. Harry Markel und die sieben anderen waren augenblicklich nicht weiter bedroht.[61]

Doch was sollten sie nun beginnen? Ob verhaftet oder nicht: der Obersteuermann und der Koch waren jedenfalls nicht zur Stelle. Mit noch zwei Leuten weniger konnte Harry Markel, der überhaupt nur über eine Minderzahl verfügte, seine Absicht, den »Alert«, so lange dieser still vor Anker lag, zu überfallen, doch nicht auszuführen wagen, da es schon tollkühn genug war, zu zehn Mann einen Kampf gegen zwölf zu versuchen. Jedenfalls mußte er sich dann aber des Bootes bedienen, um fort und nach einer Stelle der Bai zu kommen, von der aus sich alle im Lande zerstreuen konnten.

Vor jeder Entscheidung stieg Harry Markel noch einmal auf die Landungsbrücke. Da er auf dem Kai niemand erblickte, wollte er schon wieder hinuntergehen und abfahren, als zwei Männer am Ausgange der rechts gelegenen Straße erschienen, der Corty und Harry Markel gefolgt waren.

Das waren John Carpenter und Ranyah Cogh, die raschen Schrittes auf die Landungsbrücke zugingen. Kein Polizist war ihnen auf der Fährte. Bei dem erwähnten, lärmenden Auftritte hatte man zwei Matrosen verhaftet, die im »Blauen Fuchse« einen dritten geschlagen und verletzt hatten.

Mit wenigen Worten wurde Harry Markel von allem unterrichtet. Als der Obersteuermann und der Koch sich entfernen wollten, hatte ein Trupp Konstabler die Mündung der Straße abgesperrt, so daß sie nicht nach dem Kai gelangen konnten. Sie mußten deshalb umkehren, zunächst nach jenem Seitengäßchen, das die anderen schon benutzt hatten, dann aber, da sie auch dieses besetzt fanden, bis nach dem höher gelegenen Stadtteile ausweichen. Daher kam die Verzögerung, die fast den ganzen Plan der Bande vereitelt hätte.

»Schnell einsteigen!« begnügte sich Harry Markel zu antworten.

In einem Augenblicke hatten John Carpenter, Ranyah Cogh und er im Boote Platz genommen. Vier Mann saßen mit den ausgelegten Rudern in der Hand im Vorderteile. Die Halteleine wurde losgeworfen. Der Obersteuermann ergriff die Ruderpinne, und neben und vor ihm saßen Markel und die übrigen.

Das Meer war noch im Sinken, und da der Ebbestrom auch noch eine halbe Stunde anhalten mußte, konnte das Boot die Farmarbucht bequem erreichen, die ja nur zwei Seemeilen weiter draußen lag. Die Flüchtlinge erkannten dann gewiß den »Alert« an seinem Ankerplatze, und es erschien recht wohl möglich, das Schiff zu überraschen, bevor sich dessen Besatzung ernsthaft zur Wehr setzen konnte. John Carpenter kannte die Bai ganz genau. Selbst bei der tiefen Dunkelheit war er sicher, bei einem Kurse nach Südsüdost[62] auf die Bucht zu treffen, und dort sah man dann ja das vorschriftsmäßige weiße Licht, das jedes in einer Bai oder einem Hafen ankernde Schiff am Vordermaste führen mußte.

Je weiter das Boot hinausglitt, desto mehr erloschen die Lichter der Stadt in dem feuchten Nebel. Kein Lufthauch war zu spüren, die Fläche der Bai lag wie eingeschlummert still und auch draußen auf dem Meere mußte vollkommene Ruhe herrschen.

Zwanzig Minuten nach der Abfahrt von der Landungsbrücke hielt das Boot still.

John Carpenter richtete sich halb auf.

»Ein Schiffslicht... dort!« sagte er.

Etwa in der Entfernung von hundert Faden und gegen fünfzehn Fuß über der Wasserfläche glänzte ein weißer Lichtschein.

Das Boot durchmaß die Hälfte dieser Entfernung und wurde dann noch einmal angehalten.

Ohne Zweifel lag dort der »Alert« vor ihm, denn soweit es bekannt war, ankerte kein anderes Schiff in der Farmarbucht. Jetzt handelte es sich also darum, an dieses heranzukommen, ohne Aufmerksamkeit zu erwecken. Daß die Mannschaft sich bei dem Nebelrieseln unter Deck aufhalte, war ja wohl anzunehmen; mindestens mußte aber doch ein einzelner Mann Deckwache haben, bei dem man keinen Verdacht erregen durfte. Die Ruder wurden also außer Wasser gehalten, da schon die Strömung allein das Schiff an die Bordwand des »Alert« tragen mußte.

Binnen einer Minute sollten Harry Markel und seine Genossen schon an das Schiff streifen. Ungesehen und ungestört würde es ihnen dann ein Leichtes sein, über die Schanzkleidung zu klettern und den wachthabenden Matrosen unschädlich zu machen, ehe dieser ein Alarmzeichen geben konnte.

Das Schiff drehte sich eben – »schwainte«, wie der Seemann sagt – vor seinem Anker, da die Flut schon einsetzte, die jedoch keinen Wind mitbrachte. In dieser Lage war der Vorderteil des »Alert« nach der Bai, der Hinterteil nach der Farmarbucht zu gerichtet, die von einer nach Südosten vorspringenden Landspitze begrenzt wird. Diese Spitze mußte umschifft werden, um aufs freie Wasser zu kommen und nach Südwesten hin durch den Sankt-Georgskanal zu steuern. In diesem Augenblicke legte das Boot inmitten der tiefsten Finsternis an der Steuerbordwand des Schiffes an. Ganz einsam[63] leuchtete über dem Vorderkastell die am Stag des Fockmastes hängende Laterne, die sich zuweilen verdunkelte, wenn eine dichtere Nebelwolke darüber hinstrich.

Nirgends war ein Geräusch zu vernehmen, und die Annäherung Harry Markels und seiner Helfershelfer hatte auch die Aufmerksamkeit des wachthabenden Matrosen nicht erweckt.

Immerhin konnten die Flüchtlinge glauben, daß ihre Anwesenheit bemerkt sein könnte. Vielleicht hatte der Matrose, dessen Schritte längs der Schanzkleidung deutlich vernehmbar waren, doch ein leichtes Anschlagen des Wassers gehört. Deutlich erkannte man den Schattenriß des Mannes einen Augenblick am Deckhause, dann beugte er sich über das Vorderkastell hinaus und wendete den Kopf nach links und nach rechts, als ob er etwas zu sehen suchte.

Harry Markel und die übrigen hatten sich auf den Bänken des Bootes wieder hingestreckt. Wenn der Matrose dann auch sie selbst nicht bemerkte, konnte das Boot seinen Blicken doch nicht entgehen, er rief dann jedenfalls seine Kameraden aufs Deck und wäre es nur, um ein weggetriebenes Boot einstweilen anzulegen. Diese würden es dann beim Weitergleiten aufzufangen suchen, und an eine Überrumpelung des Schiffes war damit nicht mehr zu denken.

Auch in diesem Falle wollte Harry Markel jedoch auf seine Pläne nicht verzichten. Sich des »Alert« zu bemächtigen, war für seine Spießgesellen ebenso wie für ihn zur Lebensfrage geworden. Sie versuchten also gar nicht. sich wieder davonzuschleichen, im Gegenteil, jetzt galt es, das Messer in der Hand, das Verdeck zu erklettern, und da der Angriff von ihnen ausging, waren sie zu Anfang voraussichtlich im Vorteil.

Die Umstände sollten sie sogar noch weiter begünstigen. Nachdem der Matrose kurze Zeit auf dem Vorderkastell geblieben war, kehrte er nach dem Deck zurück. Man hörte ihn auch nicht rufen. Offenbar hatte er nicht einmal das im Dunkel herangleitende Boot gesehen.

Eine Minute später streifte dieses den Rumpf des Schiffes in der Gegend des Großmastes und hielt nun still, da die Rüsten der Wanten hier das Aufentern der Verbrecher erleichterten.

Der »Alert« reichte übrigens nur sechs Fuß über seine Schwimmlinie empor, die wiederum kaum über dem Kupferbeschlag der unteren Rumpfhälfte lag. Wenn sie sich mit Hilfe der Hände und Füße emporschnellten, mußten Harry Markel und seine Genossen auf das Deck springen können.[64]

Sobald das Boot fest angelegt war, so daß es durch die Flut nicht wieder nach der Bai zurückgetrieben werden konnte, wurden in die Gürtel die Faschinenmesser gesteckt, die die Flüchtlinge nach ihrer Entweichung gestohlen hatten. Corty war der erste, der sich über die Regeling schwang. Seine Kameraden folgten ihm so geschickt und vorsichtig, daß der Wachthabende sie weder sah noch hörte. Stumm schlichen sich die Eindringlinge nach dem Vorderkastell. Hier saß der Matrose, mit dem Rücken an das Gangspill gelehnt, halb im Schlafe. John Carpenter trat zuerst an ihn heran und stieß ihm das Messer in die Brust.

Der Unglückliche gab keinen Laut mehr von sich und fiel, ins Herz getroffen, auf das Deck nieder, wo er nach einigen Zuckungen den letzten Seufzer aushauchte.

Harry Markel nebst Corty und Ranyah Cogh waren nach dem Deckhause geschlichen und Corty sagte mit verhaltener Stimme:

»Jetzt gilt's dem Kapitän!«


Auch Corty kam bald zurück... (S. 60.)
Auch Corty kam bald zurück... (S. 60.)

Die Kabine des Kapitän Paxton lag unter dem Deckhause an der Backbordwand, mit dem Zugange von der gemeinsamen Kajüte aus. Ein nach dem Deck zu gelegenes Fenster gestattete das Eindringen des Tageslichtes, und durch dieses jetzt mit Gardinen verschlossene Fenster schimmerte der Schein der in doppelten Ringen hängenden Lampe.

Um diese Stunde hatte sich der Kapitän Paxton wie gewöhnlich noch nicht niedergelegt. Er ordnete noch die Schiffspapiere im Hinblick auf die Abfahrt, die morgen, wenn seine Passagiere eingetroffen wären, beim Wechsel der Gezeiten erfolgen sollte.

Da wurde plötzlich die Kabinentür aufgerissen, und ehe er recht zur Besinnung kommen konnte, röchelte er schon, von dem Messer Harry Markels durchbohrt, und rief nur noch:

»Hierher!... Zu Hilfe!«

Auf diese Rufe stürzten fünf oder sechs Matrosen aus dem Volkslogis hervor. – Corty und die andern erwarteten sie schon an dessen Ausgang, und sowie sie einzeln hervortraten, wurden sie meuchlings niedergestochen, ohne daß sie sich hätten verteidigen können.

Nach wenig Augenblicken lagen sechs Matrosen hingestreckt auf dem Verdecke. Tödlich getroffen, stießen einige noch einen Schreckens- und Schmerzensschrei aus. Diese Schreie konnte aber niemand hören, und wie hätte ihnen[67] Hilfe werden können hier in der Bucht, wo der »Alert« ganz allein, und jetzt von der Finsternis der Nacht verhüllt, vor Anker lag.

Sechs Mann und der Kapitän bildeten nicht die ganze Besatzung. Drei oder vier mochten noch im Volkslogis sein, trauten sich aber nicht herauszukommen.

Trotz ihres Widerstandes wurden sie jedoch hervorgezerrt, und in einem Augenblick rötete das Blut von elf Opfern der Mörder das Verdeck.

»Die Leichen ins Meer!« rief Corty.

Schon griff er mit zu, die Getöteten über Bord zu werfen.

»Halt, halt! mischte sich Harry Markel ein. Die Flut würde sie jetzt nach dem Hafen hintragen. Warten wir die Ebbeströmung ab, dann schwimmen sie mit dieser ins offene Meer hinaus!«

Harry Markel und seine Spießgesellen waren nun die Herren an Bord des »Alert«.

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 55-57,59-65,67-68.
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